OGH 10ObS71/12g

OGH10ObS71/12g5.6.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Zeitler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei D*****, vertreten durch GKP Gabl Kogler Papesch Leitner Rechtsanwälte OG in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeits-pension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. März 2012, GZ 12 Rs 130/11s-28, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1. Einem Pensionswerber, dem infolge seines Gesundheitszustands zwar nicht mehr der gesamte österreichische Arbeitsmarkt offen steht, wohl aber ein regionaler Arbeitsmarkt, müssen auf dem von ihm erreichbaren Teilarbeitsmarkt zwar nicht mindestens hundert für ihn geeignete Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, sondern es genügt, wenn es in der betreffenden Region für die dem Versicherten zumutbaren Verweisungstätigkeiten eine solche Zahl von offenen oder besetzten Stellen gibt, die die Annahme rechtfertigen, dass ein Arbeitsfähiger und Arbeitswilliger einen solchen Arbeitsplatz auch erlangen kann (RIS-Justiz RS0084415). Die Revisionswerberin vermeint nun, es stelle eine über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO dar, ob letztere Voraussetzung erfüllt ist, wenn 31-39 Arbeitsplätze auf dem regionalen Arbeitsmarkt vorhanden sind.

Dabei übersieht die Revisionswerberin aber, dass die Lage des Wohnortes und die Anzahl der am regionalen Arbeitsmarkt offen stehenden Stellen für die Frage der Berufsunfähigkeit nur dann eine Bedeutung haben, wenn dem Versicherten die Verlegung des Wohnsitzes aus medizinischen Gründen verwehrt ist. Steht aber - wie bei der Klägerin - ein aus medizinischen Gründen gegebener Ausschluss von Wochenpendeln oder auch der Verlegung des Wohnsitzes nicht fest, kommt es auf die im gesamten Bundesgebiet vorhandenen Arbeitsplätze an. In diesem Fall ist die Anzahl der am regionalen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze nicht entscheidungsrelevant (10 ObS 81/91, SSV-NF 5/38 mwN), sodass sich die in der Revision als erheblich erachtete Rechtsfrage nicht stellt. Dass bundesweit mindestens 100 Arbeitsplätze für die jeweiligen Verweisungstätigkeiten vorhanden sind, zieht die Revisionswerberin nämlich gar nicht in Zweifel (vgl RIS-Justiz RS0084568 ua). Schon aus diesem Grund ist auch die behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens zu verneinen, die darin liegen soll, dass das Berufungsgericht ohne Beweiswiederholung von den Feststellungen des Erstgerichts zur Anzahl der am regionalen Arbeitsmarkt in jedem der der Klägerin zumutbaren Verweisungsberufe offen stehenden Arbeitsplätze abgewichen sein soll.

2. Es steht fest, dass die Klägerin die - von den Vorinstanzen im einzelnen genannten -Verweisungstätigkeiten nur im Ausmaß von 30 Arbeitsstunden pro Woche bei Einhaltung einer 5-Tage Arbeitswoche verrichten kann und ihr bei einem 6 Stunden-Arbeitstag Bildschirmarbeiten im Ausmaß von nur drei Stunden möglich sind. Wenn die Revisionswerberin dennoch behauptet, die Feststellung zum zeitlichen Ausmaß der (durchgehend) möglichen Bildschirmarbeiten beziehe sich auf einen „Vollarbeitsplatz“ (iS eines 8-Stunden Arbeitstags), geht sie nicht von den getroffenen Feststellungen aus. Insoweit ist die Rechtsrüge nicht gesetzmäßig ausgeführt (RIS-Justiz RS0043312).

3. Letztlich vermeint die Revisionswerberin, es sei unter dem Aspekt des Gleichheitsgrundsatzes verfassungswidrig, dass sie als Angestellte nicht in den Genuss der sogenannten „Härtefallregelung“ (§ 255 Abs 3a und 3b ASVG) gelange, obwohl bei ihr der Berufsschutz nur „in sehr geringem Umfang greife“ und sie nur mehr auf „einfache“ Berufstätigkeiten (wie zB Informationstätigkeiten in Kaufhäusern und Tätigkeiten in einer Briefpoststelle bzw Poststelle) verweisbar sei.

3.1. Vorerst ist klarzustellen, dass die Klägerin Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG genießt und es sich bei den ihr als zumutbar erachteten Verweisungstätigkeiten um Angestelltentätigkeiten handelt. Genießt ein Angestellter Berufsschutz, ist nach ständiger Rechtsprechung eine Verweisung auf ungelernte Arbeitertätigkeiten - damit auch auf Tätigkeiten mit „geringstem Anforderungsprofil“ iSd § 255 Abs 3a Z 4 ASVG - unzulässig, weil der Versicherte nicht auf Tätigkeiten verwiesen werden darf, durch deren Ausübung der Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG verloren gehen würde (Sonntag in Sonntag, ASVG² § 273 Rz 14 und 18 mwN).

3.2. Mit § 273 Abs 2 ASVG wurde die mit dem BudgetbegleitG 2011 BGBl I 2010/111 geschaffene sogenannte „Härtefallregelung“ (§ 255 Abs 3a und 3b ASVG) auch für Angestellte eingeführt. Nach der erklärten Absicht des Gesetzgebers handelt es sich bei der „Härtefallregelung“ um einen speziellen Verweisungsschutz für ungelernte ArbeitnehmerInnen. Dies zeigt sich darin, dass § 255 Abs 3a ASVG unter anderem nur dann zur Anwendung kommt, wenn die versicherte Person nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG tätig war und daher keinen Berufsschutz genießt. Die Frage einer „entsprechenden Geltung“ für Angestellte (§ 273 Abs 2 ASVG idF BGBl I 2010/111 bzw Abs 3 idF BGBl I 2011/122) des § 255 Abs 3a und 3b ASVG kann sich also dann nicht stellen, wenn eine versicherte Person Berufsschutz genießt (RIS-Justiz RS0127651, 10 ObS 173/11f). Nur dann, wenn bei einem Angestellten die Voraussetzungen für den Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG nicht vorliegen (§ 273 Abs 2 ASVG idF BGBl I 2011/122), kann auch bei Angestellten die Verweisungsbeschränkung des § 255 Abs 3a, 3b ASVG bedeutsam werden (RIS-Justiz RS0127651). Die Anwendbarkeit der Härtefallregelung hängt bei Angestellten demnach davon ab, ob diesen Berufsschutz zukommt, oder nicht.

3.3. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ist im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz eine Differenzierung sachlich begründet, wenn sie nach objektiven Unterscheidungsmerkmalen (aus Unterschieden im Tatsächlichen) erfolgt (VfSlg 4392 ua). Wesentliche Unterschiede im Tatsachenbereich müssen zu entsprechenden unterschiedlichen Regelungen führen (RIS-Justiz RS0053959; VfSlg. 8806). Nur unterschiedliche Regelungen, die nicht in entsprechenden Unterschieden im Tatsächlichen eine Grundlage haben, sind gleichheitswidrig (VfSlg. 8600 ua), wobei unter der Sachlichkeit einer Regelung nicht eine „Zweckmäßigkeit“ oder „Gerechtigkeit“ zu verstehen ist (RIS-Justiz RS0053959 [T1]; VfSlg 4711).

3.4. Der Oberste Gerichtshof hat bereits zu § 255 Abs 1 und 3 ASVG ausgesprochen, dass die Differenzierung nach der Art der ausgeübten Tätigkeit zwischen erlernten (angelernten) und ungelernten Berufen nach objektiven Unterscheidungsmerkmalen erfolgt und deshalb gegen die Verfassungsmäßigkeit der Differenzierung in den Anspruchsvoraussetzungen nach § 255 Abs 1 und Abs 3 ASVG keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen (RIS-Justiz RS0054049). Davon ausgehend bestehen unter dem Blickwinkel des Gleichheitsgrundsatzes auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, dass die Anwendbarkeit der „Härtefallregelung“ (§ 255 Abs 3a bzw 3b iVm § 273 Abs 2 ASVG idF BGBl I 2011/122) das Nichtvorliegen von Berufsschutz voraussetzt. Dem einfachen Gesetzgeber ist es nämlich durch den Gleichheitssatz nicht verwehrt, seine jeweiligen rechtspolitischen Vorstellungen im Rahmen vertretbarer Zielsetzungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verwirklichen (RIS-Justiz RS0053959 [T1]). Diese Zielsetzung ging bei Schaffung der „Härtefallregelung“ dahin, für stark leistungseingeschränkte ungelernte ArbeiterInnen und für bestimmte selbstständig Erwerbstätige, nämlich Bäuerinnen und Bauern (RV BlgNR 24. GP 205 f), aber auch für stark leistungseingeschränkte Angestellte ohne Berufsschutz bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die weite Verweisung auf den gesamten Arbeitsmarkt zu einer Verweisung auf ein enges Segment einzuschränken und diesen Menschen einen Zugang zu einer Invaliditäts-, Erwerbsunfähigkeits- oder Berufsunfähigkeitspension zu eröffnen. Die in der jeweiligen Regelung zum Ausdruck kommende rechtspolitische Gestaltungsfreiheit unterliegt - außer bei einem Exzess - nicht der verfassungsrechtlichen Kontrolle; ist - wie hier - kein Exzess erkennbar, ist die Rechtskontrolle nicht zur Beurteilung der Rechtspolitik berufen (RIS-Justiz RS0053889 T[1]).

Die von der Revisionswerberin geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken werden somit nicht geteilt.

4. Da keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt wird, ist die Revision als unzulässig zurückzuweisen.

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