Normen
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z1 idF 2015/I/070
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210198.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein 1990 geborener türkischer Staatsangehöriger, lebt seit 2004 in Österreich. Er verfügte zunächst über einen Aufenthaltstitel als Familienangehöriger und erhielt in der Folge einen unbefristeten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“. Über einen solchen Aufenthaltstitel verfügt auch die 2012 geborene Tochter des Revisionswerbers, die im Haushalt ihrer Mutter, der geschiedenen Ehefrau des Revisionswerbers, wohnt. Die Freundin des Revisionswerbers ist österreichische Staatsbürgerin.
2 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 5. April 2016 wurde der Revisionswerber wegen Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt. Weitere Geldstrafen verhängte das Bezirksgericht Leopoldstadt gegen den Revisionswerber mit in Rechtskraft erwachsenen Urteilen vom 6. Oktober 2016 und vom 21. September 2016 einerseits wegen sexueller Belästigung nach § 218 Abs. 1 Z 1 StGB und andererseits wegen Waffenbesitzes trotz eines bestehenden Waffenverbotes nach § 50 Abs. 1 Z 3 WaffG.
3 Schließlich wurde der Revisionswerber mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 9. November 2017 wegen des Verbrechens der Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen nach § 85 Abs. 2 StGB zu einer unbedingten (Zusatz‑)Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, da er am 9. September 2016 dem Bruder des „Ex‑Freundes“ seiner Schwester anlässlich eines eskalierten Streits über die Beendigung der Beziehung zur schwangeren Schwester vorsätzlich eine Schnittverletzung im Gesicht mit einem Klappmesser zugefügt hatte, die eine 9 cm lange auffällige Narbe an der Wange nach sich zog.
4 Im Hinblick auf diese Straftaten erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber (im zweiten Rechtsgang) mit Bescheid vom 23. Dezember 2019 gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das BFA fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei zulässig sei und gewährte eine Frist von vierzehn Tagen für die freiwillige Ausreise.
5 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 14. April 2020 ‑ ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung ‑ als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
6 Das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung begründete das BVwG damit, dass der Sachverhalt iSd § 21 Abs. 7 BFA‑VG aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt sei. Unter Bedachtnahme auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, derzufolge bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wegen des erforderlichen persönlichen Eindrucks eine beantragte Verhandlung nur in eindeutigen Fällen unterbleiben könne, ging das BVwG fallbezogen davon aus, dass ein solcher eindeutiger Fall aufgrund der Rückfälle des Revisionswerbers und der in der Gravität gesteigerten Delinquenz hier vorliege.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
8 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das BVwG ‑ wie in der Zulässigkeitsbegründung der Revision aufgezeigt wird ‑ von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.
9 Nach der auch vom BVwG im angefochtenen Erkenntnis erwähnten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Zwar kann ‑ worauf sich das BVwG gestützt hat ‑ nach § 21 Abs. 7 BFA‑VG trotz Vorliegens eines darauf gerichteten Antrages von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann allerdings bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen (positiven) persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. etwa VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0371, Rn. 14, mwN).
10 Von einem solchen eindeutigen Fall durfte vorliegend schon im Hinblick auf die auch in der Revision hervorgehobene lange Aufenthaltsdauer des mit vierzehn Jahren nach Österreich eingereisten Revisionswerbers in Österreich und die ‑ wenn auch nicht in regelmäßigen Kontakten bestehende ‑ Beziehung zu seiner minderjährigen Tochter nicht ausgegangen werden. Der Beschwerdeführer hat rund die Hälfte seines Lebens rechtmäßig im Bundesgebiet verbracht, wo er langjährig unselbständig bzw. zuletzt selbständig erwerbstätig war und wo auch seine Eltern und fast alle Geschwister sowie die österreichische Freundin leben. Vor diesem Hintergrund hätte eine tragfähige Interessenabwägung jedenfalls auch die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vorausgesetzt.
11 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben. Im fortgesetzten Verfahren wird das BVwG im Übrigen auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 Bedacht zu nehmen haben (vgl. dazu etwa aus der letzten Zeit VwGH 31.8.2021, Ra 2021/21/0075, Rn. 12 bis 14, mwN).
Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 7. Oktober 2021
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