OGH 10Ob54/08a

OGH10Ob54/08a4.11.2008

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schinko als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen Martin Karl K*****, über den Revisionsrekurs des Minderjährigen, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Amt für Jugend und Familie Rechtsvertretung Bezirk 10, Van-der-Nüll-Gasse 20, 1100 Wien), gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 26. Februar 2008, GZ 42 R 531/07k-U28, womit infolge Rekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 3. Oktober 2007, GZ 2 P 29/07w-U18, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Der „Revisionsrekursantrag" des Bundes, in Abänderung der Rekursentscheidung den Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen abzuweisen, wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Der am 25. 10. 2004 geborene Martin Karl K*****, ist der Sohn von Anna Alicja M***** und Roman Karl K*****. Der Minderjährige und seine Mutter sind polnische Staatsbürger, der Vater ist Österreicher. Das Kind und die Mutter haben ihren Wohnsitz in Wien. Der Vater war von April 2006 bis einschließlich Jänner 2007 in Wiener Neustadt beschäftigt. Ob er danach die Kriterien der Arbeitnehmereigenschaft im Sinn der Verordnung (EWG) 1408/71 (kurz: VO 1408/71 ) erfüllt, oder ob dies für die Mutter zutrifft, steht derzeit noch nicht fest.

Mit rechtskräftigem Beschluss vom 20. 6. 2006 wurde der Vater des Minderjährigen schuldig erkannt, zu dessen Unterhalt monatlich 238 EUR ab dem 1. 8. 2006 zu bezahlen.

Mit Beschluss vom 3. 10. 2007 bewilligte das Erstgericht dem Kind gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG monatliche Unterhaltsvorschüsse von 238 EUR für den Zeitraum von 1. 9. 2007 bis 31. 8. 2010, weil der Unterhaltsschuldner keine freiwilligen Zahlungen leiste und die Führung einer Exekution aussichtslos scheine; es sei kein pfändbares Einkommen vorhanden.

Über Rekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien (der sich darauf berief, dass eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder der Bezug einer Sozialleistung durch einen der beiden Elternteile nicht feststehe), hob das Rekursgericht diesen Beschluss unter Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs gegen den Aufhebungsbeschluss zulässig sei.

Für den Antragsteller als polnischen Staatsbürger sei aus § 2 Abs 1 UVG kein Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen abzuleiten. Anderes könnte sich aus der VO 1408/71 ergeben. Unter der Voraussetzung, dass der Vater die Kriterien der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art 1 lit a sublit i der Verordnung erfülle, könnte sich der Antragsteller auf Art 3 der Verordnung (Verbot jeglicher Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit) berufen. Die Rechtssache sei aber noch nicht entscheidungsreif, weil - mangels Erhebungen zur Arbeitnehmereigenschaft - die erforderlichen Feststellungen zur Beurteilung dieser Frage fehlten. Da der Vater jedenfalls bis 31. 1. 2007 (in Österreich) sozialversichert gemeldet gewesen sei, gebe der Akteninhalt (im Sinn des Untersuchungsgrundsatzes) Anlass zur Klärung der diesbezüglichen Umstände.

Fraglich sei, ob es auch zur Anwendung der Verordnung führe, wenn die obsorgeberechtigte Mutter, mit der das Unterhaltsvorschuss begehrende Kind im gemeinsamen Haushalt lebe, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch mache und aus einem Mitgliedstaat nach Österreich zuwandere, während sich der den Unterhalt schuldende Vater zwar im Inland aufhalte, aber weder ein Arbeitnehmer sei, noch in eine sonst in Art 2 der Verordnung genannte Gruppe falle.

Der Oberste Gerichtshof habe in den Entscheidungen 4 Ob 4/07b und 6 Ob 121/07y ausgesprochen, das Unterhaltsvorschuss begehrende Kind falle nur in seiner Eigenschaft als Angehöriger jenes Elternteils, der den Geldunterhalt schulde, in den Anwendungsbereich der Verordnung, weil das Kind gegenüber dem anderen Elternteil, in dessen Haushalt es lebe, aufgrund von § 2 Abs 1 Z 1 UVG keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss haben könne.

Auszugehen sei davon, dass ein in einem anderen Mitgliedstaat lebendes Kind keinen Anspruch auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse habe, wenn der in Österreich lebende Unterhaltsschuldner hier weder Arbeitnehmer sei noch in eine andere in Art 2 der Verordnung genannte Gruppe falle, und zwar unabhängig davon, ob der Elternteil, bei dem das Kind lebe, in eine der in Art 2 genannte Gruppe falle. Das ergebe sich schon aus den Kollisionsregeln der Art 13 bis 17a der Verordnung, welche grundsätzlich jenen Staat für zuständig erklären, in dem der Arbeitnehmer tätig sei.

Verbleibe der den Unterhalt schuldende Elternteil weiterhin außerhalb der in Art 2 der Verordnung genannten Gruppen, während der andere Elternteil von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch mache und mit dem Kind nach Österreich zuziehe, liege bei rein formaler Betrachtung ein Wanderungstatbestand vor, der zur Anwendung der Verordnung und damit zu einem Anspruch des Kindes auf Gewährung von Unterhaltsvorschuss führe. Dagegen spreche jedoch, dass in diesem Fall die bloße Zuwanderung nach Österreich zu einem Anspruch führe, der davor in dieser Form nicht gegeben gewesen sei. Zweck der Verordnung sei aber jedenfalls, Personen, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausübten, nicht zu benachteiligen; die in der Verordnung genannten Leistungen müssten die gleichen sein, wie wenn das Recht der Freizügigkeit nicht ausgeübt worden wäre (EuGH 9. 11. 2006, C-205/05 , Nemetz, Rz 41; 4 Ob 4/07b). Im Sinne der jüngsten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass ein Kind nur in seiner Eigenschaft als Familienangehöriger des Unterhaltsschuldners in den Geltungsbereich der Verordnung falle (4 Ob 4/07b; 6 Ob 121/07y), werde daher ein Anspruch des Kindes auf Gewährung von Unterhaltsvorschuss „in solchen Konstellationen" zu verneinen sein. Auf die Umstände auf Seiten der Mutter komme es demnach im konkreten Fall nicht an.

Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil es nach Ansicht des Rekursgerichts für die Anwendbarkeit des Art 3 der Verordnung bereits ausreiche, dass das im Inland aufhältige Kind nicht österreichischer Staatsbürger sei und der im Inland aufhältige Vater Arbeitnehmer im Sinne des Art 2 der Verordnung sei (und daher keinen Wanderungstatbestand gesetzt haben müsse), während der Oberste Gerichtshof für die Anwendbarkeit der Verordnung in einer Reihe von Entscheidungen voraussetze, dass der Arbeitnehmer oder der Elternteil, in dessen Haushalt das Kind lebe, ein Wanderarbeitnehmer stricto sensu, also innerhalb der Gemeinschaft zu- oder abgewandert sein müsse (9 Ob 129/06w, 8 Ob 100/06y, 10 Ob 60/03a). Außerdem erscheine ungeklärt, ob allein die Zuwanderung der Mutter mit dem Kind die Anwendung der Verordnung auslöse, wenn zwar die Mutter ihr Recht auf Freizügigkeit ausübe, der Unterhalt schuldende Vater aber zugleich nicht in eine der in Art 2 der Verordnung genannten Gruppen falle, weil die Entscheidungen 4 Ob 4/07b und 6 Ob 121/07y jeweils im Zusammenhang mit den Kollisionsnormen der Verordnung ergangen seien.

Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs des Minderjährigen, vertreten durch den Jugendwohlfahrtsträger, mit dem Antrag auf Wiederherstellung der antragsstattgebenden Entscheidung des Erstgerichts.

In der Revisionsrekursbeantwortung stellt der Bund, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, den „Revisionsrekursantrag", die Rekursentscheidung dahin abzuändern, dass der Antrag auf Gewährung der Unterhaltsvorschüsse abgewiesen werde (zumindest jedoch - in eventu - für den Monat September 2007).

Der Vater hat sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.

In den Rechtsmittelausführungen vertritt der Jugendwohlfahrtsträger die Ansicht, dem Kind könne die „Wanderarbeitnehmereigenschaft" vom Vater oder von der Mutter vermittelt werden; es genüge somit, dass ein Elternteil „Wanderarbeitnehmer" sei, was bei der Mutter tatsächlich der Fall sei.

Dem hält die Revisionsrekursbeantwortung die neuere Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (RIS-Justiz RS0122131; 4 Ob 4/07b), die auch jüngst (26. 2. 2008, 1 Ob 267/07g) aufrecht erhalten wurde, entgegen, wonach der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinn der Verordnung in gemeinschaftskonformer Auslegung österreichischen Rechts (nur) an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners anknüpfe, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe und der den ihm auferlegten Geldunterhalt als Familienlast nicht tragen könne oder wolle. Auch in Österreich lebende Kinder, die - wie der Antragsteller - Staatsbürger anderer EU-Staaten seien, könnten also im Anwendungsbereich der Verordnung einen Anspruch auf österreichische Unterhaltsvorschüsse haben (RIS-Justiz RS0115509), wenn sie zumindest einen Elternteil hätten, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinn der Art 2 Abs 1 iVm Art 1 lit f Z i der Verordnung sei, sodass sie als Familienangehörige in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung fielen (RIS-Justiz RS0116311 [T2] = 9 Ob 157/02g; 4 Ob 4/07b mwN).

Die aufgeworfene Frage, ob der Vater dem Arbeitnehmerbegriff der VO 1408/71 unterliegt (oder ob bereits die Zuwanderung der Mutter mit dem Kind aus einem Mitgliedstaat nach Österreich auch dann zur Anwendung dieser Verordnung führt, wenn der in Österreich lebende Vater weder Arbeitnehmer ist, noch in eine sonst in Art 2 der Verordnung genannte Gruppe fällt), stellt sich jedoch gar nicht; darauf kommt es nämlich, wie der Senat erst jüngst - in der Entscheidung vom 9. 9. 2008, 10 Ob 76/08m, die einen völlig vergleichbaren Fall betraf (Mutter und Tochter: Tschechische Staatsbürger mit Wohnsitz in Österreich; Vater: Österreicher mit Wohnsitz in Österreich und [allenfalls] nicht Wanderarbeitnehmer) - ausgeführt hat, aus folgenden Gründen nicht an:

„2. Anspruch auf Vorschüsse haben nach § 2 Abs 1 Satz 1 UVG 'minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind'.

Im Gefolge des EuGH-Urteils vom 15. März 2001, Rs C-85/99 , Offermanns, Slg 2001, I-2261, hat der Bundesminister für Justiz in einem Erlass vom 20. Juni 2001, JMZ 4.589/358-I 1/2001 (ÖA 2001, 227), darauf hingewiesen, dass die Verordnung (EWG) 1408/71 (Wanderarbeitnehmerverordnung) Vorrang gegenüber der österreichischen Gesetzeslage genieße; § 2 Abs 1 UVG sei daher so zu lesen, als ob anstelle des Begriffs 'österreichische Staatsbürger' der Begriff 'EWR-Bürger' stehen würde. Dies bedeute, dass alle in Österreich wohnenden EWR-Bürger unter den selben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf Unterhaltsvorschuss hätten.

3. Die vom Revisionsrekurswerber aufgeworfene Frage, ob der geldunterhaltspflichtige Vater dem Arbeitnehmerbegriff der Wanderarbeitnehmerverordnung unterliege, stellt sich im vorliegenden Fall gar nicht:

3.1. Art 12 EG verbietet jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Für den Bereich der Sozialrechtskoordinierung wird dieses allgemeine Diskriminierungsverbot durch Art 3 der VO 1408/71 umgesetzt. Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, haben im Geltungsbereich der VO die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staats (Fuchs in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 [2005] 20f). Jede unmittelbare oder mittelbare Vorzugsstellung der Angehörigen des leistungspflichtigen Staates gegenüber den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten wird dadurch unterbunden (Eichenhofer in Oetker/Preis, EAS B1200 Rz 108; Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union2 [2003] Rz 96 ff).

3.2. Nun ist es richtig, dass die Gleichstellungsbestimmung des Art 3 Abs 1 der VO 1408/71 eine Einschränkung auf den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung (Art 2) enthält und damit hinsichtlich der Anspruchsberechtigung auf die Arbeitnehmer- oder Selbständigeneigenschaft nach Art 1 lit a der Verordnung verweist. Allerdings enthält das österreichische UVG keine Bestimmung, die die Anspruchsberechtigung an die Arbeitnehmer- oder Selbständigeneigenschaft des Vaters binden würde. Wenn aufgrund des Wohnsitzes des Vaters (bzw seines möglichen Beschäftigungsortes) im Rahmen der Sozialrechtskoordinierung nur die Anwendung der österreichischen Vorschriften in Betracht kommt - und nicht wie die im Rechtsmittel angeführten Entscheidungen 4 Ob 4/07b und 6 Ob 121/07y auch die Anwendung der Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats -, würde die ebenfalls in Österreich wohnhafte Antragstellerin im Vergleich zu einem Kind in der gleichen Lage, das die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, unmittelbar diskriminiert, würde man ihr den Vorschussanspruch unter Berufung auf § 2 Abs 1 Satz 1 UVG versagen (in diesem Sinn auch Barth, Geltendmachung von Unterhaltsforderungen im EU-Ausland durch den österreichischen Jugendwohlfahrtsträger, ÖA 2004, 4). Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, dass bei einem Kind mit österreichischer Staatsbürgerschaft unter den gegebenen Umständen ein Vorschussanspruch bejaht würde, weil eben die Arbeitnehmer- oder Selbständigeneigenschaft des geldunterhaltspflichtigen Elternteils für den Vorschussanspruch nicht vorausgesetzt wird."

Das Gericht erster Instanz hat den Unterhaltsvorschuss daher zu Recht gewährt (10 Ob 76/08m), weil auch im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte für eine Berufstätigkeit des Vaters im EU-Ausland bestehen. Dem Revisionsrekurs ist daher Folge zu geben und die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.

Verspätet ist hingegen der erst in der Revisionsrekursbeantwortung und damit nach Ablauf der (gemäß § 65 Abs 1 Satz 1 AußStrG) 14-tägigen Rechtsmittelfrist (die am 31. 3. 2008 endete) vom Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien als Vertreter des Bundes gestellte „Revisionsrekursantrag" (Postaufgabe: 15. 4. 2008). Da insoweit auch eine Anwendung der Ausnahmebestimmung des § 46 Abs 3 AußStrG ausscheidet (10 Ob 6/08t mwN), ist dieser Antrag zurückzuweisen.

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