OGH 9ObA223/02p

OGH9ObA223/02p23.4.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Maier als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Spenling und Dr. Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Thomas Keppert und Ulrike Kargl als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Dr. Manfred K*****, Pensionist, *****, vertreten durch Dr. Helge Doczekal, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Wirtschaftskammer Österreich, Wiedner Hauptstraße 63, 1045 Wien, vertreten durch Dr. Bernhard Hainz ua, Rechtsanwälte in Wien, wegen Kündigungsanfechtung (EUR 21.801,85), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3. Juli 2002, GZ 10 Ra 188/02v-20, womit das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 20. Februar 2002, GZ 13 Cga 78/01m-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit EUR 1.189,44 (darin enthalten EUR 198,24 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Rechtliche Beurteilung

Eine wesentliche Aktenwidrigkeit (§ 503 Z 3 ZPO) liegt nicht vor; diese Beurteilung bedarf keiner Begründung (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO). Im Übrigen hat das Berufungsgericht die Sozialwidrigkeit der zurecht als Kündigung qualifizierten Versetzung des im 64. Lebensjahr stehenden Klägers (ON 8, AS 29) in den dauernden Ruhestand (vgl Marhold, RdW 1986, 275; ZAS 1998/13 [Tomandl]; RIS-Justiz RS0030344) zutreffend verneint, sodass auf dessen Begründung verwiesen werden kann (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO). Ergänzend ist den Ausführungen des Revisionswerbers Folgendes entgegenzuhalten:

Soweit der Revisionswerber erstmals behauptet, die Beklagte habe ihm einen Verzicht auf die Anwartschaft der Pragmatisierung "abgenötigt", handelt es sich um eine unzulässige Neuerung (§ 504 Abs 2 ZPO). Die Behauptung, das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien wäre wegen Unzulässigkeit des Verzichts gar nicht kündbar gewesen, steht nicht nur diametral zum Begehren auf Kündigungsanfechtung, das eine nach zivilrechtlichen Grundsätzen rechtsgültige Kündigung des Arbeitgebers voraussetzt (Strasser/Jabornegg, ArbVG³ § 105 Anm 2), sondern auch zum erstinstanzlichen Klagevorbringen. Darin verwahrte sich der Kläger stets dagegen, jemals pragmatisiert gewesen zu sein, sondern berief sich darauf, dass "jederzeitige Kündbarkeit" bestanden habe (ON 8, AS 31).

Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Kündigung sozial ungerechtfertigt ist (§ 105 Abs 3 Z 2 ArbVG), muss vorerst ohne Rücksicht auf andere Anfechtungsvoraussetzungen und ohne Koppelung mit anderen Tatbeständen oder Tatbestandsmerkmalen geprüft werden, ob durch sie wesentliche Interessen des betroffenen Arbeitnehmers beeinträchtigt werden. Für diese Umstände ist der anfechtende Arbeitnehmer behauptungs- und beweispflichtig (Arb 10.755; Arb 10.771; DRdA 1992/53 [Mosler]; RdW 2002/364 mwN; 8 ObA 177/02s; RIS-Justiz RS0051640, RS0051746). Eine solche Beeinträchtigung wesentlicher, Sozialwidrigkeit begründender Interessen konnte der Kläger nicht dartun.

Das Tatbestandsmerkmal der Beeinträchtigung wesentlicher Interessen iSd § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG hat die Funktion, den Kündigungsschutz jenen Arbeitnehmern zu gewähren, die auf ihren Arbeitsplatz zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes angewiesen sind (ARD 4966/3/98; wbl 1999/369). Bei der Untersuchung der Frage, ob durch die Kündigung eine Beeinträchtigung wesentlicher Interessen eintritt, ist die gesamte wirtschaftliche und soziale Lage des Arbeitnehmers einzubeziehen (Karl, Die sozial ungerechtfertigte Kündigung 51; Arb 10.755; wbl 1999/369; RIS-Justiz RS0051741, RS0051806 ua). Eine finanzielle Schlechterstellung allein genügt für die Tatbestandsmäßigkeit nicht; es sei denn, dass sie ein solches Ausmaß erreicht, dass sie eine fühlbare, ins Gewicht fallende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zur Folge hat, ohne dass aber schon eine soziale Notlage oder eine Existenzgefährdung eintreten müsste (Arb 10.755; infas 1992, A 5; wbl 1999/369; RIS-Justiz RS0051753). Gewisse Schwankungen der Einkommenslage muss allerdings jeder Arbeitnehmer im Lauf seines Arbeitslebens hinnehmen (vgl Kuderna, DRdA 1975, 9 [12]; DRdA 1992/53 [Mosler] mwN ua). Dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses den gekündigten Arbeitnehmer nicht mehr an weiteren Gehaltserhöhungen (zB Biennalsprüngen) teilhaben lässt, ist eine Folge der Auflösung, zumal der Gekündigte auch kein Gehalt mehr von seinem Arbeitgeber bezieht. Mit jeder Kündigung können auch gewisse soziale Nachteile für den Arbeitnehmer verbunden sein. Soll ihnen Relevanz zukommen, müssen Umstände vorliegen, die die Kündigung über das normale Maß hinaus für den Arbeitnehmer nachteilig machen (vgl wbl 1999/369; RIS-Justiz RS0051727). Solche Umstände liegen hier jedoch nicht vor. Eine "gesellschaftliche Minderachtung" von Beziehern einer vorzeitiger Alterspension wegen langer Versicherungsdauer nach § 253b ASVG ist entgegen der Annahme des Revisionswerbers nicht notorisch; eine derartige Betrachtung entbehrte auch jeder Grundlage (vgl zur gesellschaftlichen Akzeptanz DRdA 1992/53 [Mosler]; DRdA 1994/20 [Trost]).

Wie die Vorinstanzen richtig erkannten, kommt für den bereits im 64. Lebensjahr stehenden Kläger ein Arbeitsplatzwechsel nicht mehr in Frage. Das Berufungsgericht hat auch richtig erkannt und gewürdigt, dass ältere Arbeitnehmer kraft ausdrücklicher Anordnung des Gesetzgebers besonders geschützt sind und dass bei ihnen nach § 105 Abs 3 vorletzter Satz ArbVG bei der Prüfung der sozialen Rechtfertigung der Kündigung ein besonders strenger Maßstab anzulegen ist (Gahleitner in Cerny/Gahleitner/ Kundtner/Preiss/Schneller, ArbVG Bd 3² § 105 Erl 56; ARD 4966/3/98; RIS-Justiz RS0052008). Diese Regelung begründet jedoch entgegen der Auffassung des Revisionswerbers nicht schon automatisch die Sozialwidrigkeit der Kündigung eines älteren Arbeitnehmers. Es muss vielmehr in jedem Einzelfall geprüft werden, ob der Arbeitnehmer des Kündigungsschutzes bedarf (Karl aaO 50). Wie auch bereits ausgeführt, ist stets die Gesamtsituation des gekündigten Arbeitnehmers zu berücksichtigen. Dabei fällt beim Kläger vor allem ins Gewicht, dass er ab der Versetzung in den dauernden Ruhestand nach der anzuwendenden Pensionsordnung der Beklagten Anspruch auf eine Pensionsleistung der Beklagten in der Höhe von 80 % seines letzten Bruttomonatsbezuges von ATS 105.197,40 sowie Anspruch auf eine (anrechenbare) vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer nach § 253b ASVG hat. Der Kläger ist damit finanziell abgesichert (DRdA 1992/53 [Mosler] unter Berufung auf Tomandl, ZAS 1984, 203 [207 f]; vgl auch DRdA 1997, 406); er ist nicht auf seinen Arbeitsplatz zur Sicherung seines Lebensunterhaltes angewiesen.

Einen gewissen Einkommensverlust nimmt der Gesetzgeber für den Fall der Pensionierung bewusst in Kauf, wobei es nicht nur um die Berücksichtigung jener Ersparnisse geht, die sich durch das Unterbleiben der Arbeitsleistung an sich ergeben, sondern auch um das Äquivalent für den Wegfall der Arbeitsbelastung. Dem Kläger mag zwar ab der Versetzung in den dauernden Ruhestand die bis dahin von der Beklagten bezahlte Prämie für eine Zusatzkrankenversicherung sowie ein nicht pensionsfähiger Zuschlag zum Bezug entgangen sein, andererseits erhielt er aber von der Beklagten eine Abfertigung in der Höhe des Zwölffachen des letzten Monatsbezuges (vgl Beil ./4), deren fruchtbringende Anlage diesen Verlust ausgleichen oder jedenfalls deutlich mildern kann (vgl DRdA 1992/53 [Mosler]). Nach den getroffenen Feststellungen der Tatsacheninstanzen ist sohin davon auszugehen, dass der Kläger unter Einbeziehung seiner gesamten Lebensverhältnisse seine Lebenshaltungskosten auch nach Wegfall des früheren Aktivbezuges aus der Pension decken kann (Karl aaO 51). Zusammenfassend werden sohin durch die gegenständliche Versetzung in den dauernden Ruhestand keine wesentlichen Interessen des Klägers iSd § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG beeinträchtigt. Erst aber, wenn der Grundtatbestand der Sozialwidrigkeit der Kündigung gegeben ist und auch ein Ausnahmetatbestand iSd § 105 Abs 3 Z 2 lit a und b ArbVG vorliegt, treten die Interessen des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers notwendigerweise in eine Wechselwirkung. Liegt schon der Grundtatbestand nicht vor, ist die Kündigung also nicht sozial ungerechtfertigt, kommt es entgegen der Ansicht des Revisionswerbers nicht zu einer Interessenabwägung etwa mit betrieblichen Erfordernissen (Arb 10.771; DRdA 1992/53 [Mosler] ua). Feststellungsmängel liegen daher insoweit nicht vor. Abschließend weist der Revisionswerber richtig darauf hin, dass erklärter Zweck der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf die Bekämpfung der Diskriminierung auch wegen des Alters ist (Art 1), ohne dass allerdings hieraus unmittelbar etwas für seinen Prozessstandpunkt zu gewinnen wäre:

Sieht man davon ab, dass der Kläger in erster Instanz Tatsachen weder geltend noch glaubhaft machte, die das Vorliegen einer Diskriminierung aus dem Grunde des Alters (Art 2 Abs 2) vermuten lassen (Art 10 Abs 1), so wäre auch zu beachten, dass nicht schon jede Ungleichbehandlung wegen des Alters eine verpönte Diskriminierung sein muss, weil Art 6 der Richtlinie eine ganze Reihe von Rechtfertigungsgründen vorsieht, aus denen eine Ungleichbehandlung wegen des Alters gerechtfertigt sein kann (vgl Schmidt/Senne, RdA 2002, 80 [89]; Thüsing, ZfA 2001, 397 [408 ff]; ders, NZA 2001, 1061 [1063 f]; Urlesberger, ZAS 2001, 72 [74]; Weber, AuR 2002, 401 [402 f]; Wiedemann/Thüsing, NZA 2002, 1234 [1237 ff] ua). Da der Kläger in erster Instanz keine Diskriminierung geltend machte, unterblieb auch die Erörterung allfälliger Rechtfertigungsgründe.

Anzumerken ist noch, dass die Richtlinie 2000/78/EG am 2. 12. 2000, dem Tage ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EG (Art 20; ABl Nr L 303), in Kraft trat und an die Mitgliedstaaten gerichtet ist (Art 21). Der Revisionswerber berücksichtigt bei seinen Überlegungen nicht ausreichend, dass diese Richtlinie (sofern nicht von einem Mitgliedstaat hinsichtlich der Diskriminierungsgründe des Alters oder der Behinderung noch eine Zusatzfrist von weiteren drei Jahren in Anspruch genommen wird) erst bis zum 2. 12. 2003 (Art 20) - also bis zu einem mehr als zwei Jahre nach der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses (1. 10. 2001) liegenden Zeitpunkt - durch die Erlassung der erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in das nationale Recht umzusetzen ist. Eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie scheidet aber nach der Rechtsprechung des EuGH aus, solange die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist; diese Wirkung entsteht erst am Ende des festgesetzten Zeitraums (EuGH 5. 4. 1979, Rs 148/78 , Ratti, Slg 1979, 1629; EuGH 3. 3. 1994, Rs C-316/93 , Vaneetveld, Slg 1994, I-763; Streinz aaO Rz 402 ua). Der Mitgliedstaat darf allerdings während der Umsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziels bei Ablauf der Umsetzungsfrist ernstlich in Frage zu stellen (EuGH 18. 12. 1997, Rs C-129/96 , Wallonie ASBL, Slg 1997, I-7411; Hetmeier in Lenz, EG-Vertrag² Art 249 Rz 11; Nettesheim in Grabitz/Hilf, EGV Art 249 Rz 138; Streinz aaO Rz 393c; Thun-Hohenstein/Cede, Europarecht³ 189 ua). Derartiges wird vom Revisionswerber aber ohnehin nicht behauptet. Die Frage der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts stellt sich hier nicht (vgl zum Problem der Auslegung vor/nach Ablauf der Umsetzungsfrist Streinz aaO Rz 393a, 393b ua). Auf den besonderen Kündigungsschutz älterer Arbeitnehmer nach § 105 Abs 3 vorletzter Satz ArbVG wurde im vorliegenden Fall ohnehin Bedacht genommen. Dieser besondere Kündigungsschutz verbietet (indirekt) nicht nur jede Diskriminierung aus dem Grunde des Alters, sondern gebietet gerade bei älteren Arbeitnehmern bei der Prüfung, ob eine Kündigung sozial ungerechtfertigt ist, die besondere Berücksichtigung des Umstands einer vieljährigen ununterbrochenen Beschäftigungszeit im Betrieb sowie die wegen des höheren Lebensalters zu erwartenden Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess (vgl Art 7 Abs 1 der RL ["Positive und spezifische Maßnahmen"]; vgl für das deutsche Recht Leuchten, NZA 2002, 1254 [1259 f]; Schmidt/Senne aaO 88; Wiedemann/Thüsing aaO 1240 ff ua). Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 Abs 1 ZPO.

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