Normen
ARB1/80 Art7
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022210044.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der im September 1993 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger des Kosovo, hält sich seit seiner Einreise Ende August 2005, somit im Alter von fast zwölf Jahren, in Österreich rechtmäßig auf; zuletzt wurde ihm der unbefristete Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ erteilt. Am 20. Juli 2018 heiratete der Revisionswerber im Kosovo nach kirchlichem Ritus eine österreichische Staatsbürgerin. Dieser Beziehung entstammt eine am 14. April 2019 geborene Tochter, die ebenfalls österreichische Staatsbürgerin ist. Der Revisionswerber lebt mit seiner Familie in einem Einfamilienhaus in N.; auch seine Mutter und seine Geschwister sind in Österreich niedergelassen.
2 Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes Wiener Neustadt vom 17. September 2015 war der Revisionswerber wegen einer (am 31. August 2014 begangenen) Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Hierauf folgte mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt vom 25. Oktober 2016 wegen versuchter absichtlicher schwerer Körperverletzung nach den §§ 15, 87 Abs. 1 StGB eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten (davon 20 Monate bedingt nachgesehen). Schließlich wurde über den Revisionswerber mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt vom 10. September 2021 wegen einer am 11. Mai 2021 zugefügten schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB (mehrerer Faustschläge gegen den Kopf und das Gesicht eines Kontrahenten, der dadurch einen Bruch des rechten Jochbeines und einen Bluterguss erlitt) eine zwölfmonatige unbedingte Freiheitsstrafe verhängt. Bei der Strafbemessung wertete das Strafgericht die zwei einschlägigen Vorstrafen als erschwerend, mildernd hingegen das provokante Verhalten des Opfers.
3 Mit Bescheid vom 5. November 2021 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber im Hinblick auf diese Straftaten gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung und verband damit gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot. Es stellte unter einem gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in den Kosovo zulässig sei. Gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA‑VG erkannte das BFA einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab und gewährte demnach gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise.
4 Mit dem angefochtenen ‑ ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung ergangenen ‑ Erkenntnis vom 11. Jänner 2022 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die vom Revisionswerber gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde unter Berichtigung der Rechtsgrundlage für das Einreiseverbot (Z 1 statt Z 5 des § 53 Abs. 3 FPG) als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
6 Die Revision erweist sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG als zulässig und auch als berechtigt, weil das BVwG ‑ wie in der Zulässigkeitsbegründung der Revision aufgezeigt wird ‑ von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es keine ausreichenden Feststellungen zu den Straftaten des Revisionswerbers getroffen und von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.
7 Das BVwG prüfte die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ verfügenden Revisionswerber grundsätzlich zutreffend am Maßstab des § 52 Abs. 5 FPG (vgl. dazu des Näheren VwGH 7.10.2021, Ra 2020/21/0363, Rn. 14/15) und kam dabei zum Ergebnis, die wiederholte Begehung von zum Teil schweren Körperverletzungen rechtfertige die Annahme, der weitere Aufenthalt des Revisionswerbers stelle im Sinne der genannten Bestimmung eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar.
8 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist auch bei einer solchen Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände diese Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. etwa VwGH 18.1.2021, Ra 2020/21/0306, Rn. 17, mwN).
9 Diesem Erfordernis hat das BVwG nicht ausreichend Rechnung getragen, indem es zu den Straftaten des Revisionswerbers lediglich Feststellungen im Sinne der Darstellung in Rn. 2 traf. Eine nähere Auseinandersetzung mit den Tathandlungen zu den beiden ersten Verurteilungen fehlt zur Gänze, eine Auseinandersetzung mit den Begleitumständen auch bei der dem dritten Urteil zugrundeliegenden Straftat. Im Übrigen zeigt die Revision in diesem Zusammenhang auch zutreffend auf, dass die Annahme des BVwG (siehe Seite 7 des angefochtenen Erkenntnisses), der Revisionswerber sei während offener Probezeit rückfällig geworden, im Widerspruch zum Inhalt der Strafregisterauskunft steht und somit aktenwidrig ist.
10 Das Absehen von der in der Beschwerde beantragten Durchführung der Verhandlung begründete das BVwG mit dem Vorliegen eines iSd § 21 Abs. 7 BFA‑VG geklärten Sachverhalts. Dem Revisionswerber sei vom BFA in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren ausreichend Parteiengehör eingeräumt worden. Auch die Beschwerde zeige nicht plausibel auf, inwieweit eine neuerliche Einvernahme zu einer weiteren Klärung der Sache führen könnte.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung jedoch wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Zwar kann nach § 21 Abs. 7 BFA‑VG trotz Vorliegens eines darauf gerichteten Antrages von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann allerdings bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen (positiven) persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. etwa VwGH 27.5.2021, Ra 2021/21/0011, Rn. 6, mwN).
12 Ein derart eindeutiger Fall ist gegenständlich schon im Hinblick auf die ‑ wie erwähnt ‑ nicht ausreichenden Feststellungen zu den dem Revisionswerber zur Last liegenden Straftaten, vor allem aber auch angesichts der langen Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts des Revisionswerbers in Österreich seit Ende August 2005, des Zusammenlebens mit seiner österreichischen Frau und Tochter, der weiteren familiären Bindungen in Österreich und seiner regelmäßigen Berufstätigkeit nicht gegeben. Schon deshalb hätte das BVwG ‑ bezogen auf die Sachlage zum Zeitpunkt der bekämpften Entscheidung ‑ am Maßstab der vorstehend referierten Judikatur eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.
13 Das angefochtene Erkenntnis ist daher aus den genannten Gründen mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.
14 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 18. August 2022
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