OGH 10ObS81/91

OGH10ObS81/919.4.1992

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Viktor Schlägelbauer (Arbeitgeber) und Rudolf Eichinger (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Aurelia K*, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr. Anton Rosicky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. November 1990, GZ 31 Rs 168/90 -22, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 27. April 1990, GZ 34 Cgs 79/89-19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1991:010OBS00081.91.0409.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 1. 1. 1989 die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, und trug der beklagten Partei eine vorläufige Zahlung von 4.500 S monatlich auf. Es stellte im wesentlichen folgendes fest:

Die 52jährige Klägerin war während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend als Ordinationsgehilfin tätig. Sie ist aufgrund ihres - im einzelnen näher beschriebenen - körperlichen und geistigen Zustands, bei dem die Folgen eines im Jahr 1986 erlittenen Schlaganfalls im Vordergrund stehen, imstande, leichte Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen in der üblichen Arbeitszeit und mit den üblichen Pausen zu verrichten. Mit der linken Hand kann sie nur 5 kg heben und 3 kg tragen und keine ausreichende Mengenleistung sowohl in der Grob- als auch in der Feinhantierung erbringen. Mit der rechten Hand ist ihr das Heben von 10 kg und das Tragen von 5 kg möglich. Die Fingerfertigkeit der linken Hand reicht für gröbere und grobe Manipulationen aus, die Fingerfertigkeit der rechten Hand ist nicht eingeschränkt. Arbeiten in exponierten Lagen, auf Leitern und Gerüsten, unter dauerndem besonderem Zeitdruck und im Akkord sowie Arbeiten, die mit häufigem Treppensteigen, Bücken, Knien und Hocken verbunden oder in gebückter Haltung zu verrichten sind, und schließlich Hand-Über-Kopf-Arbeiten sind ausgeschlossen.

Die Klägerin kann aufgrund ihres Leistungskalküls nur mehr Aufsichtstätigkeiten verrichten. Arbeitsplätze für solche Tätigkeiten, wie für Portiere, Betriebs- und Bauplatzwächter sowie Lagerplatzaufseher, werden in der Regel nur an männliche Arbeitnehmer vergeben. So gibt es etwa in Wien nur zwei weibliche Portiere, die nur zu Aufsichtstätigkeiten und nicht auch zu anderen Arbeiten herangezogen werden. Für weibliche Arbeitnehmer stehen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ausreichend Arbeitsplätze für reine Aufsichtstätigkeiten zur Verfügung. Beim Beruf der Museumsaufseherin sind überdies Hebeleistungen von mehr als 5 kg links und 10 kg rechts und Trageleistung von mehr als 3 kg links und 5 kg rechts erforderlich.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt dahin, daß die Klägerin invalid im Sinn des für sie maßgebenden § 255 Abs 3 ASVG sei. Sie dürfe nämlich auf die Tätigkeit einer Portierin mit Aufsichtsaufgaben, die für sie aufgrund ihres Leistungskalküls allein in Betracht kommen, nicht verwiesen werden, weil es in diesem Beruf nicht genügend Arbeitsplätze für Frauen gebe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge, wobei es sich formell nur mit dem Berufungsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung auseinandersetzte und zur Rechtsrüge darauf hinwies, daß diese "nicht mehr" ausgeführt worden sei.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit dem Antrag, es "aufzuheben" und im Sinn der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern oder die Rechtssache an eine der unteren Instanzen zurückzuverweisen.

Die Klägerin erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

In der Berufung wurde entgegen der Meinung des Berufungsgerichtes als Grund die unrichtige rechtliche Beurteilung der Sache nicht nur benannt, sondern dieser Berufungsgrund auch dem Gesetz gemäß ausgeführt. Die Beurteilung der Frage, ob für eine bestimmte Verweisungstätigkeit Arbeitsplätze in ausreichender Anzahl vorhanden sind, gehört nämlich zur rechtlichen Beurteilung (vgl SSV-NF 2/20, 3/70 ua), weshalb die hiezu in der Berufung gemachten Ausführungen eine Rechtsrüge enthielten. Das Berufungsgericht hat sich mit dieser Rechtsrüge, wenn auch im Rahmen der Erledigung der Beweisrüge, auseinandergesetzt, weil aus seinen Ausführungen insgesamt abzuleiten ist, daß es die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen nicht nur für richtig, sondern auch als für die rechtliche Beurteilung der Sache ausreichend ansah. Dies trifft jedoch nicht zu:

Von den Fällen der Offenkundigkeit abgesehen, muß zur Beurteilung der Frage, ob bei einer bestimmten Verweisungstätigkeit noch von einem Arbeitsmarkt gesprochen werden kann, die Anzahl der Arbeitsplätze, wenn auch nur näherungsweise und der Größenordnung nach, festgestellt werden (SSV-NF 3/70). Hiezu genügt es nicht, wie dies das Erstgericht getan hat, die an einem bestimmten Ort oder in einem einzelnen Bundesland vorhandenen Arbeitsplätze festzustellen. Da die Lage des Wohnortes für die Frage der Invalidität keine Bedeutung hat, wenn dem Versicherten die Verlegung des Wohnsitzes aus medizinischen Gründen nicht verwehrt ist (SSV-NF 1/20, 3/142 ua), kommt es auf die im gesamten Bundesgebiet vorhandenen Arbeitsplätze an. Hiezu fehlen aber Feststellungen des Erstgerichtes, zumal es sich bei der im Rahmen der Tatsachenfeststellungen geäußerten Ansicht, daß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die der Klägerin noch zumutbaren Aufsichtstätigkeiten nicht ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung stünden, in Wahrheit um einen Teil der rechtlichen Beurteilung der Sache handelt.

Entgegen der in der Revision vertretenen Meinung ist für die Beklagte allein daraus, daß der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung vom 18. 9. 1990, 10 ObS 255/90 (= SSV-NF 4/104 - in Druck), die Möglichkeit bejaht hat, eine Versicherte auf die Berufstätigkeit einer Portierin zu verweisen, nichts zu gewinnen. Damals lag nämlich eine Tatsachenfeststellung vor, daß in Österreich je rund 200 Frauen als Portiere oder Aufseher tätig sind. Diese Feststellung kann aber in einem anderen Verfahren nicht ohne weiteres übernommen werden. Solange eine Tatsache nicht aufgrund einer Mehrzahl gleichartiger Entscheidungen als offenkundig anzusehen ist, muß sie in jedem Verfahren von den Tatsacheninstanzen geprüft und aufgrund der von ihnen aufgenommenen Beweise neu festgestellt werden, wobei Vorentscheidungen nur im Rahmen der Würdigung der Beweise zum Tragen kommen können.

Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren Feststellungen über die Anzahl der Arbeitsplätze zu treffen haben, die in Österreich für die der Klägerin noch zumutbaren Aufsichtstätigkeiten vorhanden und mit weiblichen Arbeitnehmern besetzt sind.

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