European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131736
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Mit Bescheid vom 28. 4. 2015 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der (1972 geborenen) Klägerin auf Weitergewährung der Invaliditätspension ab und sprach aus, dass vorübergehende Invalidität vorliege und ab 1. 4. 2015 Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe.
[2] Aufgrund eines im Verfahren AZ 31 Cgs 170/16s des Arbeits- und Sozialgerichts Wien abgeschlossenen Vergleichs vom 17. 10. 2017 wurde der Klägerin das Rehabilitationsgeld über den 30. 11. 2016 hinaus weiter gewährt.
[3] Mit Bescheid vom 12. 9. 2018 hat die Beklagte ausgesprochen, dass vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliege und das Rehabilitationsgeld mit 31. 10. 2018 entzogen werde. In der Begründung des Bescheids bezog sich die Beklagte ausschließlich darauf, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin kalkülsrelevant verbessert habe, sodass ihr eine auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit möglich sei.
[4] In ihrer Klage begehrt die Klägerin die Weitergewährung des Rehabilitationsgeldes über den 31. 10. 2018 hinaus.
[5] Die Beklagte wiederholt ihren im Bescheid vertretenen Standpunkt. Weiters macht sie geltend, die Entziehung des Rehabilitationsgeldes sei auch deshalb gerechtfertigt, weil die Klägerin die ihr obliegende Mitwirkungspflicht zu Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation verletzt habe.
[6] Das Erstgericht sprach aus, dass die Klägerin über den 31. 10. 2018 hinaus Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung habe. Es stellte – soweit für das Revisionsverfahren noch wesentlich – fest, dass zum Zeitpunkt der Entziehung keine Verbesserung des Gesundheitszustands oder des Leistungskalküls der Klägerin eingetreten ist. Die Klägerin war bei Abschluss des Vergleichs im Verfahren AZ 31 Cgs 170/16s vor dem Arbeits- und Sozialgericht Wien von einem Vertreter der Beklagten darauf hingewiesen worden, dass sie sich als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation einem Rehabilitationsaufenthalt unterziehen müsse, andernfalls ein Anspruch auf Weitergewährung des Rehabilitationsgeldes nicht mehr bestehe. Obwohl der Klägerin von der Beklagten am 24. 10. 2017 ein Rehabilitationsaufenthalt in einem psychosomatischen Rehabilitationszentrum bewilligt worden war, trat sie diesen Aufenthalt aus nicht feststellbaren Gründen nicht an. Nach dem Ergebnis der im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten Gutachten war die Klägerin in der Lage, die Notwendigkeit eines Rehabilitationsaufenthalts zu erkennen; durch einen derartigen Aufenthalt hätte sich ihre Arbeitsfähigkeit verbessert.
[7] Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass der Entziehungsgrund nicht gegeben sei, weil im Vergleich zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Rehabilitationsgeldes keine Besserung des Gesundheitszustands oder des Leistungskalküls eingetreten sei. Auf den Entziehungsgrund der Verletzung der Mitwirkungspflicht könne sich die Beklagte nicht erfolgreich stützen, weil in ihrem Bescheid nicht über diesen Entziehungsgrund entschieden worden sei. Im Vergleich zum Verwaltungsverfahren handle es sich um einen anderen Streitgegenstand und andere rechtserzeugende Tatsachen.
[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, änderte das Ersturteil in eine Klageabweisung ab und ließ die Revision nicht zu. Gegenstand des Verwaltungsverfahrens sei der Anspruch auf Rehabilitationsgeld und dessen Entziehung. Auch im Gerichtsverfahren sei die Entziehung des Rehabilitationsgeldes Streitgegenstand, wobei sich die Beklagte auf einen weiteren bzw anderen Entziehungstatbestand als im Verwaltungsverfahren stütze. Eine Unzulässigkeit des Rechtswegs läge etwa dann vor, wenn im Gerichtsverfahren der Zuspruch einer anderen Versicherungsleistung begehrt werde als im Verwaltungsverfahren; dies sei hier nicht der Fall. Da die Frage des Vorliegens einer ungerechtfertigten Weigerung der Klägerin, an den ihr zumutbaren medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation mitzuwirken, zulässigerweise zum Gegenstand des Gerichtsverfahrens gemacht werden habe können, könne sich die Beklagte im sozialgerichtlichen Verfahren auch auf einen anderen Entziehungsgrund als im Verwaltungsverfahren stützen. Aufgrund der Ergebnisse des erstgerichtlichen Verfahrens sei der Entziehungstatbestand der Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit zu bejahen.
Rechtliche Beurteilung
[9] Die außerordentliche Revision der Klägerin ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
[10] Die Klägerin macht in ihrem Rechtsmittel (ausschließlich) geltend, es sei unzulässig, in Gerichtsverfahren einen anderen Entziehungsgrund als im Verwaltungsverfahren heranzuziehen, ähnlich wie ein Austausch der begehrten Leistung nicht zulässig sei.
[11] Mit diesem Vorbringen wird keine Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt:
[12] 1. Nach dem im Sozialrechtsverfahren geltenden Grundsatz der sukzessiven Kompetenz kann in einer Leistungssache nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG – abgesehen von den hier nicht relevanten Fällen des § 65 Abs 1 Z 2 und 3 ASGG und vorbehaltlich des ebenfalls nicht in Rede stehenden § 68 ASGG – das Gericht nur angerufen werden, wenn der Versicherungsträger zuvor über den Leistungsanspruch des Versicherten einen Bescheid erlassen hat (§ 67 Abs 1 Z 1 ASGG; RS0085867). Dieser Bescheid und das Klagebegehren begrenzen den Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens (vgl RS0105139 [T1]).
[13] Im vorliegenden Fall hat die beklagte Partei im Spruch des Bescheids vom 12. September 2018 – von Amts wegen – ausgesprochen, dass vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliegt und das Rehabilitationsgeld mit 31. Oktober 2018 entzogen wird. In der Begründung wurde ausgeführt, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin kalkülsrelevant gebessert habe. In der Klage begehrte die Klägerin die Gewährung des Rehabilitationsgeldes ab dem 1. November 2018.
[14] 2.1 Das durch die Klage der Versicherten eingeleitete gerichtliche Verfahren ist kein kontrollierendes Rechtsmittelverfahren. Das Gericht hat vielmehr ein eigenes Verfahren durchzuführen und neu zu entscheiden. Der Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist also nicht auf die Überprüfung der Richtigkeit des bekämpften Bescheids beschränkt (RS0041097, RS0085569, RS0106394). Auch wenn etwa der Sozialversicherungsträger seinen den Leistungsantrag abweisenden Bescheid nur damit begründet hat, dass der Antragsteller nicht invalid sei, kann im Verfahren vor dem Sozialgericht vom Sozialversicherungsträger eingewendet werden, dass die Wartezeit nicht erfüllt sei (RS0085600).
[15] 2.2 Demnach war die beklagte Partei auch im vorliegenden Fall berechtigt, im gerichtlichen Verfahren einen zusätzlichen Entziehungsgrund geltend zu machen, den sie nicht für die Begründung des angefochtenen Bescheids herangezogen hatte (hier die Verletzung der Mitwirkungspflicht; vgl Atria in Sonntag ASVG11 [2020] § 107 Rz 14).
[16] 2.3 Bereits vor Einführung des Rehabilitationsgeldes wurde in der Entscheidung 10 ObS 188/04a (SSV‑NF 20/13) zur Entziehung von Leistungen wegen Verletzung von Mitwirkungspflichten (§ 99 Abs 1 ASVG) Stellung genommen. Kommt erst im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens zur Weitergewährung der entzogenen (unbefristeten) Berufsunfähigkeitspension hervor, dass eine iSd § 99 Abs 1 ASVG relevante Änderung der Verhältnisse zwar nicht eingetreten ist, aber durch eine dem Versicherten zumutbare ärztliche Heilbehandlung herbeigeführt werden hätte können, ist die Verletzung der Mitwirkungspflicht durch Nichtabsolvierung einer Behandlung dann als ein zur Entziehung nach § 99 Abs 1 ASVG berechtigender neuer Umstand anzusehen, wenn dem Versicherten die Verweigerung der Behandlung als Verletzung der Mitwirkungspflicht vorwerfbar war (RS0120568; Schramm in SV‑Komm [221. Lfg] § 99 ASVG Rz 10; Schrammel, EAnm zu 10 ObS 90/91, DRdA 1992/8, 122 [124]). Das Gericht hat entsprechend dem Grundsatz der sukzessiven Kompetenz ein eigenes Verfahren durchzuführen und neu zu entscheiden, wobei die zum Schluss der Verhandlung erster Instanz eingetretenen Sachverhaltsänderungen zu berücksichtigen sind.
[17] 3.1 Mit dem Sozialrechts-Änderungsgesetz 2012 (SRÄG 2012, BGBl I 2013/3) wurde für Versicherte, die – wie die Klägerin – am 1. 1. 2014 das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, ein Rechtsanspruch auf medizinische Rehabilitation bei vorübergehender Invaliditäts‑/Berufsunfähigkeit sowie die neue Leistung des Rehabilitationsgeldes aus der Krankenversicherung eingeführt. Voraussetzungen für den Anspruch auf Rehabilitationsgeld ist im Wesentlichen, dass vorübergehende Invalidität bzw Berufsunfähigkeit im Ausmaß von mindestens sechs Monaten vorliegt (§ 255b ASVG bzw § 273b ASVG) und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zweckmäßig oder nicht zumutbar sind. Die Invaliditäts‑(Berufsunfähigkeits‑)pension aus der Pensionsversicherung gebührt nur mehr bei dauernder Invalidität.
[18] 3.2 Das Rehabilitationsgeld wird so lange gewährt, als die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Die Entziehung erfolgt mit Bescheid des Pensionsversicherungsträgers (§ 143a Abs 1 ASVG).
[19] 3.3 Der Grundtatbestand des § 99 Abs 1 ASVG zur Entziehung laufender Leistungen blieb unberührt. In § 99 Abs 1a ASVG wurde aber mit dem SVAG 2015 für den Entzug des Rehabilitationsgeldes der neue Entziehungstatbestand der Verletzung der Mitwirkungspflicht geschaffen. Dabei handelt es sich um einen Fall des echten Anspruchsverlusts und nicht nur um eine Sistierung der Leistungspflicht (Auer‑Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 421). Der Versicherte soll es nicht in der Hand haben, durch Verweigerung von Maßnahmen Rehabilitation den Weiterbezug des Rehabilitationsgeldes zu erreichen. Dies wäre mit der Zielsetzung unvereinbar, durch derartige Maßnahmen Versicherte wieder so weit zu integrieren, dass sie zumindest zur Aufnahme einer Teilzeitbeschäftigung in der Lage sind (10 ObS 4/16k SSV‑NF 30/33 = DRdA 2017/11, 109 [Födermayr]).
[20] 4. Gegenstand des Verfahrens vor der Beklagten und deren Entscheidung war der Anspruch auf Rehabilitationsgeld über den 31. 10. 2018 hinaus. Da die Beklagte den weiteren Anspruch verneint hat, wurde das Rehabilitationsgeld mit 31. 10. 2018 entzogen.
[21] Nur weil im Verwaltungsverfahren (in der Begründung des angefochtenen Bescheids) als Entziehungsgrund allein die Besserung des Gesundheitszustands herangezogen wurde (§ 99 Abs 3 Z 1 lit a ASVG) und nicht auch eine etwaige Verletzung der Mitwirkungspflicht an medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation (§ 99 Abs 1a ASVG), war im Gerichtsverfahren nicht über einen anderen Anspruch als jenen auf Rehabilitationsgeld zu entscheiden.
[22] 5. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass die Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine Entziehung des Rehabilitationsgeldes vorliegen, auch dann unter Bedachtnahme auch auf den erst im Gerichtsverfahren geltend gemachten Entziehungstatbestand der Verletzung der Mitwirkungspflicht erfolgen müsse, wenn dieser Entziehungstatbestand nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Versicherungsträger war, hält sich im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung (siehe 2.1; Atria in Sonntag, ASVG11 [2020] § 107 Rz 14).
[23] 6. Die Frage, ob (und allenfalls aus welchen Gründen) eine Verletzung der Mitwirkungspflicht an den medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation nicht gegeben sei bzw der Klägerin nicht vorwerfbar sein sollte, wird in der Revision nicht releviert.
[24] 7. Die außerordentliche Revision ist daher zurückzuweisen.
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