European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0110OS00108.18V.1211.000
Spruch:
In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das sonst unberührt bleibt, im Strafausspruch aufgehoben. Die Sache wird in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Korneuburg verwiesen.
Die Nichtigkeitsbeschwerde im Übrigen wird zurückgewiesen.
Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf die Aufhebung verwiesen.
Dem Angeklagten fallen die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Michael R***** des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB schuldig erkannt.
Danach hat er am 30. Juli 2017 in U***** J***** L*****, die aufgrund erheblicher Alkoholisierung und Schlaftrunkenheit, „mithin einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, unfähig war, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“ (richtig [US 5]: wehrlos war), unter Ausnützung dieses Zustands dadurch missbraucht, dass er mit ihr den Beischlaf und eine dem Beischlaf gleichzusetzende Handlung vornahm, indem er ihr seinen erigierten Penis in den Mund steckte und anschließend versuchte, mit seinem Penis in ihre Scheide einzudringen.
Rechtliche Beurteilung
Dagegen wendet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 5, 5a, 9 lit a und 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.
Entgegen der Verfahrensrüge (Z 4) wurden durch die Abweisung (ON 23 S 105) des in der Hauptverhandlung gestellten Antrags (ON 23 S 104 f) auf „Einvernahme des Polizisten des BezInsp. F*****“ zum Beweis dafür, dass „es nicht richtig ist, dass die Zeugin L***** bei der ersten Einvernahme von ihm unter Druck gesetzt worden ist“, Verteidigungsrechte schon deshalb nicht geschmälert, weil dem Schöffengericht dieses Beweisthema ohnehin als erwiesen galt (US 10; § 55 Abs 2 Z 3 StPO).
Der Erledigung der Mängel- (Z 5), der Tatsachen- (Z 5a) und der Rechtsrüge (Z 9 lit a) sei vorangestellt, dass die verschiedenen Tatbestandsvarianten des § 205 Abs 1 StGB rechtlich gleichwertig sind und daher ein alternatives Mischdelikt bilden ( Hinterhofer , SbgK § 205 Rz 10): Die Richtigkeit der Subsumtion (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) hängt davon ab, dass (irgend-)eine, nicht aber davon, welche dieser Alternativen verwirklicht wurde (vgl RIS-Justiz RS0116655). Für die Frage, ob die vom Tatbestand geforderte Objektsqualität erfüllt ist, ist demnach bedeutungslos, ob die festgestellten Tatumstände die rechtliche Annahme der Wehrlosigkeit oder aber der – in einer geistigen Behinderung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder einer anderen schweren, einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung begründeten – Unfähigkeit des Opfers tragen, die Bedeutung des betreffenden (nämlich als Beischlaf oder als eine der sonstigen Handlungsvarianten des § 205 Abs 1 StGB zu beurteilenden) Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Zwar weist die Beschwerde (im Kern) zutreffend darauf hin, dass das Schöffengericht – rechtlich verfehlt – (zusätzlich) sexuelle Diskretions- oder Dispositionsunfähigkeit des Opfers bejahte (vgl US 1, 5 f, 17), obwohl auf Basis des Urteilssachverhalts (allein) Wehrlosigkeit anzunehmen ist (zu den Voraussetzungen psychischer Unfähigkeit zur Selbstbestimmung in rebus sexualibus und zu deren Abgrenzung von Wehrlosigkeit siehe Hinterhofer , SbgK § 205 Rz 24 ff; vgl auch Schwaighofer , PK-StGB § 205 Rz 5; RIS-Justiz RS0095091, RS0120166). Gerade weil jedoch (immerhin) Zweiteres zutrifft, ist Ersteres – nach dem oben Gesagten – unter Nichtigkeitsaspekten unschädlich.
Für die rechtliche Annahme von Wehrlosigkeit (zu diesem Tatbestandsmerkmal Hinterhofer , SbgK § 205 Rz 23; Schwaighofer , PK-StGB § 205 Rz 4; Philipp in WK 2 StGB § 205 Rz 7; RIS-Justiz RS0119550 [T3]) kommt es darauf an, dass das Opfer – wie vorliegend konstatiert (US 5) – „außer Stande“ war, „effektiven Widerstand“ zu leisten. Diese Feststellung konnte das Schöffengericht – willkürfrei – aus den Angaben der tatbetroffenen Zeugin ableiten (US 11; vgl ON 23 S 25 f, 36: „ich war wie erstarrt“; „ich konnte nicht schreien“; „ich konnte nicht weglaufen“).
Nicht entscheidend ist hingegen, ob dieser Zustand – wovon das Erstgericht ausging (US 5) – auf „erhebliche“ Alkoholisierung und Schlaftrunkenheit oder – wie die Beschwerde beweiswürdigend mutmaßt – (ganz oder zum Teil) auf einen „Schock“ zurückzuführen war.
Das auf Z 5 vierter Fall gestützte, jeweils isoliert gegen Urteilsaussagen zum Grad der Alkoholisierung sowie der Schlaftrunkenheit der Zeugin zur Tatzeit gerichtete Vorbringen verfehlt daher von vornherein den Bezugspunkt der unternommenen Anfechtung ( Ratz , WK-StPO § 281 Rz 391).
Gleiches gilt für den (nominell aus Z 5 dritter Fall erhobenen) Einwand, beweiswürdigende Erwägungen der Tatrichter, wonach es dem Opfer „sehr wohl möglich“ gewesen sei, „zu erkennen welche Bedeutung die sexuellen Handlungen hatten“ (vgl US 16), stünden „in Widerspruch“ zu – nach dem Beschwerdevorbringen (ohnedies) gar nicht getroffenen – „Feststellungen“. Damit erkennbar kritisierte rechtliche Erwägungen (zum Vorliegen sexueller Diskretions- oder Dispositionsunfähigkeit – siehe oben), die das Erstgericht in den Entscheidungsgründen angestellt hat, sind kein Gegenstand der Nichtigkeitsbeschwerde (RIS-Justiz RS0100877 [T8, T11]; Ratz , WK-StPO § 281 Rz 413).
Nach Ansicht des Beschwerdeführers gegen die Feststellungen zum subjektiven Handlungselement sprechende Aussagen des (mit dem Angeklagten seit vielen Jahren befreundeten – US 12) Zeugen S***** haben die Tatrichter keineswegs übergangen (Z 5 zweiter Fall), sondern als unglaubhaft verworfen (US 12).
Die Tatsachenrüge (Z 5a) wendet sich gegen das die Annahme der Wehrlosigkeit des Opfers tragende (oben referierte) Feststellungssubstrat (US 5).
Soweit sie ihre Argumentation nicht aus aktenkundigem Beweismaterial, sondern aus eigenständiger Interpretation des Urteilsinhalts (zum Verhalten des Opfers „wenige Minuten“ nach der Tat – US 6) entwickelt, verlässt sie den Anfechtungsrahmen (RIS-Justiz RS0117961 [insbesondere T5]).
Die Aussage der Zeugin L***** wiederum, sie habe sich vor der Tat in einem „Halbschlaf“ befunden, aus dem sie „immer wieder aufgewacht“ sei (ON 23 S 25), weckt beim Obersten Gerichtshof keine erheblichen Bedenken gegen die bekämpfte Feststellung.
Die Rechtsrüge (Z 9 lit a) vermisst Konstatierungen zu einer Unfähigkeit des Opfers, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Sie versäumt es (bereits), darzulegen, weshalb die vom Tatbestand des § 205 Abs 1 StGB geforderte Objektsqualität nicht schon durch jene Feststellungen erfüllt sein sollte, die – wie sie ohnehin selbst einräumt – die rechtliche Annahme einer Wehrlosigkeit des Opfers zur Tatzeit tragen (siehe aber RIS-Justiz RS0116565).
Der Einwand des Fehlens von Feststellungen zu einem auf die Wehrlosigkeit des Opfers bezogenen Vorsatz des Angeklagten hält nicht an der Gesamtheit der diesbezüglichen Urteilsannahmen (US 5 f, 16) fest (siehe aber RIS-Justiz RS0099810). Weshalb die Formulierung, die „Widerstandsunfähigkeit“ des Opfers sei dem Angeklagten „bekannt“ gewesen (US 16), im Zusammenhalt mit den weiteren Feststellungen zum subjektiven Handlungselement nicht (auch) die Wollenskomponente eines darauf gerichteten (zumindest bedingten – § 5 Abs 1 StGB) Vorsatzes zum Ausdruck bringen sollte, wird nicht erklärt (vgl im Übrigen RIS-Justiz RS0088835).
In diesem Umfang war daher die Nichtigkeitsbeschwerde – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – gemäß § 285d Abs 1 StPO bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen.
Die Sanktionsrüge dagegen zeigt (im Ergebnis) zutreffend auf, dass das Schöffengericht bei seinem Strafausspruch für die Strafbemessung maßgebende entscheidende Tatsachen offenbar unrichtig beurteilte (Z 11 zweiter Fall):
Als bei der Strafbemessung erschwerend wertete das Schöffengericht den Umstand, „dass der Angeklagte nicht davor zurückschreckte, zwecks Einschüchterung seines Opfers eine (falsche) Gegenanzeige wegen Verleumdung einzubringen“ (US 18 f).
Darin erblickt die Rüge sowohl eine dem Angeklagten nachteilige Bewertung seiner „Verteidigungsstrategie“ als auch einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung.
Nur Zweiteres, nicht Ersteres trifft zu:
Dass dem Angeklagten aus seinem Verteidigungsverhalten im Strafverfahren prinzipiell (auch bei der Sanktionsfindung) kein Nachteil erwachsen darf (RIS‑Justiz RS0090897 [insbesondere T2]; 13 Os 13/15h; Ebner in WK² StGB § 32 Rz 43), folgt aus dem – verfassungsrechtlich aus Art 6 Abs 2 MRK abzuleitenden ( Grabenwarter/Pabel , EMRK 6 § 24 Rz 138; Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer , EMRK 4 Art 6 Rz 129 ff je mwN), einfachgesetzlich in § 7 Abs 2 erster Satz StPO ausdrücklich normierten – Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum accusare) und aus dem Recht des Beschuldigten, seine Verantwortung (überhaupt) frei zu wählen (§§ 49 Z 4, 164 Abs 1, Abs 4, 245 Abs 2 StPO). Anders als sein Aussage- und sonstiges Prozessverhalten im gegen ihn selbst geführten Verfahren ist die – außerhalb desselben vorgenommene – (aktive) Erstattung einer „Verleumdungsanzeige“ gegen das Opfer indes von vornherein kein Verteidigungsverhalten, durch dessen Wertung als erschwerend eine der angesprochenen Verfahrensgarantien konterkariert werden könnte (zu den Grenzen des Rechts auf materielle Verteidigung vgl im Übrigen Achammer , WK-StPO § 7 Rz 14; L/St/Tipold , StGB 4 § 3 Rz 20 f; L/St/Zöchbauer/Bauer , StGB 4 § 297 Rz 20 ff; Pilnacek/Swiderski in WK 2 StGB § 297 Rz 43; RIS-Justiz RS0096638).
Die Unschuldsvermutung (§ 8 StPO; Art 6 Abs 2 MRK) ist allerdings verletzt, wenn das Gericht bei der Strafbemessung auf die Begehung einer Straftat als tatsächlichen Anknüpfungspunkt abstellt, die nicht Gegenstand des im angefochtenen Urteil gefällten oder eines sonstigen, rechtskräftigen Schuldspruchs ist (vgl RIS-Justiz RS0074684 [insbesondere T7, T11]; Ratz , WK-StPO § 281 Rz 713 und 725; Ebner in WK 2 StGB § 32 Rz 36).
Der betreffende Sachverhalt („falsche Gegenanzeige“ durch den Angeklagten) ist kein Gegenstand (irgend-)eines Schuldspruchs des Beschwerdeführers; er hätte dies im Übrigen – mangels rechtzeitigen (§ 263 Abs 1 StPO; Lewisch , WK-StPO § 263 Rz 42 und 74) diesbezüglichen Verfolgungsantrags eines berechtigten Anklägers – auch (von vornherein) nicht sein können.
Dessen ungeachtet trifft die beanstandete Begründungspassage nach ihrem – hierfür maßgeblichen (RIS‑Justiz RS0128232) – Sinngehalt eine derartige Schuldfeststellung. Bringt sie doch zum Ausdruck, dass die Tatrichter das in Rede stehende Verhalten des Angeklagten als (eben nicht nur strafschärfend, sondern auch) schon an sich strafbar qualifizierten.
Dies führte zur Aufhebung des Strafausspruchs bereits bei der nichtöffentlichen Beratung (§ 285e StPO).
Mit seiner Berufung war der Angeklagte hierauf zu verweisen.
Der Kostenausspruch beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
Mit Blick auf den zweiten Rechtsgang sei hinzugefügt, dass
1. die bekämpfte Strafbemessungserwägung auch deshalb rechtlich verfehlt ist, weil Nachtatverhalten – abgesehen von hier nicht relevanten Ausnahmefällen – per se nicht als im Sinn des § 33 StGB erschwerend gewertet werden darf ( Ebner in WK 2 StGB § 32 Rz 37 f mwN; 13 Os 65/14d [13 Os 66/14a]; vgl auch RIS‑Justiz RS0091109; zu möglicher Berücksichtigung von Nachtatverhalten im Rahmen des § 32 StGB vgl 13 Os 141/11a; zu seiner Heranziehung als Beurteilungsgrundlage der das künftige Verhalten des Rechtsbrechers betreffenden Prognoseentscheidung nach § 43 Abs 1 zweiter Satz StGB vgl Jerabek in WK² StGB § 43 Rz 21), und
2. eine dem Angeklagten nachteilige Bewertung seines Verteidigungsverhaltens im Strafverfahren (nicht in der bekämpften Strafbemessungserwägung, aber) in der – vom Schöffengericht im ersten Rechtsgang gewählten (US 19) – Begründung der Nichtgewährung gänzlich bedingter Strafnachsicht mit einem Mangel an „jeglicher erkennbarer Reue“ zu erblicken gewesen wäre (Z 11 dritter Fall – RIS‑Justiz RS0090897, jüngst 11 Os 109/17i).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)