OGH 9Ob157/02g

OGH9Ob157/02g4.9.2002

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Maier als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Spenling, Dr. Hradil, Dr. Hopf und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Marcel F*****, geboren am 9. November 1990, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien als Unterhaltssachwalter, über den Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 17. April 2002, GZ 45 R 228/02s-7, womit der Beschluss des Bezirksgerichtes Hietzing vom 6. März 2002, GZ 10 P 30/02x-2, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichtes mit der Maßgabe wiederhergestellt wird, dass ihm die folgenden Absätze angefügt werden:

"....

Dem Unterhaltsschuldner wird aufgetragen, alle weiteren Unterhaltsbeiträge an das Amt für Jugend und Familie, 12. 13. und 23. Wiener Gemeindebezirk, zu zahlen. Dieses hat als gesetzlicher Vertreter des Kindes die bevorschussten Unterhaltsbeiträge einzutreiben und das Eingebrachte monatlich an den Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien zu überweisen.

Der Unterhaltsschuldner, der gesetzliche Vertreter des Kindes (§ 9 UVG) und derjenige, der das Kind pflegt und erzieht, haben dem Gericht unverzüglich den Eintritt jedes Grundes für die Herabsetzung oder Einstellung der Vorschüsse mitzuteilen (§ 21 UVG); sie werden auf ihre allfällige Ersatzpflicht (§ 22 UVG) aufmerksam gemacht."

Text

Begründung

Der Minderjährige ist - ebenso wie seine Eltern - deutscher Staatsbürger. Er lebt mit seiner (obsorgeberechtigten) Mutter in Österreich. Der Vater, der in Deutschland lebt, ist aufgrund der vor dem Jugendamt Rhein - Neckar - Kreis, 6900 Heidelberg, abgegebenen Unterhaltsverpflichtungserklärung vom 9. 1. 1991 zu monatlichen Unterhaltsbeiträgen in der Höhe von EUR 242,65 bis zum vollendeten 12. Lebensjahr des Minderjährigen und zu solchen in Höhe von EUR 289,45 vom 13. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr verpflichtet. Diese Unterhaltsverpflichtungserklärung wurde vom Erstgericht mit Beschluss vom 4. 12. 2001 für vollstreckbar erklärt.

Nach der Aktenlage sind beide Elternteile selbständig erwerbstätig. Der Minderjährige beantragte am 26.2.2002, vertreten durch die Mutter, die Gewährung monatlicher Unterhaltsvorschüsse nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG in Titelhöhe und berief sich auf die erfolglose Exekutionsführung gegen den Vater in Deutschland.

Über diesen Antrag gewährte das Erstgericht mit Beschluss vom 6. 3. 2002 Unterhaltsvorschüsse nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG, und zwar für den Zeitraum vom 1. 2. 2002 bis 30. 11. 2002 in der Höhe von monatlich Euro 242,65 und im Zeitraum vom 1. 12. 2002 bis 31. 1. 2005 in der Höhe von monatlich Euro 289,45, jedoch höchstens in der Höhe des jeweiligen Richtsatzes für pensionsberechtigte Halbwaisen nach §§ 293 Abs 1 lit c bb erster Fall, 108 f ASVG.

Mit dem angefochtenen Beschluss hob das Rekursgericht diesen Beschluss auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf; es sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei.

Das Rekursgericht vertrat die Rechtsauffassung, dass der Minderjährige aufgrund der Entscheidungen des EuGH vom 15. 3. 2001, C-85/99 (Offermanns), und vom 5. 2. 2002 , C-255/99 (Anna Humer), in Österreich Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse nach dem UVG habe. Die im Rekurs vom Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien geäußerten Bedenken gegen die Leistungsfähigkeit des Vaters iSd § 7 Abs 1 Z 1 UVG bestünden nicht. Der Minderjährige habe aber auch Ansprüche auf Unterhaltsvorschuss in Deutschland und müsse daher - bevor er in Österreich Vorschüsse verlangen könne - in Deutschland versuchen, entsprechende Vorschüsse zu erlangen. Das Erstgericht werde daher im fortgesetzten Verfahren festzustellen haben, ob der Minderjährige in Deutschland (erfolglos) versucht habe, Vorschüsse zu erlangen. Erst bei nachgewiesenem Fehlschlag dieser Bemühungen könnten ihm in Österreich Vorschüsse gewährt werden.

Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil zur Frage, wo der Minderjährige zuerst seine Ansprüche auf Unterhaltsvorschüsse geltend machen müsse, noch keine oberstgerichtliche Judikatur vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Der vom Minderjährigen erhobene Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig; er ist auch berechtigt. Der EuGH hat bereits wiederholt ausgesprochen, dass eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen UVG eine Familienleistung iSd Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (in der Folge: VO 1408/71 ) ist (Urteil vom 15. 3. 2001, Rs C-85/99 - Offermanns; Urteil vom 8. 2. 2002, RS C-255/99 - Anna Humer). Aus diesen Entscheidungen ist ua abzuleiten, dass alle EWR-Bürger mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf eine solche im Recht des Mitgliedsstaates vorgesehene Leistung haben, soweit sie unter den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 fallen (7 Ob 39/02i; Stockart -Bernkopf, Die EU und der österreichische Unterhaltsvorschuss - (un)erwartete Folgen, ÖA 2002, 5; Neumayr, Unterhaltsvorschussrecht nach den EuGH-Entscheidungen; ÖA 2002, derzeit in Druck). Dies gilt für eine Person, die zumindest einen Elternteil hat, der Selbständiger oder tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer iSd Art 2 Abs 1 iVm Art 1 lit a und f der VO 1408/71 ist (EuGH, 8. 2. 2002, Rs C-255/99 - Anna Humer). In diesem Sinne wurde vom Obersten Gerichtshof in einem Fall, in dem sowohl das in Österreich lebende Kind als auch sein in Deutschland lebender Vater deutsche Staatsbürger waren, der Anspruch des Kindes auf Vorschüsse nach dem UVG bejaht, zumal die (in Österreich lebende) Mutter Arbeitnehmerin iSd VO 1408/71 war (4 Ob 117/02p).

Da nach dem Akteninhalt beide Elternteile selbständig erwerbstätig sind und daher die VO 1408/71 zum Tragen kommt, ist der Anspruch des Minderjährigen auf Vorschussgewährung in Österreich zu bejahen. Dies hat grundsätzlich auch das Rekursgericht erkannt, das aber die Rechtsauffassung vertrat, dass eine Vorschussgewährung in Österreich nur im Falle einer erfolglos gebliebenen Antragstellung um Vorschussgewährung in Deutschland in Betracht komme. Diese Rechtsauffassung wird vom Obersten Gerichtshof nicht geteilt. Sie steht mit den in den Art 75 und 76 der VO 1408/71 enthaltenen Koordinierungsregeln nicht in Einklang. Aus diesen (insbesondere aus Art 76 Abs 1) ist nämlich abzuleiten, dass im Falle des Zusammentreffens von Ansprüchen in mehreren Mitgliedsstaaten der Anspruch im Wohnsitzstaat des Kindes vorgeht und die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls geschuldeten Familienleistungen bis zur Höhe des durch die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates des Kindes vorgesehenen Betrages "ausgesetzt werden" (siehe im Detail Neumayr, aaO). Ob der Minderjährige in Deutschland Anspruch auf Vorschüsse hat bzw. ob - wie im Revisionsrekurs behauptet wird - in Deutschland bereits erfolglos Vorschüsse beantragt wurden, braucht daher nicht geprüft zu werden.

Die vom Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien in seinem Rekurs gegen die Gewährung der Vorschüsse durch das Erstgericht vorgebrachten Bedenken iSd § 7 Abs 1 Z 1 UVG hat das Rekursgericht zu Recht verneint.

Nach der zitierten Bestimmung sind Unterhaltsvorschüsse ganz oder teilweise zu versagen, wenn begründete Bedenken bestehen, dass die im Exekutionstitel festgesetzte Unterhaltspflicht (noch) besteht oder, der gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht entsprechend, zu hoch festgesetzt ist. Der Versagungsgrund hat nicht eine erwiesene oder doch bescheinigte materielle Unrichtigkeit der titelmäßigen Unterhaltsansprüche, auf die die Vorschüsse gewährt werden sollen, zur Voraussetzung, sondern knüpft die Rechtsfolge der Versagung (Herabsetzung oder Einstellung) an das Bestehen begründeter Bedenken gegen den aufrechten materiellen Bestand des zu bevorschussenden gesetzlichen Unterhaltsanspruches im titelmäßigen Ausmaß. Bloß objektiv gerechtfertigte Zweifel reichen zur Versagung nicht hin, vielmehr muss schon eine zur Zeit der Schaffung des Exekutionstitels gegebene oder durch Änderung der Unterhaltsbemessungsgrundlage inzwischen eingetretene Unangemessenheit der titelmäßigen Unterhaltsfestsetzung mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Z 1 UVG ist ein strenger Maßstab anzulegen. Eine "non liquet"-Situation in Bezug auf die Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Z 1 UVG geht zu Lasten des vorschussgewährenden Bundes (RIS-Justiz RS0108443; zuletzt 3 Ob 324/98p; 7 Ob 16/00d).

Angesichts dieser Rechtslage reicht aber der vom Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien dazu vorgebrachte Umstand, dass der geschuldete Unterhalt hoch ist und aus der Unterhaltsverpflichtungserklärung die Höhe des damaligen Einkommens des Vaters nicht hervorgeht, zur Annahme begründeter Bedenken iSd § 7 Abs 1 Z 1 UVG nicht aus.

Das Erstgericht hat daher die beantragten Vorschüsse zu Recht gewährt.

Dem vom Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien im Rekurs gegen den erstinstanzlichen Beschluss vorgebrachten Einwand, dass in der erstgerichtlichen Entscheidung Teile des in § 13 Abs 1 UVG für die Vorschussgewährung vorgeschriebenen Beschlussinhaltes fehlen, war dadurch Rechnung zu tragen, dass der Gewährungsbeschluss des Erstgerichtes mit der im Spruch ersichtlichen Maßgabe wiederherzustellen war. Dabei war auch zu berücksichtigen, dass im erstinstanzlichen Beschluss die in § 13 Abs 2 UVG vorgesehenen Hinweise fehlen.

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