VwGH Ra 2022/21/0048

VwGHRa 2022/21/00486.9.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des M I, vertreten durch die Winkler Reich‑Rohrwig Illedits Wieger Rechtsanwälte‑Partnerschaft in 1010 Wien, Gonzagagasse 14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19. Jänner 2022, L510 2244873‑2/4E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

ARB1/80 Art7
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs4 idF 2015/I/070
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z2 idF 2015/I/070
FrÄG 2018
FrG 1997 §38 Abs1 Z4
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022210048.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der im März 1991 in Wien geborene Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, hält sich ‑ mit Unterbrechungen ‑ seit seiner Geburt rechtmäßig in Österreich auf. Zuletzt wurde ihm der unbefristete Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ erteilt.

2 Der Revisionswerber wurde in Österreich, beginnend mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 12. Jänner 2007, zuletzt mit Urteil dieses Gerichtes vom 25. November 2020, wiederholt rechtskräftig verurteilt.

3 Mit dem im zweiten Rechtsgang ergangenen Bescheid vom 3. Dezember 2021 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber im Hinblick auf seine Straffälligkeit gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung und verband damit gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot. Es stellte unter einem gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei zulässig sei. Gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA‑VG erkannte das BFA einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab und gewährte demnach gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise.

4 Mit dem angefochtenen ‑ ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung ergangenen ‑ Erkenntnis vom 19. Jänner 2022 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die vom Revisionswerber gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

5 Das BVwG stellte fest, der ledige und kinderlose Revisionswerber sei in Österreich geboren und habe überwiegend hier, wo sich auch seine Eltern und ein Bruder aufhielten, gelebt. Die Volksschule habe er vier Jahre lang in der Türkei absolviert. Dort habe er neben einem sechswöchigen Aufenthalt im Jahr 2016 aus Anlass der Hochzeit seines Bruders auch regelmäßig Urlaube verbracht. Er habe kaum Kontakt zu seinen Verwandten in der Türkei. Zwischen 2017 und 2020 sei er nicht gemeldet gewesen, weil er „vor dem Gesetz auf der Flucht“ gewesen sei. Der Revisionswerber beherrsche die deutsche und türkische Sprache in Wort und Schrift, er habe eine in Österreich begonnene Berufsausbildung zum Hotelfachmann aber nicht abgeschlossen. Anschließend sei er bisher nur 99 Tage einer Beschäftigung nachgegangen und habe die restliche Zeit staatliche Unterstützungen bezogen. Er habe bereits zwei Therapien zur Überwindung seiner Suchtmittelabhängigkeit absolviert, sei jedoch wieder rückfällig geworden. Der Revisionswerber sei, wobei das BVwG eine Strafregisterauskunft in seine Entscheidung inkludierte, neunmal rechtskräftig, davon achtmal aufgrund der gleichen schädlichen Neigung im Bereich des Suchtmittelgesetzes (u.a. wegen gewerbsmäßigen Suchtgifthandels) sowie aufgrund strafbarer Handlungen gegen fremdes Vermögen und gegen Leib und Leben (Körperverletzung und schwere Körperverletzung) strafgerichtlich verurteilt worden, zuletzt zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von fünfzehn Monaten; aktuell befinde er sich in Strafhaft. Ergänzend traf das BVwG zum Schuldspruch dieses letzten Urteils noch kursorische Feststellungen und führte die maßgeblichen Strafbemessungsgründe an.

6 Angesichts des bisherigen Fehlverhaltens und des sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbildes des Revisionswerbers sowie des Fehlens einer Phase rezenten Wohlverhaltens stelle sein Aufenthalt, so folgerte das BVwG rechtlich, eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinn des § 52 Abs. 5 FPG dar. Das daraus resultierende große öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung überwiege das Interesse des Revisionswerbers am Verbleib im Bundesgebiet, sodass auch eine Trennung von seinen Familienangehörigen in Kauf zu nehmen sei. Da sein Verhalten den Grundinteressen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit massiv zuwiderlaufe, sei die Erlassung eines Einreiseverbotes erforderlich, dessen vom BFA festgesetzte Dauer sich als angemessen erweise.

7 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Beschwerdeverhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG abgesehen werden können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde hinreichend geklärt erscheine.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

9 Die Revision erweist sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG als zulässig und auch als berechtigt, weil das BVwG ‑ wie in der Revision im Ergebnis zutreffend aufgezeigt wird ‑ von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es keine ausreichenden Feststellungen zu den Straftaten des Revisionswerbers getroffen, seine Aufenthaltsverfestigung nicht genügend berücksichtigt und von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.

10 Das BVwG prüfte die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ verfügenden und auch nach Art. 7 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 aufenthaltsberechtigten Revisionswerber grundsätzlich zutreffend am Maßstab des § 52 Abs. 5 FPG (vgl. dazu VwGH 5.7.2022, Ra 2021/21/0162, Rn. 17, mit dem Hinweis auf VwGH 7.10.2021, Ra 2020/21/0363, Rn. 14/15) und kam dabei zum Ergebnis, die wiederholte Begehung von Suchtmittel‑, Körperverletzungs‑ und Vermögensdelikten rechtfertige die Annahme, der weitere Aufenthalt des Revisionswerbers stelle im Sinne der genannten Bestimmung eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar.

11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist jedoch auch bei einer solchen Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und aufgrund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände diese Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung oder Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. etwa jüngst VwGH 18.8.2022, Ra 2022/21/0044, Rn. 8).

12 Diesem Erfordernis hat das BVwG nicht ausreichend Rechnung getragen. Es hat nämlich neben der bloßen Wiedergabe des Inhalts der Strafregisterauskunft und einer nur allgemeinen und zusammenfassenden Umschreibung der begangenen Delikte konkretere Feststellungen nur zur letzten der neun Straftaten getroffen. Es fehlt somit bei den übrigen acht Verurteilungen die gebotene Auseinandersetzung mit den einzelnen Tathandlungen und den Begleitumständen der Straftaten.

13 Dieser Feststellungsmangel ist auch deshalb relevant, weil die Revision im Ergebnis zutreffend aufzeigt, dass das BVwG im Rahmen seiner Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG darauf hätte Bedacht nehmen müssen, dass der in Österreich geborene Revisionswerber auf Basis der bisher getroffenen Feststellungen von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen sein dürfte, was den Schluss zuließe, dass der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA‑VG erfüllt ist (zum Verständnis der Wendung „von klein auf im Inland aufgewachsen“ siehe grundlegend zur im Wesentlichen inhaltsgleichen Regelung des § 38 Abs. 1 Z 4 FrG 1997 schon das Erkenntnis VwGH 17.9.1998, 96/18/0150).

14 Was die Unterbrechung des Aufenthalts des Revisionswerbers in Österreich anlangt, wurde in der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zwar schon allgemein festgehalten, ein in Österreich geborener Fremder, der sich jedoch danach wieder für längere Zeit ins Ausland begeben hatte, sei von § 9 Abs. 4 Z 2 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 nicht erfasst (siehe etwa aus jüngerer Zeit VwGH 2.3.2022, Ra 2021/20/0458, Rn. 29, mit dem Hinweis auf VwGH 29.5.2018, Ra 2018/21/0067 [Rn. 15]). Allerdings hat der Verwaltungsgerichtshof einem Fremden, der im Alter von rund fünfeinhalb Jahren das Bundesgebiet verlassen hatte und danach während eines Zeitraums von etwa fünf Jahren in der Türkei bei seinen Großeltern lebte und die Volksschule besuchte, zugebilligt, im Sinn dieser Bestimmung „von klein auf im Inland aufgewachsen“ zu sein (siehe dazu des Näheren VwGH 21.9.2000, 2000/18/0136, Punkt II.2. der Entscheidungsgründe, und daran anknüpfend zu ähnlichen Konstellationen VwGH 7.4.2011, 2008/22/0920, sowie VwGH 9.11.2011, 2011/22/0264, Punkt 7.4. der Entscheidungsgründe).

15 Sollten sich im weiteren Verfahren also keine wesentlichen zusätzlichen Auslandsaufenthalte neben der angenommenen vierjährigen Abwesenheit des Revisionswerbers während des Volksschulbesuchs und den erwähnten Urlauben im Heimatstaat ergeben, wird somit vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 auszugehen sein.

16 Die genannte Bestimmung normierte bis zu ihrer Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen bei Vorliegen der erwähnten Voraussetzungen eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden dürfe. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA‑VG im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG insofern weiterhin beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht (vgl. dazu ausführlich aus jüngerer Zeit etwa VwGH 14.2.2022, Ra 2020/21/0200, Rn. 11/12, wo u.a. auch auf entsprechende Judikatur des EGMR Bezug genommen wurde, und daran anschließend VwGH 5.4.2022, Ra 2021/21/0316, Rn. 14, sowie VwGH 23.6.2022, Ro 2021/21/0014, Rn. 19, jeweils mwN).

17 Mit der demnach auch hier maßgeblichen Frage, ob durch den weiteren Aufenthalt des Revisionswerbers eine derart massive Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten vorliegt, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen erlaubt, hat sich das BVwG allerdings in Verkennung der dargestellten Rechtslage nicht auseinandergesetzt. Diese Prüfung wird daher vom BVwG unter weiterer Berücksichtigung, dass die ersten Verurteilungen wegen Jugendstraftaten bzw. Straftaten als junger Erwachsener erfolgten und in Bezug auf die letzte strafgerichtliche Verurteilung nach der Aktenlage ein Strafaufschub nach § 39 SMG gewährt wurde, im fortzusetzenden Verfahren nachzuholen sein.

18 Schließlich kommt nach der in der Revision auch noch erwähnten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auch der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Zwar kann ‑ worauf sich das BVwG gestützt hat ‑ nach § 21 Abs. 7 BFA-VG trotz Vorliegens eines darauf gerichteten Antrages von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann allerdings bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen (positiven) persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. aus der ständigen Judikatur etwa VwGH 7.10.2021, Ra 2020/21/0198, Rn. 9, mwN).

19 Von einem solchen eindeutigen Fall kann vorliegend schon im Hinblick auf die ‑ wie erwähnt ‑ nicht ausreichenden Feststellungen zu den dem Revisionswerber zur Last liegenden Straftaten, aber auch angesichts der langen Aufenthaltsdauer des in Österreich geborenen Revisionswerbers und der Bindung zu seinen hier lebenden Angehörigen nicht ausgegangen werden. Daher hätte das BVwG am Maßstab der vorstehend referierten Judikatur jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchführen müssen (vgl. dazu etwa VwGH 21.12.2021, Ra 2021/21/0085, Rn. 20).

20 Das angefochtene Erkenntnis war somit aus den dargestellten Gründen (vorrangig) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

21 Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.

22 Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 6. September 2022

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