Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am 1.10.1943 geborene Klägerin ist seit ihrer Kindheit voll taub. Ihr Intelligenzdefekt (Debilität) liegt vor allem im theoretisch-abstrakten, weniger im praktischen Bereich. Sie besuchte eine Taubstummenschule und eine Hauswirtschaftsschule, erlernte jedoch keinen Beruf und war bis Anfang 1982 bei verschiedenen Firmen als Hilfsarbeiterin tätig. Sie ist für leichte und fallweise mittelschere Arbeiten in jeder Körperhaltung und in jeder Position des Arbeitsplatzes geeignet. Ausgeschlossen sind Arbeiten an gefährdeten Stellen (Leitern und Gerüsten, offenen ungeschützten Maschinen) sowie Arbeiten, bei denen es zu starker Staub- oder Gasexposition kommt. Die Klägerin ist für einfache Hilfsarbeiten unterweisbar und einordenbar. Die Fingerfertigkeit ist erhalten. Sie kann auch durchschnittliche Mengenleistungen erbringen. Ein Tagespendeln zum und vom Arbeitsplatz ist ihr im Raum Wiener Neustadt, im Bereich der Südbahnlinie und im Bereich der südlichen Randbezirke Wiens zumutbar. Der An- und Abmarschweg zum und vom Arbeitsplatz muß ihr jedoch ein- oder zweimal gezeigt werden. Sie kann zum Arbeitsplatz im Bus, in der Bahn, im Zubringerbus und - wenn ein mehrmaliges Umsteigen nicht erforderlich ist - mit der Straßenbahn reisen. Die Klägerin kann Sortier- und Verpackungsarbeiten in der Leder- und Galanteriewarenerzeugung, in der Elektrowaren- und Kunststoffindustrie, in der Kosmetik- und Süßwarenindustrie und in der Textilindustrie, ferner Tätigkeiten einer Abfüllerin, Presserin, Stanzerin und Prägerin verrichten. In Wiener Neustadt gibt es bei der Firma T*** zwischen 30 und 40 Arbeitsplätze für Verpackungsarbeiter, bei der Firma U*** 60 Arbeitsplätze für Abfüllarbeiter, im weiteren Bereich von Wiener Neustadt bei der Firma V*** etwa 20 bis 35 Arbeitsplätze für Presser und Stanzer, im Bereich der Südbahnlinie je genanntem Verweisungsberuf 100 und mehr Arbeitsplätze.
Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Invaliditätspenion im gesetzlichen Ausmaß ab 1.5.1989 gerichtete Klagebegehren ab. Die Klägerin genieße keinen Berufsschutz und sei nicht als invalid anzusehen, weil sie unter Berücksichtigung des medizinischen Leistungskalküls noch auf zahlreiche Erwerbstätigkeiten verwiesen werden könne. Der Umstand, daß sie ein- oder zweimal eine Begleitperson zum Arbeitsplatz benötige, schließe sie noch nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus. Es könne von nahen Angehörigen verlangt werden, daß diese die Klägerin ein- oder zweimal zum Arbeitsplatz begleiten und ihr den Weg erklären.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es billigte die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes, daß die Klägerin nicht als invalid im Sinne des § 255 Abs 3 ASVG anzusehen sei. Die Anzahl der festgestellten und der Klägerin zumutbaren Arbeitsplätze sei für die Annahme eines entsprechenden Arbeitsmarktes ausreichend. Der Wohnsitz der Klägerin sei von den medizinischen Sachverständigen berücksichtigt worden, sodaß ihr Einwand, sie wohne am Rande von Wiener Neustadt und müsse aus diesem Grund mit dem Autobus zum Bahnhof fahren, ins Leere gehe.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen dieses Urteil von der Klägerin erhobene Revision ist nicht berechtigt.
Die Klägerin wiederholt unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung ihren Standpunkt, daß ihr als grenzdebiler taubstummer Person ein "Auspendeln" bis zum Stadtrand von Wien nicht zumutbar sei. Wenn die Sachverständigen selbst einräumten, daß der Klägerin ein mehrmaliges Umsteigen unzumutbar sei, so blieben deren Gutachten so lange unschlüssig, als nicht Arbeitsplätze aufgezeigt würden, die ohne mehrmaliges Umsteigen erreicht werden könnten. Selbst Menschen mit gesundem Verstand hätten Schwierigkeiten, die komplizierten Fahrpläne mit ihren Hinweiszeichen und Symbolen zu erfassen. Von einem grenzdebilen Menschen zu verlangen, daß er vor Betreten des Bahnhofes jeweils den Fahrplan studieren um zu erkennen, ob der Zug von einem anderen Bahnsteig abfahre, ob man in verschiedene Waggons nicht einsteigen dürfe, ob bedingt durch Baustellen der Zug gewechselt werden müsse usw., gehe zu weit. Diese Argumente sind nicht zielführend. Die von der Klägerin geltend gemachten Einschränkungen ihrer Fähigkeit, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen und damit den Arbeitsplatz zu erreichen, gehen nach ihren Ausführungen auf ihre Taubstummheit und Grenzdebilität zurück. Diese bei der Klägerin zweifellos vorhandenen Gebrechen sind auf eine Hirnschädigung in frühester Kindheit zurückzuführen. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit - sowohl nach § 255 wie auch nach § 273 ASVG - setzt voraus, daß sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn seiner Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat (SSV-NF 1/33, 1/67; vgl auch SSV-NF 2/87 = JBl 1989, 334). Es ist daher ausschlaggebend, ob die Klägerin ursprünglich arbeitsfähig gewesen ist, ihre Arbeitsfähigkeit jedoch durch eine nach Eintritt in das Berufsleben eingetretene Verschlechterung beeinträchtigt worden ("herabgesunken") ist. Da die Taubstummheit und die Grenzdebilität der Klägerin nicht erst während ihres Berufslebens aufgetreten sind, sondern schon von Kindheit an gegeben waren, hat sich insoweit ihr körperlicher und geistiger Zustand nicht verändert. Wenn etwa ein Versicherter, der im Sinne der Rechtsprechung (SSV-NF 2/105 ua) vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre, weil er weder eine noch so geringe Wegstrecke zu Fuß zurücklegen, noch ohne fremde Hilfe ein öffentliches Verkehrsmittel benützen kann, dennoch eine Berufstätigkeit ausübt (was bei zahlreichen Körperbehinderten wie etwa auch Rollstuhlfahrern der Fall ist), dann muß, wie der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen hat (24.4.1990, 10 Ob S 26/90 = SSV-NF 4/60 - in Druck) diese unverändert bestehende Unfähigkeit bei Prüfung des Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit außer Betracht bleiben. Andernfalls hätte es nämlich ein Versicherter in der Hand, seine Invalidität im Sinne des § 255 ASVG oder Berufsunfähigkeit im Sinne des § 273 ASVG bloß durch die Aufgabe seines bisherigen Arbeitsplatzes selbst herbeizuführen. Wer trotz bestehender Behinderung, die ihn an sich vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließen würde, Versicherungszeiten erwirbt und damit die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen für eine Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension erfüllt, kann sich andererseits nach Erreichung dieser Voraussetzungen nicht darauf berufen, daß er - ohne Änderung seines körperlichen oder geistigen Zustandes - wegen dieser Behinderung nunmehr invalid oder berufsunfähig sei. Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter im wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann daher, wie der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen hat (SSV-NF 1/67, 4/60 - in Druck), nicht zum Eintritt des Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit führen. Geht man von diesen Grundsätzen aus, dann sind die Revisionsausführungen irrelevant. Sie versuchen unter Hinweis auf die Grenzdebilität und Taubheit der Klägerin darzulegen, daß sie wegen dieser Gebrechen einen Arbeitsplatz nicht erreichen könne. Selbst wenn dies so wäre, würde daraus deshalb nicht Invalidität folgen, weil die Klägerin diesen im wesentlichen unveränderten körperlichen und geistigen Zustand in ihr Versicherungsverhältnis mitgebracht hat. Daß die ausgemittelten Verweisungstätigkeiten im übrigen zumutbar sind, wird in der Revision gar nicht bestritten. Damit haben die Vorinstanzen aber schon deshalb mit Recht das Vorliegen einer Invalidität im Sinne des § 255 Abs 3 ASVG verneint, ohne daß geprüft werden muß, ob der Klägerin die Fahrt zum Arbeitsplatz an sich zumutbar wäre.
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.
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