European Case Law Identifier: AT:OGH:2014:E108060
Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Dem Angeklagten fallen die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Daniel S***** der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (1./) und der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB (2./) schuldig erkannt.
Danach hat er zwischen 4. Dezember 2006 und 7. Juni 2010 in N***** und B***** in zahlreichen Angriffen
1./ mit dem am 23. Februar 1998 geborenen Angelo D*****, somit einer im Tatzeitraum unmündigen Person, dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, indem er ihn am ganzen Körper und im Genitalbereich berührte, bis dieser eine Erektion bekam und er daraufhin dessen Penis in seinen Mund nahm und indem er zweimal den Oralverkehr an sich vom Genannten vornehmen ließ;
2./ durch die unter Punkt 1./ geschilderten Taten mit dem Genannten, somit einer minderjährigen Person, die seiner Aufsicht unterstand, unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber dieser Person geschlechtliche Handlungen vorgenommen.
Rechtliche Beurteilung
Dagegen richtet sich die auf Z 4, 5 und 5a des § 281 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten. Sie verfehlt ihr Ziel.
Durch die Abweisung des in der Hauptverhandlung gestellten Antrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens aus dem Fachbereich der Aussagepsychologie über die Glaubhaftigkeit der Aussagen des Angelo D***** und des Angeklagten sowie eines psychiatrischen Gutachtens über Aussagefähigkeit und Aussagetüchtigkeit der Genannten (ON 49 S 20 ff) wurden Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht geschmälert. Einerseits wurde im Beweisantrag nicht dargetan, dass der Zeuge bzw sein gesetzlicher Vertreter die erforderliche Zustimmung zur Exploration erteilt hätten oder erteilen würden (RIS‑Justiz RS0097584, RS0118956, RS0108614). Dass die Erstellung eines aussagepsychologischen Gutachtens auch ohne Zustimmung des Zeugen erfolgen könnte, weil eine Untersuchung nicht erforderlich wäre, sondern ein Sachverständiger auch bloß die vorliegenden Aussagen beurteilen könnte, wird lediglich unter Hinweis auf eine bloße Behauptung eines Privatgutachters (ON 48 S 69) vorgebracht. Die Mitwirkung des zu Begutachtenden an der Befundaufnahme ist aber unumgänglich. Der Zweck eines Gutachtens über die Aussageehrlichkeit einer Person liegt nämlich darin, seelisch‑geistige Vorgänge darzustellen und zu bewerten, die das Gericht mangels hinreichenden psychologischen Fachwissens nicht beurteilen kann (vgl § 126 Abs 1 StPO). Es geht also nicht um die abstrakte Plausibilität einer Aussage, sondern um deren psychologische Hintergründe, die ohne unmittelbare Befragung der betreffenden Person nicht herausgearbeitet werden können (13 Os 59/10s). Andererseits übersieht der Nichtigkeitswerber, dass die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Angeklagten oder eines Zeugen dem Schöffengericht zukommt. Hilfestellung durch einen Sachverständigen kommt nur in Ausnahmefällen, etwa bei Entwicklungsstörungen oder geistigen Defekten unmündiger oder jugendlicher Zeugen in Betracht (RIS‑Justiz RS0097364 [T6], RS0097733, RS0120634; Hinterhofer, WK‑StPO § 126 Rz 8; Lendl, WK‑StPO § 258 Rz 23; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 350). Umstände, die bloß für oder gegen die Glaubwürdigkeit oder Verlässlichkeit eines Vernommenen im gegebenen Anlassfall sprechen, unterliegen ausschließlich der Beweiswürdigung durch das Gericht (RIS‑Justiz RS0097364 [T2]; Hinterhofer, WK‑StPO § 126 Rz 9). Der vorliegende Beweisantrag ließ aber eine tragfähige Begründung dafür vermissen, warum beim Angeklagten oder beim Zeugen D***** eine solche Störung vorliegen sollte.
Entgegen dem weiteren Vorbringen der Verfahrensrüge (Z 4) bestand auch kein Anlass, die vom Verteidiger in der Hauptverhandlung vorgelegten Privatgutachten der Sachverständigen Mag. Herbert M***** und Dr. Peter P***** zum Akt zu nehmen und zu verlesen (ON 49 S 19 f). Privatgutachten dienen allein der persönlichen Information der Parteien und ihrer Vertreter und haben keinen Anspruch auf prozessuale Beachtung. Sie fallen weder unter Abs 1 noch unter Abs 2 des § 252 StPO und sind deshalb in der Hauptverhandlung nicht zu verlesen (RIS‑Justiz RS0115646; Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 40). Das gilt auch für den Befund eines Privatsachverständigen.
Mit dem Vorbringen der Mängelrüge (Z 5), die Aussage des Angelo D***** wäre „in weiten Teilen oberflächlich und relativ allgemein bzw pauschal gehalten“, seine Schilderungen zeigten „wenig Detailreichtum sowie sachverhaltstypische Details“, die Handlungsabläufe würden „teils unzulänglich präzisiert bzw ließen Realitätszweifel zu“, es sei nicht nachvollziehbar, dass das Opfer eine als eklig erlebte Handlung am nächsten Tag wiederhole, der Zeuge habe in seiner kontradiktorischen Vernehmung Fragen wiederholt mit „ich glaube“ beantwortet und Detailergänzungen zum Beispiel zu den konkret durchgeführten Bewegungen beim Oralverkehr erst nach Vorgabe durch die befragende Richterin vorgenommen, wird nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren unzulässigen Schuldberufung die den Tatrichtern vorbehaltene Beweiswürdigung bekämpft, ohne Nichtigkeit aufzuzeigen.
Ob es in der Familie des Angeklagten üblich ist, sich auf den Mund zu küssen, ist weder entscheidend noch erheblich (vgl zu den Begriffen Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 399 und 409), weshalb sich das Erstgericht mit der diesbezüglichen Verantwortung des Angeklagten auch nicht auseinanderzusetzen hatte.
Die leugnende Verantwortung des Angeklagten, wonach das zugestandene Kraulen des Angelo D***** und das Kuscheln mit diesem keinen sexuellen Hintergrund hatte, wurde vom Erstgericht entgegen dem Vorwurf der Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) durchaus berücksichtigt (US 5).
Ob der Angeklagte auch den Zeugen Andre T***** „am Hintern gestreichelt und angegriffen“ hat, ist weder entscheidend noch erheblich. Im Übrigen wurde die diesbezügliche Aussage des Angelo D***** von Andre T***** bei seiner kontradiktorischen Vernehmung keineswegs „gänzlich zurückgewiesen“. Vielmehr schilderte der Zeuge Berührungen seines Beckenbereichs durch den Angeklagten (ON 14 S 8). Wenn nun der Nichtigkeitswerber ausführt, es habe sich dabei bloß um „einen freundschaftlichen Klaps auf das Becken“ gehandelt, interpretiert er lediglich eigenständig ein vorliegendes Beweisergebnis, ohne Aktenwidrigkeit (Z 5 letzter Fall) aufzuzeigen.
Ob der Angeklagte Andre T***** am Rücken kraulte und dieser das mochte sowie ob zwischen T***** und D***** für diesen Fall der Ausruf eines „Geheimwortes“ ausgemacht war, betrifft wiederum keine entscheidungswesentliche Tatsache.
Gegenstand einer Zeugenaussage sind nur sinnliche Wahrnehmungen des Zeugen über Tatsachen; die Wiedergabe des subjektiven Eindrucks eines Zeugen fällt nicht in den Rahmen seines gerichtlichen Zeugnisses (RIS‑Justiz RS0097545). Demgemäß waren die Angaben der Eltern des Angeklagten, ob sie das Naheverhältnis zwischen Angelo D***** und dem Angeklagten als ungewöhnlich empfunden hatten, nicht erörterungspflichtig.
Ob die als Zeugin vernommene damalige Freundin des Angeklagten angegeben hatte, bloß einmal oder mehrmals in seiner Wohnung auf der Couch geschlafen zu haben, während der Angeklagte wollte, dass Angelo D***** bei ihm nächtigte, ist wiederum weder entscheidend noch erheblich.
Indem die Nichtigkeitsbeschwerde ausführt, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die am Computer des Angeklagten eingegebenen Suchbegriffe, welche das Erstgericht als Indiz für die „sexuellen Bedürfnisse“ des Angeklagten ansah (US 7), von einer anderen Person eingegeben wurden, spricht sie keine Anfechtungskategorie der Mängelrüge an. Sollte der Nichtigkeitswerber mit seinem diesbezüglichen Vorbringen eine offenbar unzureichende Begründung (Z 5 vierter Fall) aufzeigen wollen, so ist ihm zu erwidern, dass eine derartige Behauptung stets sämtliche beweiswürdigenden Erwägungen der Tatrichter in Ansehung der bekämpften Feststellung berücksichtigen muss, widrigenfalls sie ihren gesetzlichen Bezugspunkt verfehlt (RIS‑Justiz RS0119370).
Mit dem Vorbringen, die Aussagen des Zeugen Angelo D***** wären nicht glaubwürdig, wird neuerlich die dem Schöffengericht vorbehaltene Beweiswürdigung bekämpft, ohne Nichtigkeit aufzuzeigen. Der zur Überzeugung der Tatrichter von der Glaubwürdigkeit eines Zeugen aufgrund des von diesem gewonnenen persönlichen Eindrucks führende kritisch‑psychologische Vorgang als solcher ist der Anfechtung mit Mängelrüge entzogen (RIS‑Justiz RS0106588). Indem der Nichtigkeitswerber darauf hinweist (Z 5 zweiter Fall), Angelo D***** hätte gegenüber seiner Lehrerin einmal betreffend einen sexuellen Kontakt mit einem Mitschüler die Unwahrheit gesagt und dies zugestanden, ist ihm neuerlich zu entgegnen, dass er es verabsäumt, die Gesamtheit der Entscheidungsgründe in den Blick zu nehmen.
Inwiefern die Aussagen von zwei Zeuginnen erörterungspflichtig sein sollten, wonach Angelo D***** ihnen mitgeteilt habe, in B***** von einem Mann vergewaltigt und anschließend bedroht worden zu sein, während der Angeklagte nie in B***** gewohnt habe und Angelo D***** auch nie behauptet habe, von diesem bedroht worden zu sein, bleibt offen.
Ob der Zeuge Andre T***** Angelo D***** für glaubwürdig hielt, war nach dem bisher Gesagten nicht erörterungspflichtig, handelte es sich dabei doch um eine bloße Einschätzung des Zeugen.
Z 5a will als Tatsachenrüge nur geradezu unerträgliche Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen (das sind schuld‑ oder subsumtionserhebliche Tatumstände, nicht aber im Urteil geschilderte Begleitumstände oder im Rahmen der Beweiswürdigung angestellte Erwägungen) und völlig lebensfremde Ergebnisse der Beweiswürdigung durch konkreten Verweis auf aktenkundige Beweismittel (bei gleichzeitiger Bedachtnahme auf die Gesamtheit der tatrichterlichen Beweiswerterwägungen) verhindern. Tatsachenrügen, die außerhalb solcher Sonderfälle auf eine Überprüfung der Beweiswürdigung abzielen, beantwortet der Oberste Gerichtshof ohne eingehende eigene Erwägungen, um über den Umfang seiner Eingriffsbefugnisse keine Missverständnisse aufkommen zu lassen (RIS‑Justiz RS0118780). Indem der Nichtigkeitswerber ausführt, das Erstgericht stütze sich ausschließlich auf die Aussage des Zeugen Angelo D***** und „ansonsten Schlussfolgerungen aus der zugegebenermaßen merkwürdig erscheinenden Vater‑Sohn‑Beziehung“, während „zahlreiche“ Zeugen „nichts Komisches“ an der Beziehung gefunden hätten, verlässt die Nichtigkeitsbeschwerde den Anfechtungsrahmen des angesprochenen Nichtigkeitsgrundes.
Der „Zweifelsgrundsatz“ (in dubio pro reo) kann niemals Gegenstand der formellen Nichtigkeitsgründe der Z 5 und Z 5a des § 281 Abs 1 StPO sein (RIS‑Justiz RS0102162).
Die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten war daher zu verwerfen.
Das Erstgericht verhängte über den Angeklagten nach § 206 Abs 1 StGB unter Anwendung des § 28 Abs 1 StGB eine Freiheitsstrafe von drei Jahren, wobei es gemäß § 43a Abs 4 StGB einen Teil der Freiheitsstrafe von zwei Jahren unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachsah.
Erschwerend wertete es dabei den langen Deliktszeitraum und das Zusammentreffen mehrerer Verbrechen und Vergehen, mildernd hingegen die Unbescholtenheit des Angeklagten, das längere Zurückliegen der Taten sowie den Umstand, dass der Angeklagte „Erziehungsdefizite der Eltern von Angelo D***** zum Teil wettmachte“ und „in Zuneigung und Liebe zu dem Buben verbunden war“.
Ausgehend von einem Strafrahmen von einem Jahr bis zu zehn Jahren hat das Erstgericht im Ergebnis (wenngleich die beiden letztgenannten Umstände zu Unrecht mildernd gewertet wurden) eine tat‑ und schuldangemessene Sanktion verhängt, welche entgegen dem auf eine stärkere Berücksichtigung der Milderungsgründe dringenden Berufungsvorbringen keiner Korrektur bedarf. Von einem beträchtlichen Überwiegen der Milderungsgründe im Sinn des § 41 StGB kann entgegen dem diesbezüglichen Vorbringen des Angeklagten nicht die Rede sein. Der gegen den Strafausspruch erhobenen Berufung kommt somit keine Berechtigung zu.
Gemäß § 369 Abs 1 StPO wurde der Angeklagte verpflichtet, dem Privatbeteiligten Angelo D***** 3.000 Euro zu bezahlen. Auch der dagegen erhobenen Berufung kommt keine Berechtigung zu. Der Rechtsmittelwerber führt lediglich aus, Angelo D***** habe sich nicht in ärztliche Behandlung begeben, sodass davon auszugehen wäre, dass er keine Gesundheitsschädigungen im medizinischen Sinn erlitten habe, deshalb wäre ihm kein Schmerzengeld zuzusprechen bzw wäre der Schmerzengeldzuspruch überhöht. Damit verkennt er, dass es für einen Entschädigungsanspruch nach § 1328 ABGB auf das Vorliegen einer Körperverletzung im Sinn des § 1325 ABGB gar nicht ankommt. Der Zuspruch von 3.000 Euro ‑ global zu bemessendem (RIS‑Justiz RS0111431, RS0108277) ‑ Schadenersatz ist im Hinblick auf den langen Deliktszeitraum auch keinesfalls überhöht. Bei der Ermittlung der Höhe zu leistenden Entschädigung kann nach herrschender Rechtsprechung durchaus im Sinn des § 273 ZPO auf eine ‑ wie hier vom Erstgericht zutreffend vorgenommene ‑ Schätzung zurückgegriffen werden (vgl RIS‑Justiz RS0031614).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
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