OGH 10ObS93/14w

OGH10ObS93/14w25.11.2014

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Werner Rodlauer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Horst Nurschinger (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch Dr. Reinhard Tögl Rechtsanwalts-gesellschaft mbH in Graz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist‑Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 1. Juli 2014, GZ 6 Rs 39/14y‑24, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 6. März 2014, GZ 54 Cgs 37/13m‑20, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Begründung

Der am 28. 1. 1959 geborene und zum Stichtag 1. 4. 2013 somit 54‑jährige Kläger hat nach Beendigung der Pflichtschule eine qualifizierte Berufsausbildung als Maurer erworben und hat im Rahmen dieser Tätigkeit im maßgeblichen Beobachtungszeitraum von April 1989 bis März 2013 insgesamt 135 Beitragsmonate der Pflichtversicherung erworben. Seit November 2012 geht er keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung mehr nach.

Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt lehnte mit Bescheid vom 2. 5. 2013 den Antrag des Klägers vom 11. 3. 2013 auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab, weil Invalidität nicht vorliege. Weiters sprach die beklagte Partei aus, dass kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation bestehe, weil eine Invalidität des Klägers auch in absehbarer Zeit nicht eintreten werde.

Das Erstgericht wies das dagegen rechtzeitig erhobene und auf Zuerkennung der Invaliditätspension in der gesetzlichen Höhe ab dem 1. 4. 2013 gerichtete Klagebegehren ab. Es stellte im Wesentlichen noch fest, dass der Kläger aufgrund seiner näher beschriebenen Leidenszustände, darunter insbesondere Zustand nach Unfall im Jahr 2003 mit Teilamputation zweier Finger und Schädigung des rechten Mittelnervs, Wirbelsäulenschmerzen, dysthymer Verstimmungszustand mit geringem Krankheitswert und Stottern seit der Kindheit, noch alle leichten und bis zu einem Drittel des Arbeitstags auch mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen im Freien sowie in geschlossenen Räumen verrichten kann. Hebe- und Tragebelastungen sind rechts bis zu einem Achtel des Arbeitstags möglich. Arbeiten in gebückter und vorgebeugter Körperhaltung sind auf ein Drittel des Arbeitstags, Überkopfarbeiten sowie Arbeiten in hockender und kniender Körperhaltung auf zwei Drittel des Arbeitstags zu beschränken. Die Fingerfertigkeit ist insofern eingeschränkt, als der vierte und fünfte Finger rechts nicht verwendbar sind. Forcierte Arbeitsbedingungen sind auf die Hälfte des Arbeitstags zu beschränken. Arbeiten an exponierten Stellen, Nachtdiensttätigkeiten sowie das berufliche Lenken von Fahrzeugen scheiden aus. Der Kläger ist anweis‑ und anlernbar sowie schul‑ und umschulbar. Wochenpendeln und Ortswechsel sind zumutbar. Die Krankenstandsprognose umfasst insgesamt zwei Wochen jährlich.

Die Kontaktfähigkeit des Klägers ist gut, wobei jedoch das bestehende Stottern berücksichtigt werden muss. Diese seit der Kindheit bestehende Sprachstörung wird bei Angespanntheit und Nervosität besonders deutlich. Sie ist nicht ständig vorhanden, sondern kommt vor allem in Drucksituationen zum Ausdruck. Im Übrigen ist der Kläger in der Lage, ein klares und verständliches Gespräch zu führen. Innerhalb eines regelmäßigen Ablaufs besteht hinsichtlich der Sprachmotorik kein Problem. Einfache Fragen sind problemlos zu beantworten, bei komplexeren Fragen wird es zu einem Stottern kommen. Das Stottern (als eigenständige Behinderung) hat sich im Laufe der Jahre seit der Kindheit nicht verschlechtert.

Beim Kläger bestehen massive Defizite in der Daueraufmerksamkeit, in der Dauerbelastung, in der Konzentrationsfähigkeit und in der Reaktionsgeschwindigkeit. Die Werte der Intelligenzbasisfunktionen liegen mit einer Ausnahme im unterdurchschnittlichen Bereich. Besonders ausgeprägt ist das starke Stottern in Stresssituationen. Das erfolgreiche Absolvieren einer Umschulungsmaßnahme im Rahmen der beruflichen Rehabilitation ist nicht zu erwarten.

Die Tätigkeit eines Maurers scheidet für den Kläger aufgrund der damit verbundenen schweren und teils in exponierten Lagen zu verrichtenden Arbeiten aus.

Das vom Erstgericht näher festgestellte Anforderungsprofil der Verweisungstätigkeit eines Baustofffachmarktberaters übersteigt das medizinische Leistungskalkül des Klägers grundsätzlich nicht. Aufgrund des Stotterns ist jedoch davon auszugehen, dass der Kläger massive Probleme haben wird, in diesem Berufsfeld Fuß zu fassen. Tätigkeiten mit externen Kunden sind auszuschließen. Die Tätigkeit mit Team‑ und Arbeitskollegen sowie mit immer denselben Lieferanten und Ansprechpartnern ist möglich. Bei der Tätigkeit des Baustofffachmarktberaters hat der Kläger jedoch beide Personengruppen zu betreuen. Zur Ausübung dieses Berufs muss eine Kommunikationsfähigkeit unter Wahrung der Umgangsformen im Sinn einer im oberen Durchschnittsbereich liegenden Kontaktfähigkeit erbracht werden, damit ein regelmäßiger Austausch mit Kunden und ein Eingehen auf deren Bedürfnis möglich ist.

In rechtlicher Hinsicht beurteilte das Erstgericht eine Invalidität des Klägers im Hinblick auf die von ihm erworbenen Versicherungszeiten nach § 255 Abs 1 ASVG. Der Kläger sei zwar nicht mehr in der Lage, die zuletzt verrichtete Tätigkeit als gelernter Maurer auszuüben, jedoch komme für ihn die Tätigkeit eines Baustofffachmarktberaters als zumutbare Verweisungstätigkeit in Betracht. Der Ausschluss dieser Verweisungstätigkeit sei ausschließlich in dem Umstand begründet, dass der Kläger an einem seit seiner Kindheit bestehenden und seither nicht veränderten Stottern leide. Diesen Zustand habe der Kläger jedoch in sein Arbeitsleben eingebracht, weshalb dieser bei der Prüfung der Invalidität außer Betracht zu bleiben habe. Der Kläger sei daher trotz dieser Behinderung auf den Beruf eines Baustofffachmarktberaters zu verweisen und daher nicht invalide.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers keine Folge. Es teilte im Wesentlichen die Rechtsansicht des Erstgerichts. Im Fall des Klägers sei davon auszugehen, dass ihn die seit Kindheit bestehende und damit in das Erwerbsleben eingebrachte unverändert gebliebene Behinderung des Stotterns bei der Ausübung seines Lehrberufs als Maurer nicht beeinträchtigt habe, er jedoch ausschließlich wegen dieser Behinderung die Verweisungstätigkeit eines Baustofffachmarktberaters nicht verrichten könne. Scheide man im Sinne der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs diese eingebrachte Behinderung aus, würde ihm sein Leistungskalkül die Verrichtung dieser Tätigkeit ermöglichen. Bei dieser Sachlage habe das Erstgericht das Vorliegen von Invalidität zutreffend verneint.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.

Der Kläger macht im Wesentlichen geltend, sein Stottern habe ihn nicht daran gehindert, den Beruf des Maurers zu erlernen und auch auszuüben. Er sei nach den Feststellungen wegen eingetretener Verschlechterungen seines Gesundheitszustands auf orthopädischem Gebiet nicht mehr in der Lage, die Tätigkeit als Maurer weiterhin auszuüben. Es könne das Vorliegen von Invalidität nicht verneint werden, wenn eine eingebrachte Gesundheitsstörung einen Versicherten bei Eintritt in das Erwerbsleben lediglich außerstande gesetzt habe, einen möglichen Verweisungsberuf auszuüben, bei der ausgeübten qualifizierten Tätigkeit aber kein Berufshindernis dargestellt habe. In diesem Sinne habe der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 160/01d ausgeführt, dass es nicht zulässig sei, das Vorliegen von Invalidität damit zu verneinen, dass ein einzelner Teilbereich von möglichen Tätigkeiten herausgegriffen werde, den der Versicherte weder bei Eintritt in das Erwerbsleben noch bei Antragstellung auf Pensionszuerkennung habe verrichten können. Maßgebend sei vielmehr die entscheidende Beeinträchtigung der zuvor bestandenen Arbeitsfähigkeit während des Erwerbslebens. Andernfalls wäre Invalidität immer ausgeschlossen, wenn sich zwar die Arbeitsfähigkeit während des Berufslebens wesentlich verschlechtert habe, der Versicherte aber bereits bei Eintritt in das Berufsleben nicht in der Lage gewesen sei, eine bestimmte Verweisungstätigkeit auszuführen.

Im Übrigen würde es auch im Hinblick auf den vom Gesetzgeber ausdrücklich verfolgten Zweck, für Behinderte einen Anreiz zu schaffen, sich in den regulären Arbeitsmarkt aktiv zu integrieren und auf diese Weise einen Anspruch auf eine Pension aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit zu erwerben, einen kaum überbrückbaren Wertungswiderspruch bedeuten, einen Versicherten, der trotz einer in das Berufsleben eingebrachten Behinderung einen Beruf erlernt und diesen Beruf über einen längeren Zeitraum auch tatsächlich ausgeübt, somit Berufsschutz erworben habe, einen Anspruch auf Invaliditätspension von vornherein zu versagen, wenn später nicht die eingebrachte Behinderung, sondern eine Verschlechterung des Gesundheitszustands die Ausübung des erlernten Berufs unmöglich mache. Es sei daher eine Verweisung des Klägers, der Berufsschutz als Maurer genieße, auf die Tätigkeit eines Baustofffachmarktberaters wegen seines Stotterns nicht möglich, sodass er invalid im Sinne der gesetzlichen Vorschriften sei.

Der erkennende Senat hat dazu Folgendes erwogen:

1. Nach § 254 Abs 1 ASVG in der zum hier maßgebenden Stichtag (1. 4. 2013) geltenden Fassung der 75. ASVG‑Novelle, BGBl I 2010/111, hat der Versicherte unter anderem dann Anspruch auf Invaliditätspension, wenn kein Anspruch auf berufliche Rehabilitation nach § 253e Abs 1 und 2 ASVG besteht oder die Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nach § 253e Abs 3 ASVG nicht zweckmäßig oder nach § 253e Abs 4 ASVG nicht zumutbar sind (Z 1) und die Invalidität (§ 255 ASVG) voraussichtlich sechs Monate andauert oder andauern würde (Z 2).

2. Die Vorinstanzen haben das Klagebegehren mit der Begründung abgewiesen, dass keine Invalidität des Klägers im Sinn des § 255 ASVG vorliege und der Kläger daher die Anspruchsvoraussetzung nach § 254 Abs 1 Z 2 ASVG idF BGBl I 2010/111 nicht erfülle.

3. Nach § 255 Abs 1 ASVG gilt der Versicherte, der ‑ wie unbestritten der Kläger ‑ überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war, als invalid, wenn seine Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in jedem dieser Berufe herabgesunken ist.

3.1 Aus der Wortfolge „seine Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands ... herabgesunken ist“ leitet der Oberste Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung ab, dass zum Begriff des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit auch die Voraussetzung gehört, dass sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn der Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat. Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis eingebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann daher nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls führen (vgl 10 ObS 44/87, SSV‑NF 1/33 ua; RIS‑Justiz RS0085107, RS0084829). Wer trotz bestehender Behinderung, die ihn an sich vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließen würde, eine Berufstätigkeit ausübt und Versicherungszeiten erwirbt, kann sich daher nach Erreichung der allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen für eine Invaliditätspension nicht darauf berufen, dass er wegen dieser Behinderung nunmehr invalid sei. Andernfalls hätte es nämlich ein Versicherter in der Hand, seine Invalidität im Sinn des § 255 ASVG bloß durch die Aufgabe seines bisherigen Arbeitsplatzes selbst herbeizuführen (10 ObS 379/90, SSV‑NF 4/160 mwN). Der Versicherte könnte aber mit Erfolg geltend machen, dass ihm aus anderen Gründen, wie etwa wegen eines schweren, unabhängig von der bereits bestehenden Behinderung aufgetretenen zusätzlichen Leidens eine Weiterarbeit unzumutbar wäre (10 ObS 26/90, SSV‑NF 4/60).

3.2 Diese dargelegten Grundsätze werden in der Rechtsprechung nicht nur in den Fällen einer vollständig bei Eintritt in das Erwerbsleben bestehenden Arbeitsunfähigkeit sondern auch im Hinblick auf die in das Erwerbsleben mitgebrachten Leidenszustände, auch wenn sie lediglich Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit auslösen, angewendet. Danach kann sich auch ein Versicherter, der trotz einer von Beginn an bestehenden Behinderung (Einäugigkeit) einer Berufstätigkeit (als Schlosser) nachgeht, nach Erwerb der Anspruchsvoraussetzungen für die Invaliditätspension nicht darauf berufen, dass er wegen dieser Behinderung nicht in der Lage sei, seiner Tätigkeit weiter nachzugehen (10 ObS 62/87, SSV‑NF 1/67 ua).

3.3 In den Entscheidungen 10 ObS 26/96 (SSV‑NF 10/13) und 10 ObS 88/99k (SSV‑NF 13/93) wurde diese Rechtsprechung auch auf den Fall angewendet, dass der Versicherte seinen bisherigen Beruf wegen einer Verschlechterung seines körperlichen Zustands nicht mehr ausüben kann, ihn jedoch ein in das Erwerbsleben eingebrachtes Leiden, das ihn zwar bei seinem ausgeübten Beruf nicht behinderte, von möglichen ansonst auch medizinisch zumutbaren Verweisungsberufen ausschließt. An dieser (älteren) Judikatur orientierten sich auch die beiden Vorinstanzen bei ihren Entscheidungen im vorliegenden Fall.

3.4.1 Diese strenge Judikaturlinie wurde jedoch in der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs etwas gelockert. So war in der Entscheidung 10 ObS 294/99d (SSV‑NF 13/130) der Fall zu beurteilen, dass eine Versicherte bereits zu Beginn ihrer Erwerbstätigkeit den üblichen Anmarschweg nicht bewältigen konnte und aus diesem Grund bereits zu diesem Zeitpunkt gemindert arbeitsfähig war, ansonsten die gesundheitlichen Anforderungen an ihren Beruf jedoch erfüllte und ihn auch ausübte. Der Oberste Gerichtshof entschied in diesem Fall, dass dennoch eine geminderte Arbeitsfähigkeit vorliegen kann, wenn nachträglich der Gesundheitszustand unabhängig von der eingebrachten Behinderung so weit herabsinkt, dass die Voraussetzungen für eine Pensionsleistung erfüllt sind. Entscheidend ist die nachträgliche Beeinträchtigung einer ursprünglich bestandenen Arbeitsfähigkeit (vgl auch Födermayr in SV‑Komm § 255 ASVG Rz 43).

3.4.2 In der Entscheidung 10 ObS 160/01d, SSV‑NF 15/84, war der Sachverhalt zu beurteilen, dass die Versicherte bei Eintritt in das Erwerbsleben noch einfache Band‑ und Sortierarbeiten verrichten konnte, nicht jedoch Aufsichtstätigkeiten. Zum Stichtag konnte sie wegen Verstärkung ihrer psychogenen Überlagerung auch Band‑ und Sortierarbeiten nicht mehr ausüben. Der Oberste Gerichtshof gab dem Klagebegehren statt und sprach aus, dass es nicht zulässig sei, das Vorliegen von Invalidität damit zu verneinen, dass ein einzelner Teilbereich von möglichen Tätigkeiten (Aufsichtstätigkeiten) herausgegriffen werde, den die Versicherte weder bei Eintritt in das Erwerbsleben noch bei Antragstellung verrichten konnte. Maßgebend sei vielmehr die entscheidende Beeinträchtigung der zuvor bestandenen Arbeitsfähigkeit während des Erwerbslebens. Andernfalls wäre Invalidität immer ausgeschlossen, wenn sich zwar die Arbeitsfähigkeit während des Berufslebens wesentlich verschlechtert habe, die Versicherte aber bereits bei Eintritt in das Berufsleben nicht in der Lage war, eine bestimmte Verweisungstätigkeit auszuführen.

3.4.3 Auch in der Entscheidung 10 ObS 342/01v (SSV‑NF 16/1) erfolgte die Klarstellung, dass die Rechtsprechung zum Herabsinken nicht so zu verstehen sei, dass diejenigen einzelnen körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen, die die Arbeitsfähigkeit bei Eintritt in das Erwerbsleben zwar bereits herabsetzten, aber nicht ausschlossen, bei der Beurteilung der Invalidität außer Betracht zu lassen wären. Vielmehr sei entscheidend, ob der Versicherte bei Eintritt in das Erwerbsleben arbeitsfähig gewesen sei und sich eine zu diesem Zeitpunkt vorhandene Arbeitsfähigkeit im Laufe des Erwerbslebens verschlechtert habe.

3.5 Mit diesen Entscheidungen wurde von der in Pkt 3.3 zitierten älteren Judikatur abgegangen (vgl Sonntag in Sonntag , ASVG 5 § 255 Rz 195 f).

4. Zutreffend macht daher der Revisionswerber im Sinne der soeben zitierten jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs geltend, dass seine Arbeitsfähigkeit in dem von ihm erlernten und ausgeübten Beruf als Maurer wegen der während seines Erwerbslebens eingetretenen Verschlechterung seines Gesundheitszustands auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in diesem Beruf herabgesunken ist. Maßgebend ist somit das wesentliche Herabsinken der Arbeitsfähigkeit des Versicherten während seines Erwerbslebens in dem von ihm ausgeübten Beruf (vgl § 255 Abs 1 ASVG). Die vom Kläger in das Erwerbsleben eingebrachte Gesundheitsstörung, welche bei der von ihm erlernten und ausgeübten qualifizierten Tätigkeit als Maurer kein Berufshindernis dargestellt hat, sondern ihn lediglich außerstande gesetzt hat, einen möglichen ‑ von ihm aber nie ausgeübten ‑ Verweisungsberuf (als Baustoff-fachmarktberater) zu verrichten, vermag entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen das Vorliegen einer Invalidität des Klägers im Sinn des § 255 Abs 1 ASVG nicht auszuschließen. Da der Kläger die nach den Feststellungen der Vorinstanzen allein noch in Betracht kommende Verweisungstätigkeit eines Baustofffachmarktberaters wegen seiner eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit nicht mehr verrichten kann, ist er invalide im Sinn des § 255 Abs 1 ASVG.

5. Ausgehend von dieser Rechtsansicht ist vom Gericht im vorliegenden Fall von Amts wegen noch das Vorliegen der negativen Anspruchsvoraussetzung nach § 254 Abs 1 Z 1 ASVG idF BGBl I 2010/111 zu prüfen. Voraussetzung eines Anspruchs auf Invaliditätspension ist danach, dass der Versicherte keinen Anspruch auf berufliche Rehabilitation nach § 253e Abs 1 und 2 ASVG hat oder die Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig (§ 253e Abs 3 ASVG) oder nicht zumutbar (§ 253e Abs 4 ASVG) sind. Das Gericht hat diese Frage mit den Parteien zu erörtern und dazu die erforderlichen Feststellungen zu treffen. Das Erstgericht hat diese Frage mit den Parteien bisher jedoch nicht ausdrücklich erörtert und insoweit auch widersprüchliche Feststellungen zur Frage der Möglichkeit einer beruflichen Umschulung des Klägers getroffen. Wenn der Pensionsversicherungsträger zugesteht, dass ein Anspruch des Klägers auf berufliche Rehabilitation nicht besteht oder solche Maßnahmen nicht zweckmäßig oder nicht zumutbar sind, bedarf es keiner weiteren (inhaltlichen) Prüfung dieser Anspruchsvoraussetzung. Die zur Rechtslage vor der Neufassung des § 254 Abs 1 Z 1 ASVG durch die 75. ASVG‑Novelle ergangene Rechtsprechung, wonach der Pensionsversicherungsträger, der im Anstaltsverfahren dem Versicherten eine Maßnahme der beruflichen Rehabilitation nicht angeboten hat, im Gerichtsverfahren den Einwand, der Versicherte wäre rehabilitierbar, nicht mehr erheben kann, ist überholt, weil die Frage der beruflichen Rehabilitation seither als negative Anspruchsvoraussetzung von Amts wegen zu prüfen ist (10 ObS 107/12a, ZAS 2014/7, 42 [ Beck ]).

Da es somit einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war die Sache in Stattgebung der Revision des Klägers unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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