Normen
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z1 idF 2015/I/070
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z2 idF 2015/I/070
FrÄG 2018
FrPolG 2005 §52 Abs4
FrPolG 2005 §52 Abs9
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z5
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021210085.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, wurde im März 1980 in Österreich geboren, ist hier aufgewachsen und war zuletzt im Besitz eines Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“.
2 Mit Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 13. Juni 2000 wurde der Revisionswerber wegen gefährlicher Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB zu einer zur Gänze bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.
3 Mit Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 6. März 2003 wurde er wegen versuchter Erpressung nach den §§ 15 Abs. 1, 144 Abs. 1 StGB, Amtsanmaßung gemäß § 314 StGB, Urkundenfälschung gemäß § 223 Abs. 1 StGB und Fälschung eines Beweismittels gemäß § 293 Abs. 2 StGB zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von neun Monaten verurteilt, wovon sechs Monate bedingt nachgesehen wurden.
4 Mit Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 4. November 2008 wurde der Revisionswerber wegen schweren Diebstahls nach den §§ 127, 128 Abs. 1 Z 4 StGB, dauernder Sachentziehung gemäß § 135 Abs. 1 StGB und unbefugten Gebrauchs eines Fahrzeugs gemäß § 136 Abs. 1 StGB zu einer zur Gänze bedingten Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt.
5 Am 29. Oktober 2014 wurde der Revisionswerber sodann wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach den §§ 28a Abs. 1 fünfter Fall und Abs. 4 Z 3 SMG sowie § 28a Abs. 1 vierter Fall, Abs. 2 Z 3 SMG sowie wegen des Vergehens der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs. 1 zweiter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt, wovon 16 Monate bedingt nachgesehen wurden.
6 Mit Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 30. Jänner 2019 wurde er schließlich wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall, Abs. 2 Z 3 SMG, des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall iVm Abs. 2 SMG sowie wegen des Vergehens nach § 50 Abs. 1 Z 3 WaffG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Dem lag zugrunde, dass der Revisionswerber Suchtgift, nämlich Kokain, zum eigenen Gebrauch erworben und besessen hatte sowie Suchtgift in einer die Grenzmenge um das 15‑fache übersteigenden Menge durch gewinnbringenden Verkauf Dritten überlassen hatte, indem er von Mitte August 2017 bis 31. Dezember 2017 zumindest 420 Gramm Kokain brutto zum Preis von 60 € pro Gramm an eine Person überlassen hatte, im Oktober und September 2017 zumindest 850 Gramm Speed an zwei Personen zum Preis von 5 € pro Gramm überlassen hatte und 10 Gramm Kokain brutto an eine Person überlassen hatte. Weiters hatte er seit dem Jahr 2012 bis Juli 2018 zwei Gaspistolen und Munition besessen, obwohl ihm dies gemäß § 12 WaffG verboten gewesen sei. Bei der Strafbemessung wertete das Strafgericht das Geständnis des Revisionswerbers als mildernd, als erschwerend hingegen das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen und die vier einschlägigen Vorstrafen des Revisionswerbers.
7 Im Hinblick auf diese Verurteilungen erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber mit Bescheid vom 15. März 2019 gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das BFA fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers gemäß § 46 FPG (gemeint: nach Serbien) zulässig sei und gewährte eine Frist von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise.
8 Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ‑ ohne Durchführung einer Verhandlung ‑ mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 14. September 2020 nur insoweit Folge, als die Dauer des Einreiseverbots auf fünf Jahre herabgesetzt wurde. Im Übrigen wies es die Beschwerde als unbegründet ab.
9 Das BVwG stellte fest, dass der Revisionswerber seit seiner Geburt in Österreich lebe und hier seinen Lebensmittelpunkt habe. Er wohne gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen drei Söhnen (zwei seien bereits volljährig) im gemeinsamen Haushalt. Er habe in Österreich die Volks‑ und Hauptschule besucht und eine knapp zweimonatige Ausbildung zum Lehrling absolviert. Bis zu seiner Inhaftierung im Juli 2018 sei er bei unterschiedlichen Unternehmen als Arbeiter angemeldet beschäftigt gewesen, habe aber auch Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe bezogen. In Serbien verfüge der Revisionswerber, der auch Serbisch spreche, über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte und er besuche seinen Herkunftsstaat gelegentlich.
10 In rechtlicher Hinsicht ging das Bundesverwaltungsgericht wie auch schon das BFA von der Anwendbarkeit des § 52 Abs. 4 FPG aus und führte zur Rückkehrentscheidung zusammengefasst aus, dass der Revisionswerber im besonders sensiblen Bereich der Suchtmittelkriminalität wiederholt straffällig geworden sei. Im Hinblick auf die noch andauernde Strafhaft könne auch nicht von einem Wegfall der Gefährdung ausgegangen werden. Das BVwG berücksichtigte zugunsten des Revisionswerbers, dass er sich auch über längere Zeiträume wohlverhalten habe und auf dem Arbeitsmarkt eingegliedert gewesen sei, was aber die sich in seinen strafgerichtlichen Verurteilungen manifestierende Gefährlichkeit nicht relativieren könne. Im Rahmen der Interessenabwägung führte das BVwG aus, dass angesichts der schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung das persönliche Interesse des Revisionswerbers am Verbleib im Bundesgebiet trotz des seit seiner Geburt bestehenden Aufenthalts in Österreich und seiner hier lebenden Familie ‑ der es nach Rückkehr des Revisionswerbers in den Herkunftsstaat möglich sei, weiterhin Kontakt mit ihm zu halten ‑ überwiege.
11 Bezüglich des Einreiseverbots berief sich das BVwG auf die Mehrzahl der dem Revisionswerber angelasteten Verstöße im Bereich des Suchtgifthandels, die innerhalb eines kurzen Zeitraums verwirklicht worden seien, und das große öffentliche Interesse an dessen Bekämpfung. Aufgrund der familiären und sozialen Verfestigung des Revisionswerbers in Österreich erachtete es das auf zehn Jahre befristete Einreiseverbot allerdings als nicht angemessen. Unter Berücksichtigung der schwerwiegenden und wiederholten Delinquenz sei eine Herabsetzung auf weniger als fünf Jahre jedoch nicht möglich.
12 Von einer mündlichen Verhandlung habe abgesehen werden können, weil der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine. Zudem sei eine mündliche Verhandlung nicht beantragt worden und das „Parteiengehör zugunsten des Beschwerdeführers“ gewahrt worden.
13 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
14 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die nach Ablehnung der Behandlung und Abtretung der zunächst an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde mit dem Beschluss VfGH 18.1.2021, E 4339/2020‑7, fristgerecht ausgeführt wurde. Der Verwaltungsgerichtshof hat darüber nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen:
15 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das BVwG ‑ wie in der Revision zutreffend aufgezeigt wird ‑ von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes abgewichen ist, indem es von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.
16 Eine mündliche Verhandlung war zwar vom bereits im Beschwerdeverfahren rechtskundig vertretenen Revisionswerber nicht beantragt worden. Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht aber von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, wenn es diese für erforderlich hält; damit steht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohne Parteiantrag nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichts (vgl. etwa VwGH 22.01.2021, Ra 2020/21/0506, Rn. 14, mwN; siehe auch VwGH 15.03.2018, Ra 2017/21/0147, Rn. 12, mwN). Davon, dass (im Sinn des § 24 Abs. 4 VwGVG) eine weitere Klärung der Rechtssache durch die mündliche Erörterung nicht zu erwarten war bzw. der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA‑VG aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt war, durfte das BVwG im vorliegenden Fall nicht ausgehen.
17 Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich in seiner Rechtsprechung wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann allerdings bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen (positiven) persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. noch einmal VwGH 15.03.2018, Ra 2017/21/0147, nunmehr Rn. 13).
18 Am Maßstab dieser Judikatur durfte das BVwG hinsichtlich des in Österreich geborenen und aufgewachsenen Revisionswerbers, der langjährig rechtmäßig niedergelassen war und bis zu seiner Inhaftierung im Jahr 2018 mit seiner Ehefrau und drei Söhnen im gemeinsamen Haushalt lebte, nicht von einem eindeutigen Fall und damit von einem geklärten Sachverhalt iSd § 21 Abs. 7 BFA‑VFG ausgehen, insbesondere zumal der Revisionswerber auch den Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 erfüllt hätte. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind aber gegenüber Personen, die im Sinne der genannten Bestimmung von klein auf in Österreich aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen sind, aufenthaltsbeendende Maßnahmen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen zulässig; die diesbezüglichen Wertungen des ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA-VG (die durch das FrÄG 2018 aufgehoben wurden) sind im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG nämlich weiterhin beachtlich (vgl. zuletzt etwa VwGH 7.10.2021, Ra 2021/21/0272, Rn. 10, mwN; siehe dazu auch VwGH 15.2.2021, Ra 2020/21/0246, Rn. 20).
19 Um vor diesem Hintergrund eine Rückkehrentscheidung (samt Einreiseverbot) zu rechtfertigen, müsste angesichts des langen rechtmäßigen Aufenthalts des in Österreich geborenen und aufgewachsenen Revisionswerbers somit eine spezifische Gefährdung von ihm ausgehen, die im Einzelfall trotz dieses langjährigen Aufenthalts und der damit verbundenen Integration, insbesondere der familiären Kontakte, dazu führt, dass eine Aufenthaltsbeendigung im Sinn des § 9 Abs. 1 BFA‑VG iVm Art. 8 EMRK dringend geboten ist.
20 Das ist zwar bei Begehung des Verbrechens des Suchtgifthandels nicht auszuschließen, hätte aber einer eingehenderen Auseinandersetzung mit allen Umständen dieses Falles und insbesondere auch der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in einer mündlichen Verhandlung bedurft. Im Übrigen hätten zur Beurteilung der Persönlichkeit des Revisionswerbers auch nähere Feststellungen zu den den ersten vier Verurteilungen zugrundeliegenden Straftaten getroffen werden müssen; diesbezüglich beschränkte sich das BVwG aber neben der Erwähnung der Urteilsdaten und der verhängten Strafen auf die bloße Nennung der angewandten Bestimmungen des StGB bzw. des SMG. Jedenfalls durfte das BVwG unter diesen Umständen ‑ wie erwähnt ‑ nicht von einem eindeutigen, zum Absehen von einer mündlichen Verhandlung berechtigenden Fall ausgehen.
21 Das angefochtene Erkenntnis ist daher mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.
22 Von der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
23 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 21. Dezember 2021
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