Normen
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs4 idF 2015/I/070
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z1 idF BGBl. I Nr. 70/2015
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z2 idF BGBl. I Nr. 70/2015
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z2 idF 2015/I/070
B-VG Art133 Abs4
FrÄG 2018
FrG 1997 §38 Abs1 Z4
FrPolG 2005 §67 Abs1
FrPolG 2005 §67 Abs2
MRK Art8
NAG 2005 §51 Abs1 Z1
NAG 2005 §51 Abs1 Z2
NAG 2005 §51 Abs1 Z3
VwGG §25a Abs1
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
VwGG §34 Abs1a
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RO2021210014.J00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der 1988 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Kroatiens, reiste im Jahr 1991, also in seinem dritten Lebensjahr, gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern nach Österreich ein. Ihm wurde am 2. April 1996 eine unbefristete Aufenthaltsbewilligung für den Aufenthaltszweck „Familiengemeinschaft mit Fremden“ erteilt. Mit 1. Juli 2013 trat Kroatien der Europäischen Union bei; ab diesem Zeitpunkt verfügte der Revisionswerber über ein Aufenthaltsrecht als Unionsbürger.
2 Der Revisionswerber absolvierte nach dem Besuch des Kindergartens sowie der Volks‑ und Hauptschule zuletzt eine Ausbildung zum Schweißer und war danach ohne große Lücken bei verschiedenen österreichischen Arbeitgebern in diesem Beruf tätig. Er weist sehr gute Deutschkenntnisse auf.
3 Der Revisionswerber führte seit April 2016 eine Lebensgemeinschaft mit einer kroatischen Staatsangehörigen, mit der er einen am 9. Juli 2020 geborenen kroatischen Sohn hat. Weiters lebt in Österreich seine am 20. November 2008 geborene, aus einer geschiedenen Ehe stammende österreichische Tochter, die jedes zweite Wochenende bei ihm verbringt. Überdies halten sich die Eltern und Geschwister des Revisionswerbers im Bundesgebiet auf.
4 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Wels vom 30. Jänner 2017 erging gegen den Revisionswerber wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB eine bedingt nachgesehene dreimonatige Freiheitsstrafe. Dem Urteil lag zugrunde, er habe am 25. April 2015 im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einem Mittäter einer anderen Person durch Zu‑Boden‑Bringen und Versetzen mehrerer Schläge mit den Händen sowie von Fußtritten gegen Brust, Rücken und Kopf eine Distorsion der Halswirbelsäule, Prellungen des Brustbeins und des Brustkorbs sowie Abschürfungen im Bereich beider Unterarme zugefügt.
5 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Wels vom 17. Dezember 2018 wurde der Revisionswerber wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall und Abs. 4 Z 3 SMG sowie des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall sowie Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Diesem Strafurteil lag zugrunde, er habe zwischen Mitte 2015 und Anfang März 2018 in einer das 25‑fache der Grenzmenge (geringfügig) übersteigenden Menge teils unbekannten, teils bekannten Abnehmern insgesamt rund 10,1 kg Cannabiskraut überlassen sowie zwischen Mitte 2015 und Juni 2018 Cannabiskraut und Kokain ausschließlich zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen.
6 Schließlich erging gegen den Revisionswerber mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Wels vom 19. Februar 2019 wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs. 1 StGB, des Vergehens der versuchten Begünstigung nach den §§ 15 Abs. 1 und 299 Abs. 1 StGB sowie des Vergehens bzw. Verbrechens der Verleumdung nach § 297 Abs. 1 erster und zweiter Fall StGB eine unbedingte Zusatzfreiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten. Nach dem Schuldspruch habe der Revisionswerber am 8. August 2018 und am 6. November 2018 als Zeuge vor Gericht falsch ausgesagt und dadurch zwei Angeklagte zum Teil ihrer Verfolgung wegen Suchtgifthandels zu entziehen versucht. Zudem habe er durch die falschen Aussagen vor Gericht näher bezeichnete Personen der Gefahr einer behördlichen Verfolgung ausgesetzt, indem er sie des Vergehens der Nötigung und des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt falsch verdächtigte.
7 Die genannten Freiheitsstrafen verbüßte der Revisionswerber ‑ unter Anrechnung einer Vorhaft ab dem 14. Juli 2018 ‑ bis zu seiner bedingten Entlassung am 14. August 2020, und zwar ab Ende November 2019 in der Form des elektronisch überwachten Hausarrests.
8 Mit Bescheid vom 18. März 2019 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber mit Bezug auf die dargestellten Straftaten gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.
9 Mit dem angefochtenen, nach mündlicher Verhandlung ergangenen Erkenntnis vom 30. März 2021 gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) einer dagegen erhobenen Beschwerde des Revisionswerbers teilweise Folge und änderte den angefochtenen Bescheid dahin ab, dass die Dauer des Aufenthaltsverbotes auf drei Jahre herabgesetzt wurde. Im Übrigen wies es die Beschwerde als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG zulässig sei.
10 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit dem Beschluss VfGH 25.6.2021, E 1856/2021, ablehnte und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
11 Über die in der Folge rechtzeitig ausgeführte (der Sache nach:) ordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens ‑ eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet ‑ und Vorlage der Akten durch das BVwG (§ 30a Abs. 4 bis 6 VwGG) in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12 Gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
13 Bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision in dieser Hinsicht ist der Verwaltungsgerichtshof nach § 34 Abs. 1a VwGG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes nach § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Auch in einer vom Verwaltungsgericht für zulässig erklärten (ordentlichen) Revision hat der Revisionswerber von sich aus die unter dem erwähnten Gesichtspunkt maßgeblichen Gründe zur Zulässigkeit der Revision anzusprechen (siehe aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 23.1.2020, Ro 2019/21/0018, Rn. 12, mwN). Diesbezüglich genügt es, wenn in der Revision auf eine zutreffende und ausreichende Zulässigkeitsbegründung des Verwaltungsgerichtes in erkennbarer Weise Bezug genommen wird. Weitere Voraussetzung ist noch, dass der Revisionswerber der vom Verwaltungsgericht zu der als grundsätzlich erachteten Rechtsfrage vertretenen Auffassung argumentativ entgegentritt (vgl. VwGH 1.3.2022, Ro 2020/21/0014, Rn. 10, mwN).
14 Das BVwG bejahte zunächst den Erwerb des unionsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts durch den Revisionswerber und erachtete demzufolge im gegenständlichen Fall für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen ihn den Gefährdungsmaßstab nach dem letzten Satzteil des § 66 Abs. 1 FPG für maßgeblich. In Anknüpfung daran erblickte es eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Fehlen von Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes dazu, ob auf einen EWR‑Bürger wie den Revisionswerber, der sich seit mehr als zehn Jahren im österreichischen Bundesgebiet aufhält, dessen Herkunftsstaat allerdings erst vor weniger als zehn Jahren der Europäischen Union beigetreten ist, der erhöhte Gefährdungsmaßstab nach dem fünften Satz des § 67 Abs. 1 FPG zur Anwendung gelange, wovon das BVwG allerdings nicht ausging.
15 Zu dieser Rechtsfrage enthält die Revision jedoch überhaupt kein Vorbringen. Vielmehr geht der Revisionswerber selbst durchgehend von der Maßgeblichkeit des Gefährdungsmaßstabs nach dem letzten Satzteil des § 66 Abs. 1 FPG aus. Damit entspricht die Revision insoweit nicht den in Rn. 13 genannten Anforderungen.
16 Soweit die Revision aber in der Zulässigkeitsbegründung das Vorliegen der vom BVwG in Anwendung dieser Gesetzesstelle bejahten schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit in Abrede stellt, ist ihr zu entgegnen, dass diese Annahme des BVwG angesichts der dargestellten, unterschiedliche geschützte Rechtsgüter empfindlich beeinträchtigenden, über mehrere Jahre hindurch fortgesetzten Delinquenz des Revisionswerbers, insbesondere unter Berücksichtigung des langen Zeitraums des Suchtgifthandels, jedenfalls vertretbar war (vgl. zu einem in Bezug auf die Strafhöhe für ein Delikt nach dem SMG ähnlichen Fall VwGH 3.7.2018, Ra 2018/21/0066, Rn. 19, wo sogar der verschärfte Gefährdungsmaßstab nach dem fünften Satz des § 67 Abs. 1 FPG als erfüllt angesehen wurde). Die konkret getroffene Prognose zu Lasten des Revisionswerbers ist somit nicht revisibel, weil sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde (vgl. etwa VwGH 26.1.2017, Ra 2016/21/0370, Rn. 9, betreffend den Gefährdungsmaßstab nach dem letzten Satzteil des § 66 Abs. 1 FPG und eine einmalige Verurteilung wegen Delikten nach dem SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren).
17 Unter den bisher erörterten Gesichtspunkten wird daher in der Revision keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung iSd Art. 133 Abs. 4 B‑VG aufgezeigt.
18 Allerdings wird in der Revision, soweit sie auch noch die gemäß § 9 BFA‑VG vorgenommene Interessenabwägung des BVwG bekämpft, zu Recht darauf hingewiesen, dass der Revisionswerber bereits im Alter von drei Jahren nach Österreich eingereist und damit hier nahezu sein gesamtes Leben verbracht habe. Er sei in Österreich „sozialisiert“ und berufstätig. Der Revisionswerber habe in Österreich zwei Kinder „zu versorgen“ und hier lebe seine „Kernfamilie“, während er in Kroatien über keine Sozialkontakte verfüge, auf die er zurückgreifen könne. Er würde „völlig aus dem Leben gerissen“, müsste er Österreich verlassen. Es bedürfe daher einer besonderen Begründung dafür, weshalb der durch das Aufenthaltsverbot bewirkte „ganz intensive“ Eingriff in sein Privat‑ und Familienleben dringend geboten sein soll. Einen „derartigen Nachweis“ sei das BVwG „schuldig geblieben“.
19 Damit zeigt die Revision im Ergebnis zutreffend auf, dass das BVwG im Rahmen seiner Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG nicht darauf Bedacht nahm, dass der Revisionswerber von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist, was den Schluss zulässt, dass der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA‑VG erfüllt ist (zum Verständnis der Wendung „von klein auf“ siehe grundlegend zur im Wesentlichen inhaltsgleichen Regelung des § 38 Abs. 1 Z 4 FrG 1997 schon das Erkenntnis VwGH 17.9.1998, 96/18/0150). Die genannte Bestimmung normierte bis zu ihrer Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen bei Vorliegen der erwähnten Voraussetzungen eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden dürfe. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA‑VG im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG insofern weiterhin beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht (vgl. dazu ausführlich aus jüngerer Zeit etwa VwGH 14.2.2022, Ra 2020/21/0200, Rn. 11/12, wo u.a. auch auf entsprechende Judikatur des EGMR Bezug genommen wurde, und daran anschließend VwGH 5.4.2022, Ra 2021/21/0316, Rn. 14, jeweils mwN). Fallbezogen ist zur Klarstellung noch zu ergänzen, dass die ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA‑VG zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen auch auf Unionsbürger anzuwenden waren (siehe dazu die Nachweise in VwGH 15.12.2020, Ra 2020/21/0484, Rn. 17).
20 Mit der demnach auch hier maßgeblichen Frage, ob durch den weiteren Aufenthalt des Revisionswerbers eine derart massive Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten vorliegt, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen erlaubt, hat sich das BVwG allerdings in Verkennung der dargestellten Rechtslage nicht auseinandergesetzt. Diese Prüfung wird daher vom BVwG im fortzusetzenden Verfahren nachzuholen sein, wobei es sich insbesondere auch mit den Auswirkungen eines Aufenthaltsverbotes auf das Wohl der Kinder des Revisionswerbers eingehender zu befassen haben wird (vgl. zu Letzterem etwa VwGH 26.11.2020, Ro 2020/21/0013, Rn. 13, mwN).
21 Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
22 Der Kostenzuspruch beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 23. Juni 2022
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