Normen
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §42
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210371.L00
Spruch:
1. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen Spruchpunkt A.1. des angefochtenen Erkenntnisses (Bestätigung der Erlassung einer Rückkehrentscheidung und der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung samt Festsetzung einer Frist für die freiwillige Ausreise) richtet, zurückgewiesen.
2. zu Recht erkannt:
Im Übrigen, nämlich in Bezug auf die mit Spruchpunkt A.2. vorgenommene Bestätigung der Erlassung eines Einreiseverbotes samt Erhöhung von dessen Dauer, wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein 1985 geborener türkischer Staatsangehöriger, reiste im April 2013 legal nach Österreich ein, nachdem er am 31. Oktober 2012 in der Türkei eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet hatte. Ihm wurden in der Folge Aufenthaltstitel als Familienangehöriger, zuletzt gültig bis 3. Juli 2019, erteilt; am 27. Juni 2019 hatte er fristgerecht einen Verlängerungsantrag gestellt. Der Ehe entstammt ein am 29. September 2015 geborener Sohn, der die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt. Die Ehefrau des Revisionswerbers hat zwei Kinder aus einer früheren Ehe, und zwar eine am 31. Dezember 1998 geborene Tochter und einen am 12. August 2002 geborenen Sohn.
2 Der Revisionswerber wurde mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Linz vom 14. April 2015 wegen der im Zeitraum Oktober 2013 bis Dezember 2013 an seiner damals vierzehnjährigen Stieftochter verübten Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs. 1 erster Fall StGB, der geschlechtlichen Nötigung nach § 202 Abs. 1 erster Fall StGB und der schweren Nötigung nach §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 StGB sowie der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs. 1 Z 1 StGB, der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB, der Freiheitsentziehung nach § 99 Abs. 1 StGB und der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren verurteilt. Der Revisionswerber befand sich deshalb vom 16. Dezember 2013 bis 30. Juli 2014 und von Mitte Jänner 2016 ‑ mit einer Unterbrechung von Anfang Dezember 2016 bis Ende September 2018 ‑ bis zu seiner nach einer Gesamtdauer von zwei Jahren erfolgten bedingten Entlassung am 18. März 2019 in Haft.
3 Danach wurde der Revisionswerber aber noch einmal einschlägig straffällig und deshalb mit rechtskräftigem Urteil desselben Gerichts vom 5. August 2019 wegen der am 13. Juni 2019 an seiner Ehefrau begangenen Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und nach § 83 Abs. 2 StGB sowie der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Monaten verurteilt.
4 Angesichts dessen erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 22. Oktober 2019 gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung und verband damit ein befristetes Einreiseverbot, dessen Dauer im Spruch jedoch (irrtümlich) nicht zum Ausdruck gebracht wurde. Unter einem wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei zulässig sei. Des Weiteren wurde gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt und gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA‑VG einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt.
5 In Erledigung der dagegen erhobenen Beschwerde erließ das BFA mit Bescheid vom 23. Dezember 2019 eine Beschwerdevorentscheidung. Damit wurden die Spruchpunkte des Bescheides vom 22. Oktober 2019 betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung ‑ nunmehr allerdings gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG unter Einräumung einer Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab deren Rechtskraft ‑ und die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung wiederholt und in Bezug auf das auf § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gestützte Einreiseverbot die Dauer mit sechs Jahren bestimmt.
6 Im Hinblick auf einen fristgerechten Vorlageantrag entschied das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 3. März 2020 dahin, dass die Beschwerde „mit der Maßgabe“ als unbegründet abgewiesen werde, dass die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 Z 4 FPG iVm § 9 BFA‑VG erlassen (Spruchpunkt A.1.) und das Einreiseverbot mit zehn Jahren befristet werde (Spruchpunkt A.2.). Dabei sah es von der in der Beschwerde und im Vorlageantrag ausdrücklich beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab, weil der Sachverhalt aufgrund der Aktenlage und des Inhalts der Beschwerde im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA‑VG geklärt sei. Überdies liege ein eindeutiger Fall vor, weil keine Hinweise dafür vorlägen, dass bei Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Revisionswerber ein für ihn günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können. „Gegenteiliges“ sei auch in der Beschwerde bzw. im Vorlageantrag nicht substantiiert vorgebracht worden. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
7 Über die ‑ nach Ablehnung ihrer Behandlung und Abtretung der an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde (VfGH 14.7.2020, E 1158/2020) ‑ fristgerecht ausgeführte außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortungen erstattet wurden, erwogen:
8 Die Revision ist ‑ entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch im angefochtenen Erkenntnis ‑ unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG teilweise zulässig und insoweit auch berechtigt.
9 Die Revision tritt der zutreffenden Auffassung des BVwG, für die Rückkehrentscheidung sei nicht der vom BFA herangezogene, nur beim Besitz eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt ‑ EU“ anzuwendende § 52 Abs. 5 FPG maßgeblich, sondern es sei auf § 52 Abs. 4 Z 4 FPG abzustellen, nicht entgegen. Nach der genannten Bestimmung setzt die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen einen rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen voraus, dass der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund gemäß § 11 Abs. 1 oder 2 NAG entgegensteht. Fallbezogen kommt dafür gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 NAG in Betracht, dass der (weitere) Aufenthalt des Revisionswerbers die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde.
10 Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist gegenständlich angesichts der vom Revisionswerber an seiner minderjährigen Stieftochter verübten besonders verwerflichen Handlungen und der kurz nach seiner bedingten Entlassung begangenen, in Bezug auf die Ausübung körperlicher Gewalt einschlägigen Straftaten an seiner Ehefrau evident und es kann auch nicht zweifelhaft sein, dass darauf trotz der familiären Anknüpfungspunkte in Österreich mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme zumindest in Form einer Rückkehrentscheidung zu reagieren ist. Diesbezüglich vermag die Revision somit weder mit der Kritik an der Interessenabwägung noch mit der Rüge betreffend die Unterlassung der mündlichen Verhandlung eine grundsätzliche Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG darzutun.
11 Die Revision war daher, soweit sie sich gegen die Rückkehrentscheidung und die damit verbundenen Nebenaussprüche richtet, gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG ohne weiteres Verfahren in einem gemäß § 12 Abs. 3 VwGG gebildeten Fünfersenat mit Beschluss zurückzuweisen.
12 Das gegen den Revisionswerber erlassene Einreiseverbot gründet sich auf § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG. Danach kann gemeinsam mit einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot ‑ das ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten ‑ erlassen werden, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Das ist nach dem Tatbestand der Z 1 des § 53 Abs. 3 FPG, bei dessen Verwirklichung ein Einreiseverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden kann, unter anderem dann der Fall, wenn ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten oder „mindestens“ (gemeint: mehr als) einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist.
13 Beide genannten Alternativen dieses Tatbestandes sind im vorliegenden Fall erfüllt und das damit indizierte aktuelle Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung durfte aufgrund der den beiden strafgerichtlichen Verurteilungen zugrundeliegenden Tathandlungen, die vom BVwG im angefochtenen Erkenntnis auch des Näheren festgestellt wurden, jedenfalls angenommen werden. Entgegen den Revisionsausführungen kann ‑ selbst wenn man die behauptete Versöhnung des Revisionswerbers mit seiner Ehefrau und die Wiederaufnahme der Haushaltsgemeinschaft einbezieht ‑ von einem mittlerweile eingetretenen Wegfall dieser Gefährdung nicht die Rede sein, erfolgte doch die Entlassung aus der Strafhaft erst etwa ein Jahr vor Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses, wobei sich der Revisionswerber in diesem Zeitraum auch nicht wohlverhalten hat, sondern wiederum gegen eine Familienangehörige, nunmehr gegen seine Ehefrau, gewalttätig wurde. Angesichts des deshalb bestehenden großen öffentlichen Interesses an der Verhinderung derartiger Straftaten war es nicht rechtswidrig, auch insoweit die Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG zu Lasten des Revisionswerbers vorzunehmen und demzufolge die Verhängung eines Einreiseverbotes dem Grunde nach für dringend geboten zu erachten.
14 Allerdings ist es ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Zwar kann nach § 21 Abs. 7 BFA‑VG, auf den sich das BVwG bei der diesbezüglichen Begründung stützte, trotz Vorliegens eines darauf gerichteten Antrags von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann jedoch bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden (vgl. etwa 16.7.2020, Ra 2019/21/0335, Rn. 10, mwN). Davon durfte das BVwG in Bezug auf das Einreiseverbot im vorliegenden Fall jedoch ‑ entgegen seiner im angefochtenen Erkenntnis zum Ausdruck gebrachten Ansicht ‑ deshalb nicht ausgehen, weil es in Abweichung von der Einschätzung des BFA die Erhöhung der Dauer des Einreiseverbotes von sechs auf zehn Jahre, somit auf das bei einem auf den Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG gegründeten Einreiseverbot höchstmögliche Ausmaß, für geboten erachtete.
15 Nun ist dem BVwG zwar zuzugestehen, dass die Verlängerung der Dauer eines Einreiseverbotes nicht von vornherein unzulässig war, weil im Beschwerdeverfahren nach dem VwGVG ‑ mit Ausnahme von Verwaltungsstrafsachen (vgl. § 42 VwGVG) ‑ nicht das Verbot der „reformatio in peius“ gilt (vgl. VwGH 30.6.2015, Ra 2015/21/0002, Punkt 2. der Entscheidungsgründe, und daran anschließend im Zusammenhang mit einer Beschwerdevorentscheidung VwGH 9.9.2019, Ro 2016/08/0009, Punkt 7.4. der Entscheidungsgründe; siehe in Bezug auf die Dauer eines Einreiseverbotes etwa auch noch VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0232, Rn. 10). Im erstgenannten Erkenntnis Ra 2015/21/0002 hat der Verwaltungsgerichtshof aber nicht nur unter Bezugnahme auf Vorjudikatur wiederholt, dass das Ausschöpfen der Höchstfristen für ein Einreiseverbot nicht regelmäßig erfolgen dürfe, sondern er hat auch darauf hingewiesen, dass bei der Bemessung der Dauer eine Einreiseverbotes einerseits unter Bewertung des bisherigen Verhaltens prognostisch darauf abzustellen sei, wie lange die Gefährdung bestehen bleiben werde, und andererseits auch auf die privaten und familiären Interessen Bedacht zu nehmen sei (vgl. auch VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0009, Rn. 36). Im Sinne der in der vorstehenden Rn. 14 zitierten Rechtsprechung hat der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis Ra 2015/21/0002 des Weiteren betont, dass es (somit) auch in Bezug auf die Frage der Dauer des Einreiseverbotes im Allgemeinen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in einer mündlichen Verhandlung bedürfe.
16 Das gilt für den vorliegenden Fall vor allem deshalb, weil das BVwG ‑ für den Revisionswerber mangels Einräumung von Parteiengehör überraschend, gleichsam die Rolle des BFA als Fremdenpolizeibehörde, somit seiner Gegenpartei, übernehmend ‑ eine maßgebliche Verlängerung der Dauer des Einreiseverbotes um vier Jahre, also „beinahe eine Verdoppelung“ (so die Revision), beabsichtigte. Die dafür erforderliche Annahme einer über die Beurteilung des BFA deutlich hinausgehenden Gefährdungsprognose hätte aber nicht ohne vorhergehende mündliche Verhandlung und Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Revisionswerber erfolgen dürfen. In deren Rahmen hätte sich das BVwG auch noch näher mit den Auswirkungen einer so langen Trennung im fallbezogen höchstzulässigen Ausmaß von zehn Jahren sowohl für den Revisionswerber als auch für seine Angehörigen, insbesondere für seinen Sohn, befassen müssen. Das macht die Revision im Ergebnis zu Recht geltend.
17 Daher war das angefochtene Erkenntnis in Bezug auf den Abspruch über das Einreiseverbot gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
18 Insoweit konnte von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
19 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere auch auf § 50 VwGG, in Verbindung mit der VwGH‑AufwErsV 2014.
Wien, am 19. November 2020
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