OGH 10ObS154/02y

OGH10ObS154/02y28.5.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Prof. Dr. Elmar Peterlunger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Albert Ullmer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Edith P*****, vertreten durch Dr. Rainer Beck, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 8. November 2001, GZ 7 Rs 225/01i-23, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 16. Juli 2001, GZ 41 Cgs 248/00a-18, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 13. 9. 1956 geborene Klägerin hat im August 1972 mit einer Lehrausbildung zur Einzelhandelskauffrau begonnen, diese jedoch im Jahre 1973 abgebrochen. Von 2. bis 4. 8. 1977 war sie als Hausbesorgerin tätig. Seither geht sie keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung mehr nach. Sie betreut und pflegt ihre am 24. 6. 1974 geborene schwerst behinderte Tochter, die an einer spastischen Tetraplegie leidet und rund um die Uhr vollständiger Pflege und Betreuung bedarf. Im Rahmen dieser langjährigen umfassenden Pflege- und Betreuungstätigkeit für ihre Tochter hat die Klägerin jene Kenntnisse und Fähigkeiten erworben, wie sie Pflegehelfer nach einer einjährigen Ausbildung und Absolvierung einer Abschlussprüfung aufweisen. Die nächste Ausbildungsstufe ist jene einer diplomierten Gesundheits- und Krankenschwester mit einer drei- bis vierjährigen Ausbildung und Diplomprüfung.

Seit 1988 ist die Klägerin bei der beklagten Partei aufgrund einer Selbstversicherung in der Pensionsversicherung versichert (§ 18a ASVG). Eine Pflichtversicherung aus unselbständiger Erwerbstätigkeit liegt nicht vor.

Aufgrund ihrer Leiden kann die Klägerin - bei optimaler Behandlung und Therapie - nur mehr leichte körperliche Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen unter Einhaltung der üblichen Arbeitszeiten und Ruhebedingungen verrichten. Überkopfarbeiten, Arbeiten an exponierten Stellen, Arbeiten, die mit ständigem Stiegensteigen verbunden sind, Arbeiten an gefährlichen Arbeitsplätzen, Arbeiten unter Zeitdruck, Nachtarbeiten sowie Arbeiten, die mit einem überdurchschnittlichen Feingefühl der Finger verbunden sind, und Arbeiten in Kälte und Nässe sowie unter Zugluft scheiden aus. Arbeiten in und aus gebückter Zwangsarbeitshaltung, in vorgeneigter stehender und sitzender Zwangsarbeitshaltung sowie in kniender und hockender Körperhaltung sind bei gerechter Verteilung auf ein Viertel eines Arbeitstages zu beschränken. Die Kontaktfähigkeit ist durchschnittlich. Anweisbarkeit und Anlernbarkeit sind gegeben, nicht jedoch Schulbarkeit und Umschulbarkeit. Die Krankenstandsprognose umfasst fünf Wochen Krankenstand jährlich.

Die Tätigkeit einer (qualifizierten) Pflegehelferin kommt für die Klägerin wegen der damit verbundenen Schwere der Belastungen nicht in Betracht. Innerhalb des Verweisungsfeldes von Pflegepersonen gibt es keine Verweisungstätigkeiten, die der Klägerin möglich sind. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist es der Klägerin möglich, Tätigkeiten wie jene einer Kontrollarbeiterin in der Elektronikindustrie, Geschirrabräumerin, Aufseherin, Wächterin im Standpostendienst, Portierin in Zweischichtbetrieben, Botengängerin im innerbetrieblichen Bereich ua auszuführen.

Mit Bescheid vom 12. 7. 2000 hat die beklagten Partei den Antrag der Klägerin vom 25. 2. 2000 auf Zuerkennung der Berufsunfähigkeitspension abgelehnt.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene, auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension (ab dem Stichtag 1. 3. 2000) gerichtete Klagebegehren ab. Aus ihrer außerhalb eines pflichtversicherten Beschäftigungsverhältnisses erbrachten Pflegetätigkeit für ihre Tochter könne die Klägerin Berufsschutz nicht in Anspruch nehmen. Aufgrund der auf die Klägerin anzuwendenden Bestimmung des § 255 Abs 3 ASVG sei die Klägerin beispielsweise noch auf die Tätigkeit einer Kontrollarbeiterin in der Elektronikindustrie verweisbar. Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es sah die behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens nicht als gegeben an, übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und versagte der Rechtsrüge einen Erfolg. Aus ihrer Pflegetätigkeit resultiere kein Berufsschutz für die Klägerin. Damit bilde nach § 255 Abs 3 ASVG der gesamte Arbeitsmarkt das Verweisungsfeld der Klägerin. Der behaupteten Invalidität stehe entgegen, dass die Klägerin noch die Tätigkeit eines Sortierers/Kontrollors in der Elektronikindustrie verrichten könne.

Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagsstattgebenden Sinn abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die gerügte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor. Den von der Klägerin neuerlich gerügten Mangel des Verfahrens erster Instanz (Nichtbeachtung des schlechten Visus und des Tinnitus) hat bereits das Berufungsgericht verneint, sodass dieser in der Revision wiederholte Verfahrensmangel erster Instanz nach ständiger Rechtsprechung - auch in Verfahren nach dem ASGG (SZ 60/197 = SSV - NF 1/32 uva) - im Revisionsverfahren nicht mehr mit Erfolg gerügt werden kann (Kodek in Rechberger2 Rz 3 Abs 2 zu § 503 ZPO; SSV-NF 5/116, 7/74, 11/15 ua; RIS-Justiz RS0042963 [T45] und RS0043061). Die Ansicht der Revisionswerberin, das sozialgerichtliche Verfahren unterliege dem Untersuchungsgrundsatz, trifft nicht zu. § 87 Abs 1 ASGG ordnet nur die amtswegige Beweisaufnahme an. Daraus resultiert die Pflicht des Gerichts, von Amts wegen alle entscheidungsrelevanten Tatsachen zu erheben, für die sich im Verfahren zumindest Anhaltspunkte ergeben (RIS-Justiz RS0042477 [T10]). Der Grundsatz der materiellen Wahrheitsforschung ist aber nach ständiger Rechtsprechung im Sozialrechtsverfahren nicht anzuwenden (SSV-NF 3/115; RIS-Justiz RS0103347).

Das Berufungsgericht hat sich mit der Tatsachenrüge der Klägerin auseinandergesetzt. Die Feststellung oder Nichtfeststellung bestimmter Tatsachen ist Ergebnis der aufgenommenen Beweise und der der freien Beweiswürdigung der Vorinstanzen, die vom Obersten Gerichtshof nicht überprüft werden kann (RIS-Justiz RS0043061 [T11]). Soweit sich das Berufungsgericht auf den Standpunkt zurückgezogen hat, auf einzelne von der Klägerin im Rahmen der Tatsachenrüge begehrte Feststellungen - etwa zur Qualität der von der Klägerin ausgeführten pflegerischen Maßnahmen - komme es aus rechtlichen Gründen nicht an, ist seine Ansicht zutreffend.

Wie aus § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG hervorgeht, ist für die Beurteilung, ob ein qualifizierter, berufsschutzbegründender Beruf iSd § 255 Abs 1 ASVG vorliegt, maßgeblich, dass die qualifizierte Tätigkeit in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübt wird. Es kann dahingestellt bleiben, ob es sich bei Zeiten der Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes nach § 18a Abs 1 ASVG um solche Beitragszeiten handelt, die einen Berufsschutz iSd § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG begründen können (ablehnend RIS-Justiz RS0085116).

Geht man nämlich von der Feststellung aus, dass die Klägerin jene Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, wie sie Pflegehelfer nach einer einjährigen Ausbildung und Absolvierung einer Abschlussprüfung erworben haben, liegt ein berufsschutzbegründender qualifizierter Beruf nicht vor. Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Pflegehelferin (früher Stationsgehilfin) mit einjähriger Ausbildung ist deren geminderte Arbeitsfähigkeit nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen, weil es sich weder um einen erlernten noch um einen angelernten Beruf handelt (RIS-Justiz RS0084962, RS0084778, RS0113674; SSV-NF 12/6; zuletzt 10 ObS 323/01z). Für die Beurteilung der Frage der Verweisbarkeit spielt die konkrete familiäre Situation der Klägerin keine Rolle (vgl RIS-Justiz RS0084939).

Da die Vorinstanzen wegen des Vorhandenseins zumindest eines zumutbaren Verweisungsberufes zu Recht die Voraussetzungen für die Erlangung der begehrten Pensionsleistung verneint haben, ist der Revision ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe, die einen Kostenzuspruch aus Billigkeit rechtfertigen könnten, werden in der Revision nicht aufgezeigt und sind auch aus dem Akt nicht erkennbar. Bei der Frage, ob ein Kostenersatzanspruch aus Billigkeit besteht, sind neben den Einkommens- und Vermögensverhältnissen auch die tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Falles zu beachten sind. Tatsächliche Schwierigkeiten scheiden im Revisionsverfahren schon deshalb aus, weil der Tatsachenbereich in diesem Verfahrensstadium nicht überprüft werden kann. Besondere rechtliche Schwierigkeiten liegen im Hinblick auf die zitierte ständige Rechtsprechung jedenfalls nicht vor. Ein Kostenersatz aus Billigkeit hat daher nicht stattzufinden.

Stichworte