OGH 10Ob36/05z

OGH10Ob36/05z12.4.2005

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon. Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der am 15. Dezember 1991 geborenen Christina S***** und der am 17. April 1996 geborenen Nathalie S*****, beide wohnhaft bei der Mutter Brigitte S*****, vertreten durch das Land Oberösterreich (Magistrat der Stadt Wels, Referat für Jugendwohlfahrt) als Jugendwohlfahrtsträger, über den ordentlichen Revisionsrekurs der Kinder gegen den Beschluss des Landesgerichtes Wels als Rekursgericht vom 23. Dezember 2004, GZ 21 R 391/04g, 21 R 392/04b-10, womit infolge Rekurses des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Linz die Beschlüsse des Bezirksgerichtes Wels je vom 21. Oktober 2004, GZ 2 P 108/04g-1 und 2 P 108/04g-2, abgeändert wurden, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Christina S*****, geboren am 15. 12. 1991, und Nathalie S*****, geboren am 17. 4. 1996, sind deutsche Staatsbürgerinnen. Sie wohnen mit ihrer Mutter, der die Obsorge zukommt, in Österreich. Der in der Bundesrepublik Deutschland wohnhafte Vater verpflichtete sich mit zwei am 14. 3. 2002 vor dem Landratsamt A***** abgeschlossenen Vereinbarungen, zum Unterhalt der beiden Kinder ab 1. 1. 2002 monatlich jeweils EUR 228,-- zu leisten.

Am 18,. 10. 2004 beantragten die beiden Kinder unter Berufung auf §§ 3, 4 Z 1 UVG die Gewährung von Titelvorschüssen in Höhe von monatlich EUR 228,-- für den Zeitraum vom 1. 10. 2004 bis 30. 9. 2007. Die Kinder brachten dazu vor, dass die Führung einer Exekution aussichtslos erscheine, weil der Vater (nur) eine monatliche Rente von EUR 623,60 beziehe und für das jeweils weitere Kind sorgepflichtig sei. Per 31. 10. 2004 bestehe ein Unterhaltsrückstand von jeweils EUR 456,-- (je Kind).

Das Erstgericht gewährte den beiden Kindern die beantragten Unterhaltsvorschüsse.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Linz Folge und änderte die angefochtenen Beschlüsse im antragsabweisenden Sinn ab. Die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen setze im vorliegenden Fall voraus, dass zumindest ein Elternteil Selbständiger oder tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer iSd Verordnung (EWG) 1408/71 sei. Die Qualifikation als Arbeitsloser setze den Bezug von Arbeitslosengeld voraus, was aber nicht der Fall sei. Im Verfahren sei auch nicht hervorgekommen, dass Mutter oder Vater derzeit unselbständig oder selbständig tätig wären. Allerdings beziehe der Vater eine Rente wegen Erwerbsminderung, aufgrund derer er auch sozialversichert sei. Nach der weiten Begriffsdefinition des Art 1 lit a der Verordnung (EWG) 1408/71 müsse er deshalb als „Selbständiger" angesehen werden. Da die im Inland lebende Mutter nicht in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung falle, sondern nur der in Deutschland aufhältige Vater, seien Familienleistungen von dem für den Vater zuständigen Träger in der Bundesrepublik Deutschland zu gewähren. Da der „Invaliditätspensionsbezug" des Vaters den Kindern keinen Anspruch auf Familienleistungen gegen den Wohnsitzstaat seiner Familienangehörigen zu verschaffen vermöge, sei die Vorschussanträge abzuweisen.

Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil der Frage, ob ein im Ausland aufhältiger und pflichtversicherter Rentenbezieher als Selbständiger oder Arbeitnehmer (iSd Art 2 Abs 1 iVm Art 1 lit a und f der VO 1408/71 ) im Inland wohnhaften Familienangehörigen nach den hier geltenden Rechtsvorschriften (gemäß § 76 der VO) einen vom Wohnsitzstaat zu deckenden Anspruch vermittle, erhebliche Bedeutung beizumessen sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Minderjährigen mit dem Antrag, die erstinstanzlichen Beschlüsse wiederherzustellen.

Der Bund hat sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Der Revisionsrekurs ist zulässig; er ist jedoch nicht berechtigt.

Im Revisionsrekurs wird darauf hingewiesen, dass als Selbständiger bzw Arbeitnehmer eine Person gilt, wenn sie die Versicherteneigenschaft nach den für die soziale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten besitze bzw „gegen ein oder mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert" sei. Der Vater Wolfgang P***** lebe in Deutschland und beziehe eine Rente wegen Erwerbsminderung, aufgrund dieser sei er auch sozialversichert. Ein im Ausland aufhältiger und pflichtversicherter Rentenbezieher sei als Selbständiger oder Arbeitnehmer im Sinne des Artikel 2 Abs 1 iVm Artikel 1 lit a und f der VO 1408/71 anzusehen. Die in Österreich wohnhaften Familienangehörigen hätten daher nach den hier geltenden Rechtsvorschriften (gemäß Art 76) einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen.

Dem ist aus folgenden Gründen nicht zuzustimmen.

Rechtliche Beurteilung

1. Zwar haben die Kinder nach dem Wortlaut des § 2 Abs 1 UVG keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss nach dem UVG, weil sie zwar im Inland aufhältig sind, aber weder die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen noch staatenlos sind. Nach den Urteilen des EuGH vom 15. 3. 2001, C-85/99 , in der Rechtssache Offermanns (Slg 2001, I-2261), vom 5. 2. 2002, C-255/99 , in der Rechtssache Humer (Slg 2002, I-1205) und vom 20. 1. 2005, C-302/02 in der Rechtssache Effing handelt es sich beim Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen UVG um eine Familienleistung iSd Art 4 Abs 1 lit h der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (in der Folge: VO 1408/71 ). Aus diesen Entscheidungen ist ua abzuleiten, dass alle EWR-Bürger mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf eine solche im Recht des Mitgliedsstaates vorgesehene Leistung haben, soweit sie unter den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 fallen (7 Ob 39/02i = ÖA 2002, 182/UV 190; Stockart-Bernkopf, Die EU und der österreichische Unterhaltsvorschuss - (un)erwartete Folgen, ÖA 2002, 5; Neumayr, Unterhaltsvorschussrecht nach den EuGH-Entscheidungen; ÖA 2002, 53).

2. Die Verordnung garantiert Arbeitnehmern, Selbständigen (9 Ob 157/02g = ÖA 2003, 118/UV 202), Arbeitslosen und Studenten (VO 307/1999 vom 8. 2. 1999) im Bereich der sozialen Sicherheit in einem bestimmten Rahmen die gleiche Behandlung wie inländischen Beschäftigten (s Kirschbaum, ÖA 2003, 243 [244]). Neben der Familienangehörigen-Eigenschaft ist daher in erster Linie entscheidend, ob ein Elternteil des Kindes in eine - in Bezug auf Familienleistungen - von der VO 1408/71 erfasste Gruppe fällt (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77 = ÖA 2002, 232/UV 197; vgl auch EuGH 5. 2. 2002, Rs C-255/99 , Humer, Slg 2002, I-1205). Ist das nicht der Fall, ist nationales Unterhaltsvorschussrecht anzuwenden. Hierin ist der nationale Gesetzgeber grundsätzlich frei zu entscheiden, an welche Tatbestände er die Auszahlung von Unterhaltsvorschüssen knüpft (4 Ob 260/02t = ÖA 2003, 69/UV 200; 10 Ob 60/03a; RIS-Justiz RS0115509 [T9]). Die VO 1408/71 sieht nämlich nicht vor, dass „Inland" und „Ausland" in Bezug auf Sozialleistungen generell gleichgestellt wären (Kirschbaum, Unterhaltssicherung in der EU, ÖA 2003, 243 [245, 247]).

2.1. Der genaue Inhalt der Begriffe „Arbeitnehmer" und „Selbständige" wird durch die VO 1408/71 nicht eigenständig, sondern (in Form der Anknüpfung an die Einbeziehung in die mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit) durch Verweisung auf das Sozialrecht des Mitgliedstaates definiert, das auf den jeweiligen Sachverhalt anzuwenden ist. Hierbei ist aber ein gewisses Vorverständnis notwendig, ob eine Person hypothetisch als der Gruppe der Arbeitnehmer oder der Selbständigen zugehörig erachtet werden kann. Erfüllt die betroffene Person nach dem auf der hypothetischen Grundlage zu bestimmenden Recht die Arbeitnehmer- oder Selbständigen-Eigenschaft, gilt das Recht dieses Staates als anwendbar (Eichenhofer in Fuchs [Hrsg], Kommentar zum Europäischen Sozialrecht3 [2002] 87 f).

2.2. Es gibt keine Hinweise, dass im vorliegenden Fall die Mutter nach den österreichischen Vorschriften in eine von der VO 1408/71 erfasste Gruppe fällt. Im außerstreitigen Verfahren herrscht zwar der Untersuchungsgrundsatz. Dies hat aber keineswegs zur Folge, dass es für die Parteien keine Beweislast gibt. Die subjektive Beweislast, das ist die Verpflichtung der Parteien, den Beweis der für ihren Rechtsstandpunkt günstigen Tatsachen zu erbringen, wird nur durch die Verpflichtung des Gerichtes ergänzt, auch ohne Parteienbehauptungen die zur Entscheidung erforderlichen Tatsachen zu erheben. Wird aber trotz des Untersuchungsgrundsatzes der Beweis für erhebliche Tatsachen nicht erbracht, gelten die allgemeinen Beweislastregeln (SZ 53/54; RIS-Justiz RS0008752). Die Voraussetzungen der Vorschussgewährung fallen in die Beweislast des antragstellenden Kindes (6 Ob 171/03w = ÖA 2004, 327/UV 215).

2.3. Ob der Vater als Bezieher einer Rente in der Bundesrepublik Deutschland als „Arbeitnehmer" oder „Selbständiger" anzusehen ist, bestimmt sich nach den deutschen Vorschriften. Der EuGH hat im Urteil vom 30. 1. 1997, Rs C-4/95 und C-5/95 , Stöber und Piosa Pereira, Slg 1997, I-511, zum Ausdruck gebracht, dass Art 73 der VO 1408/71 für die Zwecke der Gewährung von Familienleistungen nach den deutschen Rechtsvorschriften so auszulegen ist, dass er nur Arbeitnehmer und Selbständige erfasst, die der besonderen Definition gemäß Art 1 lit a sublit ii in Verbindung mit Anhang I Teil I Buchstabe C (nun Buchstabe D.) entsprechen, dh die (als Arbeitnehmer) im Wesentlichen für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert sind oder die (als Selbständige) für den Fall des Alters in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen oder in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert sind. Er hat noch ausgesprochen, dass die weite Auslegung, die in Anbetracht des Zieles der Freizügigkeit dem Begriff des Selbständigen iSd VO 1408/71 gegeben werden muss, nicht so weit gehen darf, dass dies den einschränkenden Bestimmungen des Anhangs I jede praktische Wirksamkeit nehmen würde.

In Deutschland gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit pflichtversichert sind - abgesehen von den hier nicht relevanten Ausweitungen in § 26 SGB III - Personen, die gegen Arbeitsentgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind (§ 25 SGB III). In diese Gruppe fällt der Vater nicht. Als Rentenbezieher ist er auch nicht für den Fall des Alters in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen oder in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert (siehe § 2 SGB VI).

2.4. Es gibt weiters keine Hinweise, dass der Vater als arbeitsloser Arbeitnehmer oder arbeitsloser Selbständiger iSd Art 74 der VO 1408/71 Leistungen bei Arbeitslosigkeit erhält. Der Oberste Gerichtshof hat schon ausgesprochen, dass es für den Anspruch eines Kindes auf Unterhaltsvorschuss nicht genügt, dass ein Elternteil beschäftigungslos ist. Für die Qualifikation eines arbeitslosen Arbeitnehmers im Sinne der VO 1408/71 muss auch feststehen, dass der Elternteil Arbeitslosengeld oder eine sonstige Geldleistung aus der Arbeitslosenversicherung bezieht (1 Ob 289/01h = ÖA 2002, 226/UV 193). Demnach ist beispielsweise auch ein Sozialhilfeempfänger kein "arbeitsloser Arbeitnehmer" iSd VO 1408/71 (6 Ob 171/03w = ÖA 2004, 327/UV 215 = RIS-Justiz RS0115509 [T8]).

3. Zusammengefasst ist es daher nicht richtig (wie aber die Revisionsrekurswerberinnen meinen), dass eine Person, die in einem Mitgliedstaat in das System der Sozialversicherung integriert ist, generell als „Arbeitnehmer oder Selbständiger" zu betrachten wäre, wären doch dann die detaillierten Definitionen dieser Gruppen nicht erforderlich.

Insbesondere ist in diesem Zusammenhang auf den Art 77 der VO 1408/71 hinzuweisen, der auf unterhaltsberechtigte Kinder von Rentnern Bezug nimmt. Auch diese Bestimmung wäre nicht notwendig, wäre ein Rentner von vornherein unter den Begriff des „Arbeitnehmers oder Selbständigen" iSd Art 1 der VO 1408/71 zu subsumieren. Art 77 der VO 1408/71 kann jedoch ebenfalls keine Anspruchsgrundlage für einen Vorschussanspruch in Österreich darstellen, einerseits weil sich ein etwaiger Anspruch auf Familienleistungen nach dem Recht des Staates richtet, der für die Rente zuständig ist (hier: Bundesrepublik Deutschland), andererseits, weil diese Bestimmung nur einen Anspruch auf „Familienbeihilfen" gewährt. Der Begriff ist in Art 1 lit u sublit ii der VO 1408/71 definiert. Danach sind Familienbeihilfen regelmäßige Geldleistungen, die ausschließlich nach Maßgabe der Zahlung und gegebenenfalls des Alters von Familienangehörigen gewährt werden. Dies trifft auf Unterhaltsvorschüsse nach dem österreichischen UVG nicht zu, weil hier weitere Erfordernisse aufgestellt werden.

4. Dem Umstand, dass der EuGH in seiner jüngeren Judikatur aus der Freizügigkeits-VO 1612/68 einen umfassenden Anspruch der Unionsbürger auf Nichtdiskriminierung bei den sozialen Vergünstigungen ableitet (unter diesen Begriff könnten auch Sozialleistungen wie der österreichische Unterhaltsvorschuss fallen; vgl die Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 25. 5. 2004 in der Rs C-302/02 , Effing), kommt im vorliegenden Fall schon deshalb keine Relevanz zu, weil der Vater nicht dem Anwendungsbereich der Freizügigkeits-VO unterliegt.

5. Letztlich kommt es somit auch auf die Prioritätsregeln des Art 76 der VO 1408/71 nicht an, weil schon nach dem österreichischen Vorschussrecht kein Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse besteht.

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