OGH 5Ob202/20x

OGH5Ob202/20x18.3.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei F*, vertreten durch Mag. Matthias Leitner, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei J*, vertreten durch Dr. Herbert Salficky, Rechtsanwalt in Wien, wegen zuletzt 296.671,16 EUR sA und Rente (Streitwert: 63.297 EUR), über die Revisionen der klagenden Partei (Revisionsinteresse: 43.832,50 EUR sA) und der beklagten Partei (Revisionsinteresse: 78.785,51 EUR sA), gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. Juli 2020, GZ 15 R 60/20h‑95, mit dem das Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 6. März 2020, GZ 42 Cg 98/15i‑89, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:E131221

 

Spruch:

1. Beide Revisionen werden zurückgewiesen.

2. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 94,50 EUR (darin 15,75 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger wurde am 27. 6. 2014 bei einem Sturz vom Mountainbike schwer verletzt. Die Haftung des Beklagten zu einem Viertel steht rechtskräftig fest. Strittige Punkte im Revisionsverfahren sind das Ausmaß des Schmerzengeldes (Revision des Klägers) sowie des Pflegeaufwands (Revision des Beklagten). Das Berufungsgericht ließ die Revision zur Bemessung des Schmerzengeldes zu.

Rechtliche Beurteilung

[2] Die Revisionen beider Parteien sind entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.

[3] I. Zur Revision des Klägers:

[4] 1. Der 1961 geborene Kläger erlitt im Bereich der Halswirbelsäule eine Querschnittsschädigung, die zu einer völligen Unterbrechung der Leitfähigkeit des Rückenmarks mit totaler Funktionslosigkeit unterhalb des Querschnitts und Bewegungsunfähigkeit aller vier Extremitäten, einer Blasen‑und Mastdarmfunktionsstörung mit Katheterisierung, und einer weitgehenden Lähmung der Atemmuskulatur mit deutlich erschwerter Atmung (ohne dauernde Notwendigkeit einer assistierten Beatmung) führte. Aufgrund der massiv beeinträchtigten Thermoregulation besteht eine extreme Thromboembolie‑Gefährdung sowie die Gefahr der Überhitzung bei warmen Außentemperaturen mit Fieber bis zu 40 Grad Celsius. Der Kläger leidet immer wieder an Schmerzen im Nackenbereich und an Spasmen. Er war vor dem Unfall – so wie seine nächsten Angehörigen – sehr sportlich und aktiv, mindestens drei mal die Woche mit dem Mountainbike unterwegs, ging im Winter Skitouren, fuhr Ski und spielte einmal pro Woche Fußball und Tischtennis. Alle sportlichen Aktivitäten sind aufgrund der Querschnittslähmung ausgeschlossen. Der Kläger kann sich bis ans Ende seines Lebens nur mit dem Rollstuhl – und das nur eingeschränkt – fortbewegen. Die unfallbedingten Einschränkungen setzen dem Kläger psychisch sehr zu.

[5] 2.1 Die Beurteilung der Höhe des angemessenen Schmerzengeldes ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Dabei ist zur Vermeidung einer völligen Ungleichmäßigkeit ein objektiver Maßstab anzulegen, in dem der von der Judikatur ganz allgemein gezogene Rahmen für die Bemessung im Einzelfall nicht gesprengt wird (RIS‑Justiz RS0031075). Die Bemessung hat nicht nach starren Regeln, etwa nach Tagessätzen oder Schmerzperioden zu erfolgen (RS0031415 [T7, T8]).

[6] 2.2 Das Berufungsgericht hat diese Kriterien bei der Bemessung des Schmerzengeldes mit insgesamt 320.000 EUR beachtet und dabei insbesondere auf Querschnittlähmungen bezogene Vergleichsfälle in der bisherigen Rechtsprechung ausführlich dargestellt. Die seit den Vorentscheidungen eingetretene Geldentwertung hat es berücksichtigt, indem es die Höhe des jeweils zugesprochenen Schmerzengeldes bezogen auf den Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung erster Instanz im vorliegenden Verfahren (14. 2. 2020) valorisierte und dabei über den in 2 Ob 214/14f gezogenen Vergleich des Verbraucherpreisindexes zwischen den jeweiligen Unfallzeitpunkten hinausging.

[7] 2.3 Aus den Vergleichsfällen hervorzuheben ist die Entscheidung 2 Ob 237/01v vom 18. 4. 2002: Unfall eines 21‑jährigen Mannes vom 15. 7. 1997; Zuspruch Schmerzengeld umgerechnet 218.018 EUR (valorisiert zum 14. 2. 2020: 301.954,93 EUR); Unfallfolgen unter anderem hohe Querschnittsymptomatik mit Lähmung beider Arme und Beine und lediglich geringer Restbeweglichkeit von Daumen und Zeigefinger rechts sowie des Ellbogengelenks links, Lähmung des Atemnervs mit bis ans Lebensende notwendiger maschineller künstlicher Beatmung, Mastdarm‑ und Blasenlähmung mit Katheterisierung alle vier Stunden, Augenmuskellähmung mit Schielstellung und Doppelbildern, ständig und bewusst erlebte Pflegenotwendigkeit rund um die Uhr samt ständiger Todesangst infolge Abhängigkeit von einem ständig funktionierenden Beatmungsgerät.

[8] 2.4 Die Revision des Klägers zeigt keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbemessung des Schmerzengeldes (320.000 EUR) auf, wenn sie das Schmerzengeld entgegen der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs anhand von Tagessätzen für die festgestellten Schmerzperioden mit insgesamt 495.330 EUR bemisst. Welche anderen Umstände als die vom Berufungsgericht vorgenommene Valorisierung zu einem höheren Zuspruch zwingen sollte, legt sie nicht dar.

[9] II. Zur Revision des Beklagten:

[10] 1.1 Der Schadenersatzanspruch des Geschädigten auf Ersatz der Pflegekosten geht gemäß § 16 Abs 1 BPGG insoweit auf den Bund oder Träger der Sozialversicherung über, als dieser aus diesem Anlass Pflegegeld zu leisten hat. Der Forderungsübergang vollzieht sich schon im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses in jenem Umfang, in dem der Bund oder der Träger der Sozialversicherung sachlich und zeitlich kongruente Leistungen zu erbringen hat (2 Ob 230/18i; 10 Ob 34/10p). Pflegegeld ist sachlich kongruent zum Anspruch auf Ersatz der Pflegekosten (RS0122867; 2 Ob 190/07s; 10 Ob 34/10p). In jenem Ausmaß, in dem ein Anspruch auf Pflegegeld besteht, fehlt dem Geschädigten die Aktivlegitimation zur Geltendmachung eines Ersatzanspruchs gegenüber dem Schädiger. Ihm verbleibt nur ein allfälliger durch die Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers nicht gedeckter Rest seines (um die Mitverschuldensquote gekürzten) Ersatzanspruchs (2 Ob 190/07s; 10 Ob 34/10p). Bei der Ermittlung dieses Betrags ist der Schaden zunächst ohne Bedachtnahme auf die Leistungen des Legalzessionars zu ermitteln und um die Mitverschuldensquote zu kürzen. Von dem so errechneten Betrag sind dann die auf den Legalzessionar übergegangen Ansprüche in voller Höhe abzuziehen (RS0026975; RS0027370).

[11] 1.2 Die Legalzession zugunsten des Sozialversicherungsträgers und dessen Quotenvorrecht nach dieser Berechnungsmethode sind nach ständiger Rechtsprechung im Direktprozess nur auf Einwendung des Beklagten in erster Instanz zu berücksichtigen. Die fehlende Aktivlegitimation des Geschädigten darf nicht schon aufgrund seiner Angaben über Bezüge aus der Sozialversicherung angenommen werden, außer wenn er – über die allgemeine Vorteilsausgleichung hinaus – in seinem Prozessvorbringen selbst das Quotenvorrecht des Sozialversicherungsträgers zugestanden hat (RS0084869). Ein diesbezüglicher erst im Berufungsverfahren erhobener Einwand wird in der Rechtsprechung zufolge des Neuerungsverbots als unbeachtlich gesehen (RS0041990). Diesen Grundsatz hat der Oberste Gerichtshof allerdings dahingehend relativiert, dass in erster Instanz nur die Tatsachen vorgebracht werden müssen, aus denen sich in rechtlicher Beurteilung die mangelnde Sachlegitimation ergibt (RS0084869 [T2]). In der vom Beklagten in der Revision zitierten Entscheidung 9 ObA 49/19z betonte der Oberste Gerichtshof, dass die Berücksichtigung des Quotenvorrechts durch das Berufungsgericht entsprechend der Berechnung in der Berufung des beklagten Schädigers keinen Verstoß gegen das Neuerungsverbot bilde, weil es nur um die richtige Methode der Schadensberechnung gehe.

[12] 1.3 Im vorliegenden Fall hat der Kläger seinen Anspruch auf Ersatz des Pflegeaufwands (für das Revisionsverfahren relevant durch Angehörige nach Stundensätzen) ungekürzt um die Mitverschuldensquote detailliert berechnet, um das geleistete Pflegegeld reduziert und dann erst diese Summe um die Mitverschuldensquote gekürzt. Dieselbe Methode wählte er auch für das Begehren auf Zahlung einer monatlichen Rente (ON 31, ON 57, ON 86). Der Beklagte zog diese Berechnungsmethode in erster Instanz nicht in Zweifel, er stellte lediglich zuletzt den Umfang der Pflegegeldzahlungen außer Streit (ON 86 S 3). In der Berufung (ON 91 S 18 ff) bemängelte er zwar die Höhe der vom Erstgericht für die Pflege durch Angehörige zugesprochenen Stundensätze und einen Rechenfehler bei der Ermittlung jener Kalendertage, an denen Angehörige Pflegeleistungen erbrachten. Den seiner Ansicht nach richtig bemessenen Pflegeaufwand reduzierte er in seinen Berechnungen um die Mitverschuldensquote von 75 % und stellte diese Summe den vom Erstgericht zugesprochenen Pflegekosten gegenüber, ohne die Pflegegeldleistungen (zur Gänze) abzuziehen. Nur im Umfang dieser Differenz wurde das erstinstanzliche Urteil bekämpft. Die fehlende Aktivlegitimation als Folge des Quotenvorrechts, das der Beklagte erstmals in seiner Revision ausdrücklich anspricht, ist ein selbständiger Streitpunkt, der mangels Behandlung in der Berufung im Revisionsverfahren nicht aufzugreifen ist (vgl RS0043338).

[13] 2.1 Nach den Feststellungen der Vorinstanzen waren ab Ende der 24‑Stunden‑Pflegebetreuung eine Betreuung durch professionelle Pflegekräfte im Ausmaß von 50 Stunden pro Monat und zusätzlich weitere Pflege- und Betreuungsleistungen durch Familienangehörige (teilweise durch zwei Personen gleichzeitig) notwendig. Der Betreuungs‑ und Pflegebedarf durch Familienangehörige betrug und beträgt noch immer vier Stunden täglich an Wochentagen und sieben Stunden täglich an Wochenenden und Feiertagen. Die Familienangehörigen müssen beispielsweise an Wochentagen um drei Uhr in der Früh die Position des Klägers verändern und Bewegungsübungen durchführen. Sie absolvieren auch Tätigkeiten, die diplomiertem Pflegepersonal vorbehalten sind, wie Umlagern (alle vier Stunden), Katheterwechsel und Verrichtungen im Zusammenhang mit der Stuhlentleerung und Absaugen.

[14] 2.2 Der Kläger hat in seinem Vorbringen in erster Instanz den Pflegeaufwand durch Angehörige detailliert dargestellt und sich bei dem der Bemessung der Pflegekosten zugrunde gelegten Bruttostundensatz an den Kosten professioneller Pflegefachkräfte der Caritas orientiert.

[15] 2.3 Das Erstgericht folgte bei der Bemessung des Stundensatzes für den Pflegeaufwand durch Angehörige dem Sachverständigengutachten, das den vom Kläger zugrunde gelegten Bruttostundenlohn für eine professionelle diplomierte Pflegekraft als angemessen beurteilt hatte. Das Berufungsgericht legte das Bestreitungsvorbringen der Beklagten in Verbindung mit der ausdrücklichen Außerstreitstellung in der Verhandlung vom 14. 2. 2020 so aus, dass der Beklagte damit auch die Höhe der Stundensätze außer Streit gestellt habe.

[16] 2.4 Die Auslegung des Prozessvorbringens einer Partei begründet nur dann eine erhebliche Rechtsfrage, wenn die Auslegung durch das Rechtsmittelgericht mit dem Wortlaut des Vorbringens unvereinbar ist (RS0044273 [T37]). Das gilt auch für die Frage, ob und in welchem Umfang etwas als zugestanden iSd § 266 ZPO gilt (RS0044273 [T46]). Der Inhalt einer Prozesserklärung ist nach objektiven Maßstäben zu beurteilen und nicht nach den Auslegungsregeln für Privatrechtsgeschäfte. Es kommt nicht auf den tatsächlichen Willen der erklärenden Partei an, sondern ausschließlich darauf, wie die Erklärung unter Berücksichtigung der konkreten gesetzlichen Regelung, des Prozesszwecks und der dem Gericht und dem Gegner bekannten Prozess- und Aktenlage objektiv verstanden werden muss (RS0017881; RS0037416).

[17] 2.5 Eine nach diesen Kriterien vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung durch das Berufungsgericht liegt hier nicht vor. Aus objektiver Sicht ist es nicht ausgeschlossen, die prozessuale Erklärung des Beklagten so zu verstehen, dass damit das Teilbegehren (auf Ersatz des Pflegeaufwands durch Angehörige) in seiner Gesamtheit nicht mehr strittig sein sollte.

[18] 3. Die Revisionsgründe der Aktenwidrigkeit und der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO)

[19] III. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 Abs 1 ZPO. Beide Parteien haben auf die Unzulässigkeit des gegnerischen Rechtsmittels hingewiesen, weshalb sie Anspruch auf Ersatz der Kosten ihrer Revisionsbeantwortung haben. Der vom Berufungsgericht ausgesprochene Kostenvorbehalt nach § 52 Abs 3 ZPO hindert diese Kostenentscheidung nicht (1 Ob 137/16b = RS0129365 [T2 und T3]).

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