AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:W282.2269495.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Florian KLICKA, BA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehöriger der Arabischen Republik Syrien, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2023, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.09.2023 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF) reiste im Oktober 2021 illegal nach Österreich ein und stellte am 16.10.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag wurde er vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt: Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, in seinem Land herrsche Krieg und er müsse seinen Militärdienst bei der Armee ableisten.
2. Am 08.02.2023 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) niederschriftlich einvernommen. Im Zuge dieser Einvernahme gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen zu seinen Fluchtgründen an:
Er habe Syrien wegen dem Krieg verlassen und weil er zum Reservedienst bei der syrischen Armee einberufen wurde. Im Falle seiner Rückkehr habe er Angst vor dem Reservedient bei der syrischen Armee. Bei seiner Rückreise aus dem Libanon sei er von den Grenzbeamten geschlagen worden. Im Jahr 2018 habe ihm der Ortsvorsteher einen Einberufungsbefehl zum Reservedienst übergeben. Er habe den ihm übergebenen Einberufungsbefehl sofort zerrissen.
3. Mit gegenständlichem Bescheid des Bundesamtes vom XXXX 2023 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Syrien gem. § 8 Abs. 1 zuerkannt (Spruchpunkt II.). Es wurde dem BF gem. § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsdauer von einem Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).
4. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 28.03.2023 fristgerecht Beschwerde, in welcher im Wesentlichen dessen inhaltliche Rechtswidrigkeit, unrichtige rechtliche Beurteilung sowie die Mangelhaftigkeit des Verfahrens geltend gemacht wurden.
5. Am 31.03.2023 wurde die Beschwerde inklusive der mit ihr in Bezug stehenden Verwaltungsakte dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vorgelegt.
6. Mit Schreiben vom 10.08.2023 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht den Parteien des Verfahrens die Ladung zur Verhandlung.
7. Am 19.09.2023 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die arabische Sprache und im Beisein der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt wurde. Das Bundesamt blieb der Verhandlung entschuldigt fern.
8. Die Niederschrift der Verhandlung wurde im Anschluss an die Verhandlung dem Bundesamt zur Kenntnis übermittelt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Arabischen Republik Syrien und Angehöriger der Volksgruppe der Araber. Er ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Arabisch. Er wurde in Syrien im Gouvernement Aleppo, im Dorf Sad Tshren in der Nähe der Stadt Manbij, geboren. Im Jahr 2011 hielt sich der Beschwerdeführer für einige Zeit im Libanon auf um dort zu arbeiten und kehrte um das Jahr 2012 in seinen Heimatort zurück. Er lebte bis Beginn des Jahres 2019 in seinem Heimatort nahe der Stadt Manbij bis syrische Truppen in die Region einrückten. In Folge lebte der Beschwerdeführer ab 2019 in Dscharabulus und reiste hiernach im Juli 2021 in die Türkei aus. Der Beschwerdeführer blieb ungefähr zwei Monate in der Türkei und reiste in Folge mit Hilfe eines Schleppers, dem er ca. 4.500,- EUR bezahlte, nach Europa weiter.
Der Beschwerdeführer besuchte die Schule in Syrien bis vierten Grundstufe. Er hat keine spezielle Ausbildung absolviert und in Syrien als Fischer und LKW-Fahrer seinen Lebensunterhalt verdient.
Der Beschwerdeführer ist verheiratet und hat eine Tochter; seine Frau und sein Kind leben in Syrien, in Manbij bei der Familie seiner Ehefrau. Der Beschwerdeführer hat zu seiner Familie regelmäßig Kontakt.
Der Beschwerdeführer ist gesund.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen:
Der Beschwerdeführer hat seinen Grundwehrdienst bei der syrischen Armee vom Jahr 2005 bis Ende des Jahres 2007 abgeleistet. Er war einfacher Rekrut und LKW-Fahrer; zu seinen Aufgaben zählte es, Ausrüstungsgegenstände und Waffen von einem Ort zum anderen zu bringen. Der Beschwerdeführer wurde zur Grenzsicherung anlässlich des Bürgerkrieges im Libanon eingesetzt, er musste ein Monat länger dienen als üblich. Der Beschwerdeführer wurde von syrischen Grenzbeamten bei seiner Wiedereinreise aus dem Libanon im Jahr 2012 – nachdem von ihm Geld verlangt wurde, er diesen jedoch kein Geld geben konnte – geschlagen. Im Jahr 2018 wurde dem Beschwerdeführer vom Ortsvorsteher seines Heimatortes mitgeteilt, dass er zum Reservedienst einberufen sei und sich bei der Rekrutierungsstelle in Aleppo zu melden habe.
Der Beschwerdeführer weist keine glaubhaft verinnerlichte, tiefgreifende politische Überzeugung gegen den Dienst an der Waffe an sich auf. Der Beschwerdeführer hat keine als oppositionell anzusehenden Handlungen gesetzt, die ihn mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit glaubhaft ins Blickfeld des syrischen Regimes gebracht haben. Der Beschwerdeführer wurde niemals von syrischen Behörden wegen oppositioneller Betätigung verhaftet oder festgehalten.
Die Heimatregion des Beschwerdeführers nordöstlich von Manbij steht seit dem Jahr 2019 unter geteilter Kontrolle sowohl der kurdischen Selbstverwaltung / SDF als auch des syrischen Regimes.
1.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:
Im Verfahren wurden ua. die folgenden Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:
Länderinformationsblatt (LIB) der Staatendokumentation zu Syrien, Gesamtaktualisierung am 17.07.2023,
AFB der Staatendokumentation vom 16.9.2022: SYRIEN - Fragen des BVwG zu syrischen Wehrdienstgesetzen (als Quelle referenziert im LIB v. 17.7),
EUAA, Country Guidance: Syria, vom Februar 2023,
EASO, Syria: Targeting of Individuals, September 2022,
Danish Immigration Service (DIS), Syria: Treatment upon return, Mai 2022 (als Quelle referenziert in EASO, Syria: Targeting of Individuals),
EASO, Syria: Military service, April 2021.
ACCORD v. 02.06.2023 Anfragebeantwortung zu Syrien: Einberufung von Reservisten der syrischen Armee: Bedarf, Bedingungen, Alter, Dauer, Einsatzbereich, Möglichkeit des Freikaufens [a-12132-1]
1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt, Version 9 vom 17.07.2023:
[…]
Politische Lage
Letzte Änderung: 10.07.2023
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 % des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023).
Interne Akteure haben das Kernmerkmal eines Staates - sein Gewaltmonopol - infrage gestellt und ausgehöhlt. Externe Akteure, die Gebiete besetzen, wie die Türkei in den kurdischen Gebieten, oder sich in innere Angelegenheiten einmischen, wie Russland und Iran, sorgen für Unzufriedenheit bei den Bürgern vor Ort (BS 23.2.2022). In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus. In anderen Gebieten ist die zivile Politik im Allgemeinen den lokal dominierenden bewaffneten Gruppen untergeordnet, darunter die militante islamistische Gruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS), die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) und mit dem türkischen Militär verbündete Kräfte (FH 9.3.2023). Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Im syrischen Bürgerkrieg, der nun in sein zwölftes Jahr geht, hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (Brookings 27.1.2023).
Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum November 2022-März 2023] nicht wesentlich verändert (AA 29.3.2023). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vgl. AA 29.3.2023). Der Machtanspruch des syrischen Regimes wurde in den Gebieten unter seiner Kontrolle nicht grundlegend angefochten, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden substanziellen militärischen Unterstützung Russlands bzw. Irans und Iran-naher Kräfte. Allerdings gelang es dem Regime nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol in diesen Gebieten durchzusetzen. Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht (AA 29.3.2023). Der von den Vereinten Nationen geleitete Friedensprozess, einschließlich des Verfassungsausschusses, hat 2022 keine Fortschritte gemacht (HRW 12.1.2023; vgl. AA 29.3.2023). Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert (AA 29.3.2023). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vgl. IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell und sorgen dafür, dass diese nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht werden (HRW 12.1.2023).
Im Äußeren gewannen die Bemühungen des Regimes und seiner Verbündeten, insbesondere Russlands, zur Beendigung der internationalen Isolation [mit Stand März 2023] unabhängig von der im Raum stehenden Annäherung der Türkei trotz fehlender politischer und humanitärer Fortschritte weiter an Momentum. Das propagierte "Normalisierungsnarrativ" verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vgl. SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon - (CMEC 16.5.2023; vgl. Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen, wenngleich sich die Bewahrung der EU-Einheit in dieser Sache zunehmend herausfordernd gestaltet (AA 29.3.2023).
Syrische Arabische Republik
Letzte Änderung: 10.07.2023
Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 2.5.2023). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus ba'athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021). Das überwiegend von Alawiten geführte Regime präsentiert sich als Beschützer der Alawiten und anderer religiöser Minderheiten (FH 9.3.2023) und die alawitische Minderheit hat weiterhin einen im Verhältnis zu ihrer Zahl überproportional großen politischen Status, insbesondere in den Führungspositionen des Militärs, der Sicherheitskräfte und der Nachrichtendienste, obwohl das hochrangige Offizierskorps des Militärs weiterhin auch Angehörige anderer religiöser Minderheitengruppen in seine Reihen aufnimmt (USDOS 15.5.2023). In der Praxis hängt der politische Zugang jedoch nicht von der Religionszugehörigkeit ab, sondern von der Nähe und Loyalität zu Assad und seinen Verbündeten. Alawiten, Christen, Drusen und Angehörige anderer kleinerer Religionsgemeinschaften, die nicht zu Assads innerem Kreis gehören, sind politisch entrechtet. Zur politischen Elite gehören auch Angehörige der sunnitischen Religionsgemeinschaft, doch die sunnitische Mehrheit des Landes stellt den größten Teil der Rebellenbewegung und hat daher die Hauptlast der staatlichen Repressionen zu tragen (FH 9.3.2023).
Die Verfassung schreibt die Vormachtstellung der Vertreter der Ba'ath-Partei in den staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft vor, und Assad und die Anführer der Ba'ath-Partei beherrschen als autoritäres Regime alle drei Regierungszweige (USDOS 20.3.2023). Mit dem Dekret von 2011 und den Verfassungsreformen von 2012 wurden die Regeln für die Beteiligung anderer Parteien formell gelockert. In der Praxis unterhält die Regierung einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat, um Oppositionsbewegungen zu überwachen und zu bestrafen, die Assads Herrschaft ernsthaft infrage stellen könnten (FH 9.3.2023). Der Präsident stützt seine Herrschaft insbesondere auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen und zivilen Nachrichtendienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen. So hat sich in Syrien ein politisches System etabliert, in dem viele Institutionen und Personen miteinander um Macht konkurrieren und dabei kaum durch die Verfassung und den bestehenden Rechtsrahmen kontrolliert werden, sondern v.a. durch den Präsidenten und seinen engsten Kreis. Trotz gelegentlicher interner Machtkämpfe stehen Assad dabei keine ernst zu nehmenden Kontrahenten gegenüber. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle seither verteidigt oder sogar weiter ausgebaut und profitieren durch Schmuggel und Korruption wirtschaftlich erheblich (AA 29.3.2023).
Dem ehemaligen Berater des US-Außenministeriums Hazem al-Ghabra zufolge unterstützt Syrien beinahe vollständig die Herstellung und Logistik von Drogen, weil es eine Einnahmemöglichkeit für den Staat und für Vertreter des Regimes und dessen Profiteure darstellt (Enab 23.1.2023). Baschar al-Assad mag der unumschränkte Herrscher sein, aber die Loyalität mächtiger Warlords, Geschäftsleute oder auch seiner Verwandten hat ihren Preis. Beispielhaft wird von einer vormals kleinkriminellen Bande berichtet, die Präsident Assad in der Stadt Sednaya gewähren ließ, um die dort ansässigen Christen zu kooptieren, und die inzwischen auf eigene Rechnung in den Drogenhandel involviert ist. Der Machtapparat hat nur bedingt die Kontrolle über die eigenen Drogennetzwerke. Assads Cousins, die Hisbollah und Anführer der lokalen Organisierten Kriminalität haben kleine Imperien errichtet und geraten gelegentlich aneinander, wobei Maher al-Assad, der jüngere Bruder des Präsidenten und Befehlshaber der Vierten Division, eine zentrale Rolle bei der Logistik innehat. Die Vierte Division mutierte in den vergangenen Jahren 'zu einer Art Mafia-Konglomerat mit militärischem Flügel'. Sie bewacht die Transporte und Fabriken, kontrolliert die Häfen und nimmt Geld ein. Maher al-Assads Vertreter, General Ghassan Bilal, gilt als der operative Kopf und Verbindungsmann zur Hisbollah (Spiegel 17.6.2022).
Es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter. Die Gefahr, Opfer staatlicher Repression und Willkür zu werden, bleibt für Einzelne unvorhersehbar (AA 29.3.2023).
Institutionen und Wahlen
Syrien ist nach der geltenden Verfassung von 2012 eine semipräsidentielle Volksrepublik. Das politische System Syriens wird de facto jedoch vom autoritär regierenden Präsidenten dominiert. Der Präsident verfügt als oberstes Exekutivorgan, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Generalsekretär der Ba'ath-Partei über umfassende Vollmachten. Darüber hinaus darf der Präsident nach Art. 113 der Verfassung auch legislativ tätig werden, wenn das Parlament nicht tagt, aufgelöst ist oder wenn "absolute Notwendigkeit" dies erfordert. De facto ist die Legislativbefugnis des Parlaments derzeit außer Kraft gesetzt. Gesetze werden weitgehend als Präsidialdekrete verabschiedet (AA 29.3.2023).
Der Präsident wird nach der Verfassung direkt vom Volk gewählt. Seine Amtszeit beträgt sieben Jahre. Seit der letzten Verfassungsänderung 2012 ist maximal eine einmalige Wiederwahl möglich. Da diese Verfassungsbestimmung jedoch erstmals bei den Präsidentschaftswahlen 2014 zur Anwendung kam, war es dem aktuellen Präsidenten Baschar al-Assad erlaubt, bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2021 erneut zu kandidieren. Kandidatinnen und Kandidaten für das Präsidentenamt werden nach Art. 85 vom Obersten Verfassungsgericht überprüft und müssen Voraussetzungen erfüllen, die Angehörige der Opposition faktisch weitgehend ausschließen. So muss ein Kandidat u. a. im Besitz seiner bürgerlichen und politischen Rechte sein (diese werden bei Verurteilungen für politische Delikte in der Regel entzogen), darf nicht für ein "ehrenrühriges" Vergehen vorbestraft sein und muss bis zum Zeitpunkt der Kandidatur ununterbrochen zehn Jahre in Syrien gelebt haben. Damit sind im Exil lebende Politikerinnen und Politiker von einer Kandidatur de facto ausgeschlossen (AA 29.3.2023). Bei den Präsidentschaftswahlen, die im Mai 2021 in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sowie einigen syrischen Botschaften abgehalten wurden, erhielt Bashar al-Assad 95,1 % der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von rund 77 % und wurde damit für eine weitere Amtsperiode von sieben Jahren wiedergewählt. Zwei kaum bekannte Personen waren als Gegenkandidaten angetreten und erhielten 1,5 % und 3,3 % der Stimmen (Standard 28.5.2021; vgl. Reuters 28.5.2021). Politiker der Exilopposition waren von der Wahl ausgeschlossen. Die Europäische Union erkennt die Wahl nicht an, westliche Regierungen bezeichnen sie als 'weder frei noch fair' und als 'betrügerisch', und die Opposition nannte sie eine 'Farce' (Standard 28.5.2021).
Das Parlament hat nicht viel Macht. Dekrete werden meist von Ministern und Ministerinnen vorgelegt, um ohne Änderungen vom Parlament genehmigt zu werden. Sitze im Parlament oder im Kabinett dienen nicht dazu, einzelne Machtgruppen in die Entscheidungsfindung einzubinden, sondern dazu, sie durch die Vorteile, die ihnen ihre Positionen verschaffen, zu kooptieren (BS 23.2.2022). Im Juli 2020 fanden die Wahlen für das "Volksrat" genannte syrische Parlament mit 250 Sitzen statt, allerdings nur in Gebieten, in denen das Regime präsent ist. Auch diese Wahlen wurden durch die weitverbreitete Vertreibung der Bevölkerung beeinträchtigt. Bei den Wahlen gab es keinen nennenswerten Wettbewerb, da die im Exil lebenden Oppositionsgruppen nicht teilnahmen und die Behörden keine unabhängigen politischen Aktivitäten in dem von ihnen kontrollierten Gebiet dulden. Die regierende Ba'ath-Partei und ihre Koalition der Nationalen Progressiven Front erhielten 183 Sitze. Die restlichen 67 Sitze gingen an unabhängige Kandidaten, die jedoch alle als regierungstreu galten (FH 9.3.2023). Die Wahlbeteiligung lag bei 33,7 % (BS 23.2.2022). Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen Einflussnahme. Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und durch vom Regime bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords und Schmuggler, welche das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (WP 22.7.2020).
Der Wahlprozess soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist. Syrische Bürger können überall innerhalb der vom Regime kontrollierten Gebiete wählen, und es gibt keine Liste der registrierten Wähler in den Wahllokalen und somit keinen Mechanismus zur Überprüfung, ob Personen an verschiedenen Wahllokalen mehrfach gewählt haben. Aufgrund der Vorschriften bei Reihungen auf Wahllisten sind alternative Kandidaten standardmäßig nur ein Zusatz zu den Kandidaten der Ba'ath-Partei (MEI 24.7.2020). Die vom Regime und den Nachrichtendiensten vorgenommene Reihung auf der Liste ist damit wichtiger als die Unterstützung durch die Bevölkerung oder Stimmen. Wahlen in Syrien dienen nicht dem Finden von Entscheidungsträgern, sondern der Aufrechterhaltung der Fassade von demokratischen Prozessen durch den Staat nach Außen. Sie fungieren als Möglichkeit, relevante Personen in Syrien quasi zu managen und Loyalisten dazu zu zwingen, ihre Hingabe zum Regime zu demonstrieren (BS 23.2.2022). Zudem gilt der Verkauf öffentlicher Ämter an reiche Personen, im Verbund mit entsprechend gefälschten Wahlergebnissen, als zunehmend wichtige Devisenquelle für das syrische Regime (AA 29.3.2023). Entscheidungen werden von den Sicherheitsdiensten oder dem Präsidenten auf Basis ihrer Notwendigkeiten getroffen - nicht durch gewählte Personen (BS 23.2.2022).
Im September 2022 fanden in allen [unter Kontrolle des syrischen Regimes stehenden] Provinzen Wahlen für die Lokalräte statt. Nichtregierungsorganisationen bezeichneten sie ebenfalls als weder frei noch fair (USDOS 20.3.2023).
[…]
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 11.07.2023
Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).
Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Die Suche nach eine politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023).
Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 70 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 29.3.2023). Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) veröffentlichte eine Karte mit Stand Dezember 2022, in welcher die wichtigsten militärischen Akteure und ihre Einflussgebiete verzeichnet sind. Es gibt Gebiete, in denen mehr als Akteur präsent ist (UNCOI 1.2023) [Anm.: die ausländischen Verbündeten des Regimes wie Iran, Russland und libanesische Hizbollah fehlen - siehe Karten weiter unten]:
Quelle: UNCOI 1.2023 (Stand: 12.2022)
Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, wobei auch Konvoi- und Patrouille-Routen eingezeichnet sind, die von syrischen, russischen und amerikanischen Kräften befahren werden. Im Nordosten kommt es dabei zu gemeinsam genutzten Straßen [Anm.: zu den Gebieten IS-Präsenz siehe Unterkapitel zu den Regionen]:
Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten
Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). Der Sondergesandte des UN-Generalsekretärs für Syrien Geir O. Pedersen wies am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022). Im Hinblick auf das Niveau der militärischen Gewalt ist eine Verstetigung festzustellen. Auch das Erdbeben am 6.2.2023 hat zu keiner nachhaltigen Verringerung der Kampfhandlungen geführt. In praktisch allen Landesteilen kam es im Berichtszeitraum zu militärischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Dabei bestanden auch teils erhebliche Unterschiede zwischen Regionen mit einer hohen Zahl gewalttätiger Auseinandersetzungen und vergleichsweise ruhigeren Landesteilen (AA 29.3.2023).
Die CoI stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Mitte des Jahres 2016 hatte die syrische Regierung nur ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der 'wichtigsten' Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt, kontrolliert (Reuters 13.4.2016). Aktuell sind die syrischen Streitkräfte mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 29.3.2023).
Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind während des Jahres im Land in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) [Anm.: zu israelischen und amerikanischen Militäraktionen siehe u.a. Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet und Unterkapitel Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien]. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Irans unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah. Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen (AA 29.3.2023). Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (ICG 10.2022).
Die folgende Karte zeigt die verschiedenen internationalen Akteure und deren militärische Interessenschwerpunkte in Syrien:
Quelle: Zenith 11.2.2022
Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und der ihr nahestehenden bewaffneten Gruppierungen und in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes (AA 29.11.2021).
Im Jahr 2022 hielten die Kämpfe im nördlichen Syrien mit Beteiligten wie den Regimetruppen, den SDF, HTS sowie türkischen Streitkräften und ihren Verbündeten an (FH 9.3.2023). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien unter dem Namen 'Operation Claw-Sword', die nach türkischen Angaben auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte und der syrischen Streitkräfte abzielte, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße traf (HRW 7.12.2022). Die Türkei führte seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien durch (France 24 20.11.2022). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022). Die türkischen Militäroperationen trieben Tausende Menschen in die Flucht und stellten 'eine ernste Bedrohung für ZivilistInnen' in den betroffenen Gebieten dar. Kämpfe zwischen den pro-türkischen Gruppen ermöglichten Vorstöße der HTS (FH 9.3.2023). Im Nordwesten Syriens führte im Oktober 2022 das Vordringen der HTS in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen (ICG 10.2022).
Im Gouvernement Dara'a kam es 2022 weiterhin zu Gewalt zwischen Regimekräften und lokalen Aufständischen trotz eines nominellen Siegs der Regierung im Jahr 2018 und eines von Russland vermittelten 'Versöhnungsabkommens'. Eine allgemeine Verschlechterung von Recht und Ordnung trägt in der Provinz auch zu gewalttätiger Kriminalität bei (FH 9.3.2023).
Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022).
Seit Beginn 2023 wurden mit Stand 1.5.2023 auch 258 ZivilistInnen durch andere Akteure (als dem Regime) getötet, somit 75 Prozent aller zivilen Toten in diesem Jahr. Viele von ihnen wurden beim Trüffelsuchen getötet, und dazu kommen auch Todesfälle durch Landminen. Außerdem bietet die Unsicherheit in vielen Gebieten ein passendes Umfeld für Schießereien durch nicht-identifzierte Akteure (SNHR 1.5.2023).
Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS)
Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem US-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi beging im Februar 2022 beim Eintreffen einer US-Spezialeinheit im Gouvernement Idlib Selbstmord. Als sein Nachfolger wurde Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi ernannt (EUAA 9.2022; vgl. DS 10.3.2022). Am 30.11.2022 bestätigte die Dschihadistenmiliz den Tod von Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi (BAMF 6.12.2022; vgl. CNN 30.11.2022). Das Oberkommando der US-Streitkräfte in der Region bestätigte, dass al-Quraishi Mitte Oktober 2022 bei einer Operation von syrischen Rebellen in der südlichen syrischen Provinz Dara’a getötet wurde (BAMF 6.12.2022). Der IS ernannte Abu al-Husain al-Husaini al-Quraishi zu seinem Nachfolger (CNN 30.11.2022; vgl. BAMF 6.12.2022).
Der UN-Sicherheitsrat schätzt die Stärke der Gruppe auf 6.000 bis 10.000 Kämpfer in ganz Syrien und im Irak, wobei die operativen Führer der Gruppe hauptsächlich in Syrien stationiert sind (EUAA 9.2022). Die Terrororganisation IS kann in Syrien selbst in ihren Rückzugsgebieten im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien weiterhin keine territoriale Kontrolle mehr ausüben. Mit mehreren Tausend Kämpfern sowie deren Angehörigen, die sich in Gefängnissen und Lagern in Nordostsyrien in Gewahrsam der SDF befinden, sowie einer vermutlich dreistelligen Zahl von im Untergrund aktiven Kämpfern bleibt IS jedoch ein relevanter asymmetrischer Akteur (AA 29.3.2023). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle und Attentate (DIS 29.6.2020). Der IS verübte immer wieder Angriffe und Anschläge, insbesondere auf Einheiten der SDF im Nordosten sowie auf Truppen des Regimes in Zentralsyrien, und zeigte bei zwei Anschlägen im Jahr 2022 seine anhaltende Fähigkeit zu komplexen Operationen (AA 29.3.2023).
Trotz der starken Präsenz syrischer und russischer Streitkräfte in Südsyrien sind mit dem IS verbundene Kämpfer in der Region aktiv und das syrische Regime ist derzeit nicht in der Lage, IS-Aktivisten in Gebieten zurückzudrängen, die vollständig unter der Kontrolle der Regierung stehen (VOA 24.10.2022). Der IS ist im Regimegebiet stärker, weil die syrische Armee weniger kompetent bei Anti-Terror-Operationen auftritt als die SDF (Zenith 11.2.2022). Nach Angaben der International Crisis Group verübten IS-Zellen Ende 2021 durchschnittlich zehn bis 15 Angriffe auf die Regierungsstreitkräfte pro Monat, die meisten davon im Osten von Homs und im ländlichen westlichen Deir Ez-Zour. Dieser Trend setzte sich auch im Jahr 2022 fort (EUAA 9.2022). Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020). Der IS profitierte auch von einem Sicherheitsvakuum, das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen Kräfte ihre Aktivitäten aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.3.2021).
Zum IS-Angriff vom 20.1.2022 in al-Hassakah siehe das Unterkapitel Nordost-Syrien im Kapitel Sicherheitslage.
Zivile Todesopfer landesweit
Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu erfassen. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt, außer in der Zahl der aufgrund von Folter getöteten Personen, welche sowohl Zivilisten als auch Kämpfer berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von 'Massakern', bei denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind. Zudem sind die Möglichkeiten zur Dokumentation von zivilen Opfern auch von der jeweiligen Konfliktpartei, die ein Gebiet kontrolliert, abhängig (SNHR 1.1.2020; vgl. SNHR 1.1.2021). Die folgende Grafik zeigt die von SNHR dokumentierte Zahl der zivilen Opfer, die von den Konfliktparteien in Syrien im Jahr 2021 getötet wurden, wobei SNHR insgesamt 1.271 getötete Zivilisten zählte, davon 299 Kinder und 134 Frauen (SNHR 1.1.2022):
Quelle: SNHR 1.1.2022
Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) dokumentierte im Zeitraum 1.1.2021 bis 30.6.2023 in den syrischen Gouvernements die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer sowie Todesopfern. Demnach kamen im Jahr 2022 5.949 Menschen ums Leben und im ersten Halbjahr 2023 2.796 Personen (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):
ACLED o.D. | ||||||
Gouverne-ments | Vorfälle 2021 | Todesopfer 2021 | Vorfälle 2022 | Todesopfer 2022 | Vorfälle 2023 (bis 30.6.) | Todesopfer (bis 30.6.) |
Deir ez Zor | 473 | 1131 | 339 | 755 | 277 | 560 |
Daraa | 375 | 649 | 467 | 708 | 195 | 326 |
Al Hasakeh | 345 | 621 | 340 | 926 | 74 | 119 |
Aleppo | 308 | 701 | 503 | 1260 | 216 | 502 |
Idlib | 306 | 697 | 213 | 481 | 134 | 321 |
Raqqa | 296 | 780 | 270 | 748 | 73 | 127 |
Hama | 143 | 547 | 96 | 252 | 67 | 232 |
Homs | 114 | 402 | 112 | 376 | 87 | 309 |
Rural Damascus | 113 | 140 | 157 | 244 | 46 | 75 |
As Sweida | 39 | 47 | 35 | 66 | 14 | 22 |
Quneitra | 31 | 39 | 12 | 22 | 19 | 30 |
Lattakia | 29 | 69 | 39 | 84 | 43 | 141 |
Damaskus | 14 | 41 | 15 | 22 | 12 | 31 |
Tartous | 4 | 8 | 3 | 5 | 1 | 1 |
Insg. | 2590 | 5872 | 2601 | 5949 | 1258 | 2796 |
Quelle: ACLED o. D.
Im Monatsverlauf dokumentierte ACLED im Zeitraum 1.1.2020-30.6.2023 die folgende Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer (Darstellung der Staatendokumentation basierend auf Daten von ACLED):
ACLED o.D.; *2023: Zeitraum 1.1.-30.6.2023
Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen. Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu verwenden (ACLED/ACCORD 25.3.2021).
Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 29.11.2021).
Informationen zur Untersuchung von Chemiewaffeneinsätzen in Syrien
Seit der im November 2017 an russischen Vetos im VN-Sicherheitsrat gescheiterten Verlängerung des Mandats des „Joint Investigative Mechanism“ (JIM) fehlte ein Mechanismus, der die Urheberschaft von Chemiewaffeneinsätzen feststellt. Ein gegen heftigen Widerstand Russlands im Juni 2018 angenommener Beschluss erlaubt nun der Organisation für das Verbot von Chemischen Waffen (OPCW), die Verantwortlichen der Chemiewaffenangriffe in Syrien im Rahmen eines hierfür neu gebildeten „Investigation and Identification Team“ (IIT) zu ermitteln. Im April 2021 legte das IIT seinen zweiten Ermittlungsbericht vor, demzufolge hinreichende Belege vorliegen, dass der Chemiewaffeneinsatz in der Stadt Saraqib im Februar 2018 auf Kräfte des syrischen Regimes zurückzuführen ist. Die Untersuchung dreier Angriffe im März 2017 kam zu dem Ergebnis, dass hinreichende Belege vorliegen, dass die syrischen Luftstreitkräfte für den Einsatz von Sarin am 24. und 30.3.2017 sowie Chlorgas am 25.3.2017 in Latamenah verantwortlich sind. Die unabhängigen internationalen Experten der FFM gehen, davon unabhängig, weiter Meldungen zu mutmaßlichen Chemiewaffeneinsätzen nach. So kommt der FFM-Bericht vom 1.3.2019 zu dem Ergebnis, dass bei der massiven Bombardierung von Duma am 7.4.2018 erneut Chemiewaffen (Chlor) eingesetzt wurden („reasonable grounds“). Auch eine Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kam zu diesem Ergebnis. Pressemeldungen zufolge soll das Assad-Regime am 19.5.2019 wiederholt Chlorgas in Kabana/Jabal al-Akrad im Gouvernement Lattakia eingesetzt haben. Die US-Regierung hat hierzu erklärt, dass auch sie über entsprechende Hinweise verfüge, um den Chlorgaseinsatz entsprechend zuzuordnen. Untersuchungen durch FFM bzw. IIT stehen noch aus. Am 1.10.2020 veröffentlichte die FFM zwei weitere Untersuchungsberichte zu vermuteten Chemiewaffeneinsätzen in Saraqib (1.8.2016) und Aleppo (24.11.2018). In beiden Fällen konnte die OPCW angesichts der vorliegenden Informationslage nicht sicher feststellen, ob chemische Waffen zum Einsatz gekommen sind (AA 29.11.2021). Am 26.1.2022 veröffentlichte die Untersuchungskommission der OPCW einen Bericht, in dem sie zu dem Schluss kommt, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.9.2015 in Marea, Syrien, ein chemischer Blisterstoff als Waffe eingesetzt wurde (OPCW 26.1.2022). In einem weiteren Bericht vom 1.2.2022 kommt die OPCW zu dem Schluss, dass es außerdem hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass am 1.10.2016 in Kafr Zeita eine industrielle Chlorflasche als chemische Waffe eingesetzt wurde (OPCW 1.2.2022).
Eine umfangreiche Analyse des Global Public Policy Institute (GPPi) von 2019 konnte auf Basis der analysierten Daten im Zeitraum 2012 bis 2018 mindestens 336 Einsätze von Chemiewaffen im Syrien-Konflikt bestätigen und geht bei 98 Prozent der Fälle von der Urheberschaft des syrischen Regimes aus (AA 29.11.2021).
Auch wenn es im Jahr 2022 kein Einsatz von chemischen Waffen berichtet wurde, so wird davon ausgegangen, dass das Regime weiterhin über ausreichende Vorräte von Sarin und Chlor verfügt, und über die Expertise zur Produktion und Anwendung von Chlor-hältiger Munition verfügt. Das Regime erfüllte nicht die Forderungen der Organization for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW) Conference of the States Parties, weshalb seine Rechte in der Organisation suspendiert bleiben (USDOS 20.3.2023).
Kontaminierung mit Minen und nicht-detonierten Sprengmitteln
Neben der Bedrohung durch aktive Kampfhandlungen besteht in weiten Teilen des Landes eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. So zählt die CoI in ihrem jüngsten Bericht 12.350 Vorfälle mit Blindgängern oder Landminen im Zeitraum 2019 bis April 2022. Z.B. wurden im Juni 2022 bei der Explosion einer Landmine in Dara’a zehn Menschen getötet und 28 verletzt. Laut dem Humanitarian Needs Overview der VN für 2022 ist jede dritte Gemeinde in Syrien kontaminiert, besonders betroffen sind demnach die Gebiete in und um die Städte Aleppo, Idlib, Raqqa, Deir ez-Zor, Quneitra, Dara‘a und die ländliche Umgebung von Damaskus. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Im Juli 2018 wurde ein Memorandum of Understanding zwischen der zuständigen United Nations Mine Action Service (UNMAS) und Syrien unterzeichnet. Dennoch behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und - Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 29.3.2023).
Die Sicherheitslage zwischen militärischen Entwicklungen und Menschenrechtslage
Ungeachtet der obigen Ausführungen bleibt Syrien bis hin zur subregionalen Ebene territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Die Regierung ist nicht in der Lage, alle von ihr kontrollierten Gebiete zu verwalten und bedient sich verschiedener Milizen, um einige Gebiete und Kontrollpunkte in Aleppo, Lattakia, Tartus, Hama, Homs und Deir ez-Zor zu kontrollieren (DIS/DRC 2.2019). Die Hizbollah und andere von Iran unterstützte schiitische Milizen kontrollieren derzeit rund 20 Prozent der Grenzen des Landes. Obwohl die syrischen Zollbehörden offiziell für die Grenzübergänge zum Irak (Abu Kamal), zu Jordanien (Nasib) und zum Libanon (al-Arida, Jdeidat, al-Jousiyah und al-Dabousiyah) zuständig sind, liegt die tatsächliche Kontrolle bei anderen: Die libanesische Grenze ist von der Hizbollah besetzt, die auf der syrischen Seite Stützpunkte eingerichtet hat (Zabadani, al-Qusayr), von denen aus sie die Bergregion Qalamoun beherrscht. Auch die irakischen schiitischen Milizen verwalten beide Seiten ihrer Grenze von Abu Kamal bis at-Tanf (WI 10.2.2021).
Vor allem Aleppo, die größte Stadt Syriens und ihr ehemaliger wirtschaftlicher Motor, bietet einen Einblick in die derzeitige Lage: Die Truppen des Regimes haben die primäre, aber nicht die ausschließliche Kontrolle über die Stadt, weil die Milizen, auch wenn sie nominell mit dem Regime verbündet sind, sich sporadische Zusammenstöße mit Soldaten und untereinander liefern und die Einwohner schikanieren. Die Rebellen sind vertrieben, kein ausländischer Akteur hat ein Interesse an einer erneuten Intervention, um das Regime herauszufordern, und die Bevölkerung ist durch den jahrelangen Krieg zu erschöpft und verarmt und zu sehr damit beschäftigt, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, um einen weiteren Aufstand zu führen. Außerdem konnten die meisten Einwohner der Stadt, die in von der Opposition gehaltene Gebiete oder ins Ausland vertrieben wurden, nicht zurückkehren, vor allem weil sie entweder die Einberufung oder Repressalien wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung am Aufstand fürchten (ICG 9.5.2022). Gebiete, in denen es viele Demonstrationen oder Rebellenaktivitäten gab, wie Ost-Ghouta, Damaskus oder Homs, werden nun auch verstärkt durch die Geheimdienste überwacht (Üngör 15.12.2021).
Andere Regionen wie der Westen des Landes, insbesondere die Gouvernements Tartus und Latakia (Kerneinflussgebiete des Assad-Regimes), blieben auch im Berichtszeitraum von aktiven Kampfhandlungen vergleichsweise verschont. Unverändert kam es hier nur vereinzelt zu militärischen Auseinandersetzungen, vorwiegend im Grenzgebiet zwischen Latakia und Idlib (AA 29.3.2023).
Unabhängig von militärischen Entwicklungen kommt es laut Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch verschiedene Akteure in allen Landesteilen, insbesondere auch in Gebieten unter Kontrolle des Regimes (AA 29.11.2021) [Anm.: Siehe dazu Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage]. Die UN-Untersuchungskommission für Syrien hält es für wahrscheinlich, dass das Regime, seine russischen Verbündeten und andere regimetreue Kräfte Angriffe begangen haben, die durch Kriegsverbrechen gekennzeichnet sind und möglicherweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen. Dem Regime nahestehende paramilitärische Gruppen begehen Berichten zufolge häufige Verstöße und Misshandlungen, darunter Massaker, wahllose Tötungen, Entführungen von Zivilisten, extreme körperliche Misshandlungen, einschließlich sexueller Gewalt, und rechtswidrige Festnahmen (USDOS 20.3.2023). Die syrische Regierung und andere Konfliktparteien setzen weiterhin Verhaftungen und das Verschwindenlassen von Personen als Strategie zur Kontrolle und Einschüchterung der Zivilbevölkerung ein (GlobalR2P 31.5.2023; vgl. CC 3.11.2022). In Zentral-, West- und Südsyrien kommt es in den von der Regierung kontrollierten Gebieten systematisch zu willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und Misshandlungen (GlobalR2P 1.12.2022) [Anm.: Siehe auch Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage]. Aus den Gouvernements Dara'a, Quneitra und Suweida wurden in der ersten Jahreshälfte 2022 gezielte Tötungen, Sprengstoffanschläge, Schusswechsel, Zusammenstöße und Entführungen gemeldet, an denen Kräfte der syrischen Regierung und regierungsfreundliche Milizen, ehemalige Mitglieder bewaffneter Oppositionsgruppen, IS-Kämpfer und andere nicht identifizierte Akteure beteiligt waren (EUAA 9.2022).
Seit der Rückeroberung der größtenteils landwirtschaftlich geprägten Provinz um Damaskus im Jahr 2018 versucht der syrische Präsident Bashar al-Assad, die Hauptstadt als einen 'Hort der Ruhe' in einem vom Konflikt zerrissenen Land darzustellen (AN 1.7.2022; vgl. EUAA 9.2022). Allerdings kommt es seit Anfang 2020 zu wiederholten Anschlägen in Damaskus und Damaskus-Umland bei denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels Autobomben ins Visier genommen werden (TSO 10.3.2020; vgl. COAR 25.10.2021). Darunter war z. B. die Bombenexplosion eines Militärbusses am 20.10.2021 in einem dicht besiedelten Gebiet von Damaskus, bei welcher 14 Personen getötet wurden (HRW 13.1.2022). Im Zeitraum April 2022 bis Juli 2022 wurden sechzehn Anschläge in und um Damaskus gemeldet, welche Personen mit Regimenähe zum Ziel hatten (AN 1.7.2022).
In Gebieten wie Daraʿa, der Stadt Deir ez-Zor und Teilen von Aleppo und Homs sind Rückkehrer mit ihre Macht missbrauchenden regimetreuen Milizen, Sicherheitsproblemen wie Angriffen des IS, mit schweren Zerstörungen oder einer Kombination aus allen drei Faktoren konfrontiert (ICG 13.2.2020).
Der Islamischer Staat (IS) verfügt über Rückzugsgebiete im syrisch-irakischen Grenzgebiet sowie in Zentralsyrien. Seit Anfang 2020 hat der IS Anschläge in fast allen Landesteilen durchgeführt und ist weiterhin grundsätzlich in der Lage, dies landesweit zu tun (AA 29.11.2021; Anm.: Siehe dazu auch Abschnitt "Provinz Deir ez-Zour / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet"). Der IS ist unter anderem im Osten der Provinz Homs aktiv. Es kommt immer wieder zu Anschlägen und Überfällen auf Einheiten/Konvois der syrischen Armee (ÖB 1.10.2021; vgl. DIS 5.2022).
Von Februar bis April versuchen verarmte Syrer durch die Trüffelsuche Geld zum Überleben zu verdienen - trotz Lebensgefahr (France 24 8.3.2023) aufgrund der Präsenz von IS-Kämpfern und zahlreichen Landminen in der Wüste Zentralsyriens (TAZ 24.3.2023). Bei einem weiteren IS-Angriff Mitte Februar kamen 53 Zivilisten bei der Trüffelsuche ums Leben (Ha'aretz 17.2.2023). Mittlerweile soll der IS mindestens 150 Trüffelsucher im heurigen Jahr getötet haben (BBC 17.4.2023).
Verschiebungen bei der militärischen Präsenz von Russland und Iran
Die russischen Kriegsanstrengungen in der Ukraine haben begonnen, sich spürbar auf Russlands militärische und diplomatische Haltung in Syrien auszuwirken (CC 3.11.2022; vgl. NYT 19.10.2022). Russland ist seit 2015 eine dominante militärische Kraft in Syrien und trägt dazu bei, das syrische Regime an der Macht zu halten (NYT 19.10.2022). Allerdings versucht Russland nun auch, seine Position in Europa zu stärken, indem es im Stillen seine Präsenz und sein Engagement in Syrien reduziert. Berichten zufolge wurden diese Soldaten teilweise durch russische Militärpolizisten ersetzt (CC 3.11.2022; vgl. NYT 19.10.2022). Die Bemühungen Russlands, seine Präsenz in Syrien zu verringern, haben auch diplomatische Manöver mit Iran und der Türkei ausgelöst. Iran hat das Vakuum genutzt, um seine Präsenz in Ostsyrien auszubauen (CC 3.11.2022).
Israelische Luftschläge
Um die Präsenz Irans zu bekämpfen und die Weitergabe von Waffen an die Hizbollah zu verhindern, hat Israel häufig Luftangriffe gegen die syrische Regierung und die vom Iran unterstützten Milizen in ganz Syrien durchgeführt (CC 3.11.2022). Die israelischen Luftschläge gingen in den letzten Jahren in die Hunderte (Haaretz 18.2.2023).
Im Jahr 2021 erhöhte sich bereits das Ausmaß der israelischen Luftangriffe mit mindestens 56 Konfliktvorfällen (CC 3.11.2022). Im November 2021 wurde von zwei israelischen Angriffen auf Ziele in der Umgebung von Damaskus berichtet (NPA 3.11.2021). Am 28.12.2021 wurden Hafenanlagen in Latakia durch Luftschläge schwer beschädigt (AA 29.3.2023). Im Jahr 2022 fanden 31 israelische Luftangriffe statt, davon 19 im dritten Quartal 2022 (CC 3.11.2022). Seit Beginn 2022 kam es zudem zu israelischen Angriffen u. a. auf den Flughafen von Damaskus, wo sowohl zivile wie militärische Landebahnen getroffen wurden (JP 11.6.2022), bzw. der Flughafen vorübergehend gesperrt wurde (Ha'aretz 30.1.2023, vgl. AA 29.3.2023). Auch gab es am 5.7.2022 nahe der Stadt Tartus einen israelischen Angriff auf Luftabwehrsysteme (JP 5.7.2022).
Im Jahr 2023 erfolgten weitere Luftangriffe, darunter ein Angriff auf den internationalen Flughafen Damaskus am 2.1.2023 (Ha'aretz 18.2.2023) und auf den Flughafen Aleppo am 7.3.2023 (Standard 7.3.2023). Seither gab es auch weitere Angriffsziele in Zusammenhang mit iranischen Milizen und der Hizbollah, darunter ein Ort im Stadtteil Kafr Sousa in Damaskus mit je nach Quelle divergierenden Zahlen zu den Todesopfern, welche von fünf bis 15 Personen reichten (Ha'aretz 18.2.2023). Laut syrischer Version wurde in Kafr Sousa eine iranische Schule (Ha'aretz 18.2.2023) getroffen, während andere Quellen von einem militärischen Ziel ausgehen - hauptsächlich mit Iran-Konnex (Ha'aretz 22.2.2022). Bei einem Raketenangriff Israels auf den Flughafen in Aleppo, zum Beispiel am 1. Mai, wurde nach Angaben syrischer Staatsmedien ein Soldat getötet. Sieben weitere Menschen, darunter zwei Zivilisten, seien verwundet worden, berichteten staatliche syrische Medien unter Berufung auf einen Militärvertreter. Der Flughafen sei nach dem Angriff außer Betrieb gewesen. Auch einige Orte in der Nähe wurden demnach getroffen (Standard 2.5.2023). In der Region Aleppo sind pro-iranische Milizen besonders präsent (ORF 2.5.2023) (Anm.: Zu iranischen Waffenlieferungen über die Flughäfen Lattakia, Damaskus und Aleppo unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe nach den Erdbeben siehe Unterkapitel Gouvernment Latakiya). Mittlerweile soll die Beunruhigung der Bevölkerung wachsen, weil sie immer mehr bei diesen Angriffen in Mitleidenschaft gezogen wird. Nach Russland sollen zunehmend auch syrische Kräfte sich weigern, mit iranischen Verbänden gemeinsam zu patrouillieren (Zenith 24.2.2023).
US-Luftschläge in Syrien
Auch die USA gingen immer wieder gezielt mit Luftschlägen gegen Iran-nahe Akteure, aber auch ranghohe Kommandeure des sogenannten IS vor. Zugleich wurden US-Stützpunkte und von US-Kräften gesicherte Anlagen wiederholt Ziel von Drohnen- und Raketenangriffen, die nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte auf Iran-nahe Milizen zurückzuführen sind (AA 29.3.2023).
Dem deutschen Auswärtigen Amt zufolge kann daher in keinem Landesteil Syriens von einer nachhaltigen Beruhigung der militärischen Lage ausgegangen werden (AA 29.3.2023).
Rechtsschutz / Justizwesen
Gebiete unter der Kontrolle des syrischen Regimes
Letzte Änderung: 13.07.2023
Die syrische Verfassung sieht Demokratie (Art. 1, 8, 10, 12), Achtung der Grund- und Bürgerrechte (Art. 33-49), Rechtsstaatlichkeit (Art. 50-53), Gewaltenteilung sowie freie, allgemeine und geheime Wahlen zum Parlament (Art. 57) vor. Faktisch haben diese Prinzipien in Syrien jedoch nie ihre Wirkung entfaltet, da die Ba'ath-Partei durch einen von 1963 bis 2011 geltenden, extensiv angewandten Ausnahmezustand wichtige Verfassungsregeln außer Kraft setzte. Zwar wurde der Ausnahmezustand 2011 beendet, aber mit Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Syrien umgehend im Jahr 2012 durch eine genauso umfassende und einschneidende „Anti-Terror-Gesetzgebung“ ersetzt. Sie führte zu einem Machtzuwachs der Sicherheitsdienste und massiver Repression, mit der das Regime auf die anfänglichen Demonstrationen und Proteste sowie den späteren bewaffneten Aufstand großer Teile der Bevölkerung antwortete. Justiz und Gerichtswesen sind von grassierender Korruption und Politisierung durch das Regime geprägt. Laut geltender Verfassung ist der Präsident auch Vorsitzender des Obersten Justizrates (AA 29.3.2023).
Das Justizsystem Syriens besteht aus Zivil-, Straf-, Militär-, Sicherheits- und religiösen Gerichten sowie einem Kassationsgericht. Gerichte für Personenstandsangelegenheiten regeln das Familienrecht (SLJ 5.9.2016). Der Konflikt in Syrien hat das bereits zuvor schwache Justizsystem weiter ausgehöhlt (ÖB Damaskus 1.10.2021). Die syrischen Straf-, Zivil- oder Verwaltungsgerichte werden regelmäßig vom Regime für politische Zwecke missbraucht. Zudem ist Korruption weit verbreitet. Die Unabhängigkeit syrischer Straf-, Zivil- oder Verwaltungsgerichte ist somit unverändert nicht gewährleistet. Vor allem vor Strafgerichten ist eine effektive Verteidigung in Fällen mit politischem Hintergrund praktisch nicht möglich. Immer wieder werden falsche Geständnisse durch Folter und Drohungen durch die Anklage erpresst und seitens der Gerichte weitestgehend vorbehaltlos akzeptiert (AA 29.3.2023). In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Umsetzung der Gesetze in der Praxis. Die in den letzten Jahren noch zugenommene und weitverbreitete Korruption hat diese Diskrepanz noch zusätzlich verstärkt. Die Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt, wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche zivile Kontrolle operieren können (ÖB Damaskus 1.10.2021). Richter und Staatsanwälte müssen im Grunde genommen der Ba'ath-Partei angehören und sind in der Praxis der politischen Führung verpflichtet (FH 9.3.2023).
Tausende von Gefangenen wurden monatelang oder jahrelang ohne Kontakt zur Außenwelt ("incommunicado") festgehalten, bevor sie ohne Anklage oder Gerichtsverfahren freigelassen wurden, während viele andere im Gefängnis starben (USDOS 20.3.2023).
Anti-Terror-Gerichte (CTC)
2012 wurde in Syrien ein Anti-Terror-Gericht (Counter Terrorism Court - CTC) eingerichtet. Dieses soll Verhandlungen aufgrund "terroristischer Taten" gegen Zivilisten und Militärpersonal führen, wobei die Definition von Terrorismus im entsprechenden Gesetz sehr weit gefasst ist (SJAC 9.2018). Die „Terrorismus-Gerichte“ sind außerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens tätig (ÖB Damaskus 1.10.2021). Anklagen gegen Personen, die vor das CTC gebracht werden, beinhalten: das Finanzieren, Fördern und Unterstützen von Terrorismus; die Teilnahme an Demonstrationen; das Schreiben von Stellungnahmen auf Facebook; die Kontaktierung von Oppositionellen im Ausland; den Waffenschmuggel an bewaffnete Oppositionelle; das Liefern von Nahrungsmitteln, Hilfsgütern und Medizin in von der Opposition kontrollierte Gebiete (NMFA 5.2020).
Das Syrian Network for Human Rights (SNHR) und andere Quellen betonen, dass sowohl der Gerichtsprozess im CTC als auch die Gesetzgebung, auf deren Basis dieser Gerichtshof agiert offenkundig internationales Menschenrecht und fundamentale rechtliche Standards verletzen. Diese Verletzungen beinhalten: willkürliche Verhaftungen, unter Folter erzwungene Geständnisse als Beweismittel, geschlossene Gerichtssitzungen unter Ausschluss der Medien, das Urteilen des Gerichts über Zivilisten, Minderjährige und Militärangehörige gleichermaßen, die Ernennung der Richter durch den Präsidenten, die Nicht-Zulässigkeit von ZeugInnen der/des Angeklagten, usw. (NMFA 6.2021). Das normale juristische Prozedere gilt bei keinem der Fälle vor den CTCs. Eine Berufung gegen Urteile ist nicht möglich (BS 23.2.2022).
Mangels Definition von "Terrorismus" und mit "Terrorismus" als Generalvorwurf gegen jede Form von abweichender Meinung werden die Anti-Terrorismus-Gerichte als "politisch" kategorisiert (BS 23.3.2022), und vor allem auch viele Oppositionelle werden dabei als "Terroristen" angeführt (ÖB Damaskus 1.10.2021): Die Anti-Terror-Gerichte dienen insbesondere dem Zweck, politische Gegner und Personen, die sich für politischen Wandel und Menschenrechte einsetzen, auszuschalten. Demnach sollen seit Errichtung dieser Gerichte bis Oktober 2020 schätzungsweise mindestens 90.560 Fälle vor diesen Gerichten verhandelt worden sein. Dabei sollen mindestens 20.641 Gefängnisstrafen und mehr als 2.147 Todesurteile verhängt worden sein, davon der Großteil in Abwesenheit der Angeklagten. Vor diesen Gerichten sei Angeklagten in Verfahren, die oftmals nur wenige Minuten dauern, ein Rechtsbeistand verwehrt; sie würden nach glaubhaften Aussagen ehemaliger Häftlinge oftmals gezwungen, Geständnisse ohne Kenntnis des Textes blind zu unterschreiben. Viele der von diesen Gerichten Verurteilten erhielten laut SNHR Haftstrafen zwischen 10 und 20 Jahren, politische Dissidenten häufig bis zu 30 Jahre. In letzteren Fällen sei es wiederholt auch zu außergerichtlichen Hinrichtungen gekommen (AA 29.3.2023).Undeklarierte Internierungslager, in denen unmenschliche Bedingungen vorherrschen, sind weit verbreitet. Auch Kinder und Frauen werden in diesen Internierungszentren festgehalten. Im Mai 2018 veröffentlichte die syrische Regierung Listen mit Tausenden Namen von in Internierungslagern verstorbenen Bürgern. Eine Aufklärung dieser Todesfälle steht aus (ÖB Damaskus 1.10.2021). Neben Gefängnisstrafen, Zwangsarbeit und der Todesstrafe sieht das Dekret 6372 auch vor, dass das Gericht, jeglichen beweglichen und unbeweglichen Besitz beschlagnahmen kann (SJAC 9.2018). Umfasst ist auch das Eigentum der Familien der Verurteilten und in einigen Fällen sogar ihrer Freunde (ÖB Damaskus 1.10.2021).
Militärgerichte und Feldgerichte
Militäroffiziere können ZivilistInnen sowohl vor Militärgerichte wie auch Feldgerichte stellen, in welchen es den Angeklagten an Prozessrechten fehlt. ZivilistInnen können zwar Berufung gegen die Entscheidungen von Militärgerichten einlegen, aber die Richter der Militärkammer des Kassationsgerichts sind letztlich dem Militär untergeordnet (FH 9.3.2023).
Militär-Feldgerichte sind geheime Gerichte, deren Richter Militärangehörige sind, die keinerlei Ausbildung oder juristischen Hintergrund haben müssen. Inhaftierte haben hierbei nicht die Möglichkeit, einen Anwalt zu beauftragen, und Anwälte können den Sitzungen nicht beiwohnen. Es gibt keine Möglichkeit zum Einspruch, und es fehlt an den Bedingungen für ein faires Gerichtsverfahren (NMFA 6.2021).
Ein befragter Experte beschrieb die Arbeit der Feldgerichte während aktiver Kämpfe in Kriegsgebieten folgendermaßen: "Feldtribunal" bedeutet nicht, dass es in einem großen Gebäude abseits der Front stattfindet, sondern es ist im Grunde ein Tisch mit drei Offizieren. Sie prüfen die Anschuldigungen, und es gibt eine sehr kurze Verhandlung, in der sie die Version der Geschichte des Angeklagten hören. Sie hören auch die Versionen der Offiziere und der Mitsoldaten, und wenn der Angeklagte beispielsweise des Hochverrats für schuldig befunden wird, kann er im Schnellverfahren hingerichtet werden, was bedeutet, dass er an die Wand gestellt und erschossen wird. Während des Konflikts ist es zu derartigen Fällen gekommen. Die Hinrichtungen werden üblicherweise von der Militärpolizei (ash-Shurta al-Askariya) oder dem Militärgeheimdienst durchgeführt (Üngör 15.12.2021).
Andere Gerichte
Die Verwaltung in den von der Regierung kontrollierten Gebieten arbeitet in Routineangelegenheiten mit einer gewissen Zuverlässigkeit, vor allem in Personenstandsangelegenheiten (AA 29.3.2023). Die religiösen Gerichte behandeln das Familien- und Personenstandsrecht und regeln Angelegenheiten wie Eheschließungen, Scheidungen, Erb- und Sorgerecht (IA 7.2017). Hierbei sind Scharia-Gerichte für sunnitische und schiitische Muslime zuständig. Drusen, Christen und Juden haben ihre eigenen gerichtlichen Strukturen. Für diese Gerichte gibt es auch eigene Berufungsgerichte (SLJ 5.9.2016). Manche Personenstandsgesetze wenden die Scharia unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Beteiligten an (USDOS 20.3.2023).
Die anhaltende Regierungskampagne zur Konfiszierung von Land und Häusern oder Beschlagnahmung ohne adäquate Entschädigung macht Land- und Immobilienbesitzrechte zu einem sensiblen Thema, bei dem die Justiz nicht unabhängig ist. In diesen Fällen dienen die Gerichte dazu, die Einziehung des Besitzes im Namen des Kampfes gegen "Terrorismus" zu legitimieren. BürgerInnen im Ausland riskieren, dass ihr Besitz beschlagnahmt wird, wenn sie vom Regime mit der Opposition in Verbindung gebracht werden und haben kaum Einspruchsmöglichkeiten. Die Verfügungen zur Durchführung der Konfiszierung werden nur in lokalen Zeitungen bekannt gegeben und sind so vom Ausland nicht zugänglich. Die Kläger müssten persönlich (bei Einsprüchen) in solchen Fällen zugegen sein (BS 23.3.2022).
Siehe hierzu auch Kapitel Korruption und das Unterkapitel Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Familienrecht, Vormundschaft und Obsorge im Kapitel Rechtsschutz / Justizwesen.
Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen
Letzte Änderung: 17.07.2023
Der Präsident stützt seine Herrschaft auf die Loyalität der Streitkräfte sowie die militärischen und zivilen Geheimdienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen definierten Beschränkungen (AA 29.3.2023). Die Regierung hat die effektive Kontrolle über die uniformierten Polizei-, Militär- und Staatssicherheitskräfte, und setzt diese zur Ausübung von Menschenrechtsverletzungen ein. Sie hat jedoch nur beschränkten Einfluss auf ausländische militärische oder paramilitärische Einheiten, z.B. russische Streitkräfte, die mit dem Iran verbündete Hizbollah und die iranischen Islamischen Revolutionsgarden, deren Mitglieder ebenfalls zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begingen (USDOS 20.3.2023).
Straflosigkeit unter den Sicherheitsbehörden bleibt ein weitverbreitetes Problem bei Sicherheitskräften, NachrichtendienstmitarbeiterInnen und auch sonst innerhalb des Regimes. In der Praxis sind keine Fälle von Strafverfolgung oder Verurteilung von Polizei- und Sicherheitskräften hinsichtlich Misshandlungen bekannt. Es gibt auch keine Berichte von Maßnahmen der Regierung, um die Einhaltung der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte zu verbessern (USDOS 20.3.2023), wenngleich im März 2022 ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet wurde (HRW 12.1.2023). Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats wie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen - ebenso wie Gefängnisse, wo Zehntausende gefoltert wurden und werden (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist, (OSS 1.10.2017), während die Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen kriminalisiert wird (USDOS 20.3.2023). Die Nachrichtendienste haben ihre traditionell starke Rolle verteidigt oder sogar weiter ausgebaut (AA 29.11.2021)AA 29.3.2023) und greifen in die Unabhängigkeit des Justizwesens ein, indem sie RichterInnen und AnwältInnen einschüchtern (USDOS 20.3.2023). Durch die Entwicklungen der letzten Jahre sind die Schutzmöglichkeiten des Individuums vor staatlicher Gewalt und Willkür – welche immer schon begrenzt waren – weiterhin deutlich verringert worden (AA 29.3.2023).
Es ist schwierig, Informationen über die Aktivitäten von spezifischen Regierungs- oder regierungstreuen Einheiten zu spezifischen Zeiten oder an spezifischen Orten zu finden, weil die Einheiten seit dem Beginn des Bürgerkrieges oft zu Einsätzen organisiert („task-organized“), bzw. aufgeteilt oder für spezielle Einsätze mit anderen Einheiten zusammengelegt werden. Berichte sprechen oft von einer speziellen Militäreinheit an einem bestimmten Einsatzort (z. B. einer Brigade), wobei die genannte Einheit aus Teilen mehrerer verschiedener Einheiten nur für diesen speziellen Einsatz oder eine gewisse Zeit zusammengestellt wurde (Kozak 28.12.2017).
Trotz grob abgesteckter Einflussgebiete überschneiden sich die Gebiete der Sicherheitsorgane und ihrer Milizen, und es herrscht Konkurrenz um Checkpoints und Handelsrouten, wo sie von passierenden ZivilistInnen und Geschäftsleuten Geld einnehmen, sowie um Gebiete, welche Rekrutierungspools von ehemaligen Oppositionskämpfern darstellen. Die Spannungen zwischen Offizieren, Soldaten, Milizionären und lokaler Polizei eskalieren in Verhaftungen niederrangiger Personen, Angriffen und Zusammenstößen sowie Anschuldigungen zufolge in Ermordungen der von der Konkurrenz angeworbenen "versöhnten" ehemaligen Oppositionskämpfer (TWP 30.7.2019). So ist z. B. Aleppo Stadt Schauplatz fallweiser Zusammenstöße zwischen Regierungsmilizen untereinander und mit Regierungssoldaten (ICG 9.5.2022).
Anm.: In den folgenden Unterkapiteln sind Informationen zu einigen wichtigen Gruppen, Einheiten, Milizen und Sicherheitsbehörden, die auf der Seite der Regierung zum Einsatz kommen, zu finden. Dies stellt jedoch keine abschließende Aufstellung dar.
Streitkräfte
Letzte Änderung: 17.07.2023
Die syrischen Streitkräfte bestehen aus dem Heer, der Marine, der Luftwaffe, den Luftabwehrkräften und den National Defense Forces (NDF, regierungstreue Milizen und Hilfstruppen). Aktuelle Daten zur Anzahl der Soldaten in der syrischen Armee existieren nicht. Vor dem Konflikt soll die aktive Truppenstärke geschätzt 300.000 Personen umfasst haben (CIA 7.2.2023). Zu Jahresbeginn 2013 war etwa ein Viertel bis ein Drittel aller Soldaten, Reservisten und Wehrpflichtigen desertiert, bzw. zur Opposition übergelaufen (zwischen 60.000-100.000 Mann). Weitere rund 50.000 Soldaten fielen durch Verwundung, Invalidität, Haft oder Tod aus. Letztlich konnte das Regime 2014 nur mehr auf rd. 70.000 bis 100.000 loyale und mittlerweile auch kampferprobte Soldaten zurückgreifen (BMLV 12.10.2022). 2014 begann die syrische Armee mit Reorganisationsmaßnahmen (MEI 18.7.2019), und seit 2016 werden irreguläre Milizen in die regulären Streitkräfte integriert, in einem Ausmaß, das je nach Quelle unterschiedlich eingeschätzt wird (CMEC 12.12.2018; Üngör 15.12.2021; Voller 9.5.2022). Mit Stand Dezember 2022 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von regierungsfreundlichen, proiranischen Milizen unterstützt, deren Truppenstärke in die Zehntausende gehen dürfte (CIA 7.2.2023). Das Offizierskorps gilt in den Worten von Kheder Khaddour als kleptokratisch, die die Armee als Institution ausgehöhlt. Den Offizieren bleibt nichts übrig, als sich an den Regimenetzwerken zu beteiligen und mit Korruption ihre niedrigen Gehälter aufzubessern. Die Praxis der Bestechung der Offiziere durch Rekruten gegen ein Decken ihrer Abwesenheit vom Dienst durch Offiziere ist so verbreitet, dass sie im Sprachgebrauch als tafyeesh oder feesh (Bezeichnung für den Personalakt, der bei einem Offizier aufliegt) bezeichnet wird. Auch der Einsatz von Rekruten für private Arbeiten für die Offiziere und deren Familien kommt vor - ebenso wie die Annahme von Geschenken oder lokalen Lebensmittelspezialitäten (CMEC 14.3.2016). Die Höhe der Geldsummen für Tafyeesh [Anm.: im Artikel auf eingezogene Reservisten und Soldaten bezogen] variieren zwar nach Einheit und Offizier, aber aufgrund der Verschlechterung der Lebensbedingungen und der zunehmenden geheimdienstlichen Kontrolle über die Militäreinheiten stiegen die verlangten Preise für Tafyeesh seit Anfang 2023, was diejenigen, welche sich dies nicht mehr leisten konnte, dazu veranlasste, zu ihren Einheiten zurückzukehren. Der Hintergrund für die monetäre Abgeltung für das Decken der abwesenden Soldaten durch ihre Offiziere ist, dass die Militärs mindestens zweimal so viel Geld benötigen, als die Löhne im öffentlichen Dienst ausmachen, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien abzudecken. Das führt dazu, dass Männer im Reserve- oder Militärdienst (retention service) mit unbestimmter Dauer auf Tafyeesh zurückgreifen. Einem Präsidialdekret von Ende Dezember 2022 zufolge verdient z.B. ein Oberleutnant regulär umgerechnet 17 US-Dollar monatlich und ein Brigadegeneral 43,5 US-Dollar pro Monat, während SoldatInnen entsprechend weniger verdienen als die Offiziersränge (Enab 7.2.2023, zu weiteren Formen der Korruption durch Mitglieder des Sicherheitsapparats siehe auch Kapitel Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung). Aufgrund der Stationierung (Hauptquartier u.a.) von Divisionen in bestimmten Gebieten im Rahmen des Quta'a-Systems [arab. Sektor, Landstück] verfügen die Divisionskommandanten über viel Freiraum in ihrer Befehlsgewalt wie auch für persönliche Vorteile. Diese Strukturierung kann von Bashar als-Assad auch genutzt werden, den Einfluss einzelner Divisionskommandeure einzuschränken, indem er sie gegeneinander ausspielt, um so das System auch zur Prävention von Militärputschen zu nutzen (CMEC 14.3.2016).
Die syrische Armee war der zentrale Faktor für das Überleben des Regimes während des Bürgerkriegs. Im Laufe des Krieges hat ihre Kampffähigkeit jedoch deutlich abgenommen (CMEC 26.3.2020a) und mit Stand September 2022 war die syrische Armee in jeglicher Hinsicht grundsätzlich auf die Unterstützung Russlands, Irans bzw. sympathisierender, vornehmlich schiitischer Milizen angewiesen – d. h. ein eigenständiges Handeln, Durchführung von Militäroperationen usw. durch Syrien sind nicht oder nur in äußerst eingeschränktem Rahmen möglich (BMLV 12.10.2022).
Das syrische Regime und damit auch die militärische Führung unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und 'rein militärischen Zielen' (BMLV 12.10.2022). Nach Experteneinschätzung trägt jeder, der in der syrischen Armee oder Luftwaffe dient, per defintionem zu Kriegsverbrechen bei, denn das Regime hat in keiner Weise gezeigt, dass es das Kriegsrecht oder das humanitäre Recht achtet. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass eine Person in eine Einheit eingezogen wird, auch wenn sie das nicht will, und somit in einen Krieg, in dem die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern nicht wirklich ernst genommen wird (Üngör 15.12.2021). Soldaten können in Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen verwickelt sein, weil das Militär in Syrien auf persönlichen Vertrauensbeziehungen, manchmal auch auf familiären Netzwerken innerhalb des Militärs beruht. Diejenigen, die Verbrechen begehen, handeln innerhalb eines vertrauten Netzwerks von Soldaten, Offizieren, Personen mit Verträgen mit der Armee und Zivilisten, die mit ihnen als nationale Verteidigungskräfte oder lokale Gruppen zusammenarbeiten (Khaddour, Kheder 24.12.2021).
Anmerkung: für Informationen zum 4. und 5. Korps der syrischen Armee s. auch Kap. Regierungstreue Einheiten, ausländische Kämpfer, russischer und iranischer Einfluss.
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 14.07.2023
Im März 2022 wurde ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet (HRW 12.1.2023). Das Gesetz Nr. 16 von 2022 sieht Strafen von drei Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe vor (OSS 18.1.2023b). Die Todesstrafe gilt für Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit einer Vergewaltigung (HRW 12.1.2023). Eine lebenslange Strafe ist für Fälle vorgesehen, in welchen Kinder oder Menschen mit Beeinträchtigungen gefoltert wurden oder das Opfer einen permanenten Schaden davonträgt (OSS 18.1.2023b). Das Gesetz verbietet auch das Anordnen von Folter durch Behörden (HRW 12.1.2023). Es weist jedoch wichtige Lücken auf, und die Anwendung bleibt unklar. So werden keine Organisationen genannt, auf welche das Gesetz angewendet werden soll. Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats einschließlich der Zollbehörden sowie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist (OSS 1.10.2017b, STJ 12.7.2022) - ebenso wie Gefängnisse (OSS 18.1.2023b). Dort wurden und werden Zehntausende gefoltert (OSS 18.1.2023b, FH 9.3.2023), und zahlreiche Menschen starben in der Haft oder man ließ sie "verschwinden" (FH 9.3.2023). SNHR kritisiert unter anderem, dass das Gesetz keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und andere Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine konkreten Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, und zwar weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022).
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden: Zehn nahe Damaskus, jeweils vier nahe Homs, Latakia und Idlib, drei nahe Dara‘a und zwei nahe Aleppo. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 29.3.2023). In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht, wo sie verschiedenen Formen von Folter unterworfen werden (SHRC 24.1.2019). Auch in den Krankenhäusern Harasta Military Hospital, Mezzeh Military Hospital 601 und Tishreen Military Hospital werden Gefangene gefoltert. Laut Berichten von NGOs gibt es zudem zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 20.3.2023).
Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 29.3.2023). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die "Versöhnungsabkommen" unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023). Auch sexueller Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern wird verübt (USDOS 20.3.2023), wobei die jüngsten Betroffenen erst elf Jahre alt waren (HRW 13.1.2022). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 29.3.2023; vgl. bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021). Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen bei Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt (AA 29.3.2023). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beträgt die Gesamtzahl der durch Folter seitens der syrischen Regierung seit März 2011 verstorbenen Personen mit Stand Juni 2022 14.464 Menschen, darunter 174 Kinder und 75 Frauen (SNHR 26.6.2022). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 29.3.2023).
Die meisten der im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.3.2023).
Eine realistische Möglichkeit zur Einforderung einer strafrechtlichen Verfolgung von Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte besteht nicht. Gegenwärtig können sich der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin in keiner Weise gegen die staatlichen Willkürakte zur Wehr setzen. Bis zur Vorführung vor einem Richter können nach Inhaftierung mehrere Monate vergehen, in dieser Zeit besteht in der Regel keinerlei Kontakt zu Familienangehörigen oder Anwälten. Bereits vor März 2011 gab es glaubhafte Hinweise, dass Personen, die sich über die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür strafrechtlich verfolgt bzw. wiederholt selbst Opfer solcher Praktiken zu werden (AA 29.3.2023).
Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen, der Folter von Inhaftierten (darunter laut SNHR drei Todesfälle durch Folter im Jahr 2022), Verschwindenlassen und willkürlicher Verhaftungen beschuldigt. Opfer sind vor allem Personen, die der Regimetreue verdächtigt werden, Kollaborateure und Mitglieder von regimetreuen Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Die Berichte dazu betreffen u. a. HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham), SNA (Syrian National Army) und SDF (Syrian Democratic Forces) (USDOS 20.3.2023). Im Fall von Folteropfer der SDF starben im Zeitraum Januar 2014 bis Juni 2022 SNHR zufolge mindestens mindestens 83 Menschen durch Folter, darunter ein Kind und zwei Frauen (SNHR 26.6.2022).
Anmerkung: Für weitere Informationen zu den Arten und Ausmaß der jeweiligen Menschenrechtsverletzungen siehe auch das Kapitel zur Sicherheitslage sowie besonders die Kapitel zur Menschenrechtslage und zur Todesstrafe sowie das Kapitel Haftbedingungen. Zu Amnestien siehe Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen im Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst.
Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen
Letzte Änderung: 14.07.2023
Anmerkungen:
In den folgenden Kapiteln kann aufgrund der Vielzahl an bewaffneten Gruppen nur auf die Rekrutierungspraxis eines Teils der Organisationen eingegangen werden.
Darin wird der Begriff „Militärdienst“ als Überbegriff für Wehr- und Reservedienst verwendet. Wo es die Quellen zulassen, wird versucht, klar zwischen Wehr- und Reservedienst bzw. zwischen Desertion und Wehrdienstverweigerung zu unterscheiden.
Siehe auch Kapitel "Länderspezifische Anmerkungen".
Zu den Themen Wehrdienst und Desertion darf auch auf die folgenden Anfragebeantwortungen verwiesen werden (abrufbar auf ecoi.net sowie dem Koordinationsboard (KoBo) der Staatendokumentation:
In Gebieten unter Kontrolle der syrischen Regierung:
SYRI_SM_Wehrdienst_2022_01_27_KE
SYRI_SM_MIL_Fragen+BVwG+Wehrdienstgesetze_2022_09_16_KE
SYRI_SM_MIL_Fragen+BVwG+Bestrafung+Wehrdienstverweigerung,+Desertion_2022_09_16_KE
Anfragebeantwortung zu Syrien: Wehrdienstverweigerung und Desertion [a-11951] (ACCORD)
SYRI_SM_MIL_Einberufung_über_syrische_Botschaft_2023_03_21_K
SYRI_RF_MLD_Kommunalbediensteten Ausreisemöglichkeiten, Kontrolle und dienstrechtliche Folgen einer unerlaubten Auslandsreise_2023_03_29_K
SYRI_RF_MLD_Zivile Angestellte des öffentlichen Diensts Ausreisemöglichkeiten, Kontrolle und dienstrechtliche Folgen einer unerlaubten Auslandsreise_2023_03_28_K
Anfragebeantwortung zu Syrien: Genehmigung der Ausreise eines Staatsangestellten durch den Vorgesetzten; Kontrolle bei Ausreise; Folgen illegaler Ausreise und zuständige Behörde; Folgen bei unerlaubtem Fernbleiben vom Arbeitsplatz; Ausreisegenehmigung für männliche Staatsangestellte im wehrdienstpflichtigen Alter [a-12103-1] (ACCORD)
Anfragebeantwortung zu Syrien: Reisepässe der syrischen Regierung für Männer im wehrdienstfähigen Alter; mögliches Sicherheitsrisiko für diese Personengruppe, im Ausland (insbesondere in der Türkei) einen Reisepass zu beantragen [a-12067-1] (ACCORD)
Anfragebeantwortung zu Syrien: Unterliegen Palästinenser, die den Wehrdienst absolviert haben, auch einer Pflicht zum Reservedienst? (ACCORD)
Anfragebeantwortung zu Syrien: Tauglichkeitskriterien der syrischen Armee; Einsatz von Wehrpflichtigen mit starker Sehschwäche [a-11869] (ACCORD)
SYRI_RF_MLD_Staatenlosigkeit_2022_12_15_KE
Anfragebeantwortung zu Syrien: Restriktionen bei der Beschaffung von Dokumenten für Syrer im Ausland im Wehrpflichtsalter, die der Wehrpflicht nicht nachgekommen sind und keine Ersatzzahlungen geleistet haben [a-11903] (ACCORD)
Anfragebeantwortung zu Syrien: Möglichkeit eines Familienbesuchs ohne Sanktionen trotz nicht abgeleisteten Militärdienst [a-11857-1] (ACCORD)
Anfragebeantwortung zu Syrien: Abgabe des Wehrdienstbuches und des Personalausweises zu Beginn des Wehrdienstes und Einbehaltung der Dokumente bis zur Ausmusterung von der Militärbehörde [a-11840] (ACCORD)
Anfragebeantwortung zu Syrien: Zöllner als Teil des Sicherheitsapparats, Desertion, militärische und polizeiliche Aufgaben von Zöllnern im Krieg [a-11786] (ACCORD)
In Gebieten außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung:
SYRI_SM_MIL_ergänzende+AFB+zu+Wehrdienstpflicht+in+Gebieten+außerhalb+Regierungskontrolle+2022_10_14_KE
SYRI_SM_MIL_Zwangsrekrutierung,+Kontrolle+Idlib_2022_03_17_KE
SYRI_MIL_Zwangsrekrutierung+von+Frauen+für+YBJ+bzw.+SDF_2022_09_22_KE
SYRI_SM_Rekrutierungspraxis YPG_2023_03_02_KE
Anfragebeantwortung zu Syrien: Höchstalter für die „Wehrpflicht“ im kurdischen Selbstverwaltungsgebiet; unterlagen Altersvorgaben für „Wehrpflicht“ seit ihrer Einführung Schwankungen/Änderungen? [a-11932] (ACCORD)
Anfragebeantwortung zu Syrien: Stadt Ar-Raqqa: Bedrohung von Kommunalbediensteten bzw. insbesondere von Fahrern für die staatliche/städtische Müllentsorgung oder Angestellten in der Wasserversorgung durch die kurdische Selbstverwaltung (Autonomous Administration of North and East Syria - AANES) [a-12103-2] (ACCORD)
Anfragebeantwortung zu Syrien: Zwangsrekrutierung von Erwachsenen durch die Syrische Nationale Armee (SNA) oder andere oppositionelle militärische Gruppierungen in Dscharabulus; Personengruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit von derartigen Rekrutierungen; Sanktionen gegen Personen, die eine Rekrutierung verweigern; Unterstellung oppositioneller Gesinnung im Falle einer Verweigerung; Zugriffsmöglichkeiten der syrischen Armee auf wehrdienstpflichtige Personen in Dscharabulus [a-12101] (ACCORD)
Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst
Letzte Änderung: 14.07.2023
Rechtliche Bestimmungen
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB Damaskus 12.2022). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Polizeidienst wird im Rahmen des Militärdienstes organisiert. Eingezogene Männer werden entweder dem Militär oder der Polizei zugeteilt (AA 29.3.2023). In der Vergangenheit wurde es auch akzeptiert, sich, statt den Militärdienst in der syrischen Armee zu leisten, einer der bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppierung anzuschließen. Diese werden inzwischen teilweise in die Armee eingegliedert, jedoch ohne weitere organisatorische Integrationsmaßnahmen zu setzen oder die Kämpfer auszubilden (ÖB Damaskus 12.2022). Wehrpflichtige und Reservisten können im Zuge ihres Wehrdienstes bei der Syrischen Arabischen Armee (SAA) auch den Spezialeinheiten (Special Forces), der Republikanischen Garde oder der Vierten Division zugeteilt werden, wobei die Rekruten den Dienst in diesen Einheiten bei Zuteilung nicht verweigern können (DIS 4.2023). Um dem verpflichtenden Wehrdienst zu entgehen, melden sich manche Wehrpflichtige allerdings aufgrund der höheren Bezahlung auch freiwillig zur Vierten Division, die durch die von ihr kontrollierten Checkpoints Einnahmen generiert (EB 17.1.2023). Die 25. (Special Tasks) Division (bis 2019: Tiger Forces) rekrutiert sich dagegen ausschließlich aus Freiwilligen (DIS 4.2023).
Ausnahmen von der Wehrpflicht bestehen für Studenten, Staatsangestellte, aus medizinischen Gründen und für Männer, die die einzigen Söhne einer Familie sind. Insbesondere die Ausnahmen für Studenten können immer schwieriger in Anspruch genommen werden. Fallweise wurden auch Studenten eingezogen. In letzter Zeit mehren sich auch Berichte über die Einziehung von Männern, die die einzigen Söhne einer Familie sind (ÖB Damaskus 12.2022).
Die im März 2020, Mai 2021 und Jänner 2022 vom Präsidenten erlassenen Generalamnestien umfassten auch einen Straferlass für Vergehen gegen das Militärstrafgesetz, darunter Fahnenflucht. Die Verpflichtung zum Wehrdienst bleibt davon unberührt (ÖB Damaskus 12.2022).
Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen (AA 29.3.2023). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023; vgl. ICWA 24.5.2022).
Männliche Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge, die zwischen 1948 und 1956 nach Syrien kamen und als solche bei der General Administration for Palestinian Arab Refugees (GAPAR) registriert sind (NMFA 5.2022), bzw. palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht (AA 13.11.2018; vgl. Action PAL 3.1.2023, ACCORD 21.9.2022). Ihren Wehrdienst leisten sie für gewöhnlich in einer Unterabteilung der syrischen Armee, die den Namen Palästinensische Befreiungsarmee trägt: Palestinian Liberation Army (PLA) (BAMF 2.2023, (AA 13.11.2018; vgl. ACCORD 21.9.2022). Es konnten keine Quellen gefunden werden, die angeben, dass Palästinenser vom Reservedienst ausgeschlossen seien (ACCORD 21.9.2022; vgl. BAMF 2.2023).
Frauen können als Berufssoldatinnen dem syrischen Militär beitreten. Dies kommt in der Praxis tatsächlich vor, doch stoßen die Familien oft auf kulturelle Hindernisse, wenn sie ihren weiblichen Verwandten erlauben, in einem so männlichen Umfeld zu arbeiten. Dem Vernehmen nach ist es in der Praxis häufiger, dass Frauen in niedrigeren Büropositionen arbeiten als in bewaffneten oder leitenden Funktionen. Eine Quelle erklärt dies damit, dass Syrien eine männlich geprägte Gesellschaft ist, in der Männer nicht gerne Befehle von Frauen befolgen (NMFA 5.2022).
Die syrische Regierung hat im Jahr 2016 begonnen, irreguläre Milizen im begrenzten Ausmaß in die regulären Streitkräfte zu integrieren (CMEC 12.12.2018). Mit Stand Mai 2023 werden die regulären syrischen Streitkräfte immer noch von zahlreichen regierungsfreundlichen Milizen unterstützt (CIA 9.5.2023). Frauen sind auch regierungsfreundlichen Milizen beigetreten. In den Reihen der National Defence Forces (NDF) dienen ca. 1.000 bis 1.500 Frauen, eine vergleichsweise geringe Anzahl. Die Frauen sind an bestimmten Kontrollpunkten der Regierung präsent, insbesondere in konservativen Gebieten, um Durchsuchungen von Frauen durchzuführen (FIS 14.12.2018).
Die Umsetzung
Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020). Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Wenn bei der medizinischen Untersuchung ein gesundheitliches Problem festgestellt wird, wird man entweder vom Wehrdienst befreit oder muss diesen durch Tätigkeiten, die nicht mit einer Teilnahme an einer Kampfausbildung bzw. -einsätzen verbunden sind, ableisten. Wenn eine Person physisch tauglich ist, wird sie entsprechend ihrer schulischen bzw. beruflichen Ausbildung eingesetzt. Die Rekruten müssen eine 45-tägige militärische Grundausbildung absolvieren. Männer mit niedrigem Bildungsstand werden häufig in der Infanterie eingesetzt, während Männer mit einer höheren Bildung oft in prestigeträchtigeren Positionen eingesetzt werden. Gebildetere Personen kommen damit auch mit höherer Wahrscheinlichkeit in Positionen, in denen sie über andere Personen Bericht erstatten oder diese bestrafen müssen (STDOK 8.2017).
Obwohl die offizielle Wehrdienstzeit etwa zwei Jahre beträgt, werden Wehrpflichtige in der Praxis auf unbestimmte Zeit eingezogen (NMFA 5.2022; vgl. AA 29.3.2022), wobei zuletzt von einer "Verkürzung" des Wehrdienstes auf 7,5 Jahre berichtet wurde. Die tatsächliche Dauer richtet sich laut UNHCR Syrien jedoch nach Rang und Funktion der Betreffenden (ÖB Damaskus 12.2022). Personen, die aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse von großem Wert für die Armee und nur schwer zu ersetzen sind, können daher über Jahre hinweg im Militärdienst gehalten werden. Personen, deren Beruf oder Fachwissen in der Gesellschaft sehr gefragt ist, wie z.B. Ärzte, dürfen eher nach Ablauf der offiziellen Militärdienstzeit ausscheiden (NMFA 5.2022).
Seit März 2020 hat es in Syrien keine größeren militärischen Offensiven an den offiziellen Frontlinien mehr gegeben. Scharmützel, Granatenbeschuss und Luftangriffe gingen weiter, aber die Frontlinien waren im Grunde genommen eingefroren. Nach dem Ausbruch von COVID-19 und der Einstellung größerer Militäroperationen in Syrien Anfang 2020 verlangsamten sich Berichten zufolge die militärischen Rekrutierungsmaßnahmen der SAA. Die SAA berief jedoch regelmäßig neue Wehrpflichtige und Reservisten ein. Im Oktober 2021 wurde ein Rundschreiben herausgegeben, in dem die Einberufung von männlichen Syrern im wehrpflichtigen Alter angekündigt wurde. Auch in den wiedereroberten Gebieten müssen Männer im wehrpflichtigen Alter den Militärdienst ableisten (EUAA 9.2022). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt aufgrund von Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger und zahlreicher Verluste durch Kampfhandlungen unverändert hoch (AA 29.3.2023).
Rekrutierungspraxis
Junge Männer werden an Kontrollstellen (Checkpoints) sowie unmittelbar an Grenzübergängen festgenommen und zwangsrekrutiert (AA 29.3.2023; vgl. NMFA 5.2022), wobei es in den Gebieten unter Regierungskontrolle zahlreiche Checkpoints gibt (NMFA 5.2022; vgl. NLM 29.11.2022). Im September 2022 wurde beispielsweise von der Errichtung eines mobilen Checkpoints im Gouvernement Dara'a berichtet, an dem mehrere Wehrpflichtige festgenommen wurden (SO 12.9.2022). In Homs führte die Militärpolizei gemäß einem Bericht aus dem Jahr 2020 stichprobenartig unvorhersehbare Straßenkontrollen durch. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 6.3.2020). Im Jänner 2023 wurde berichtet, dass Kontrollpunkte in Homs eine wichtige Einnahmequelle der Vierten Division seien (EB 17.1.2023).
Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Lokale Medien berichteten, dass die Sicherheitskräfte der Regierung während der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2022 mehrere Cafés, Restaurants und öffentliche Plätze in Damaskus stürmten, wo sich Menschen versammelt hatten, um die Spiele zu sehen, und Dutzende junger Männer zur Zwangsrekrutierung festnahmen (USDOS 20.3.2023).
Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z. B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. ICG 9.5.2022, EB 6.3.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden (DIS 5.2020). Das Gesetz verbietet allerdings die Publikation jeglicher Informationen über die Streitkräfte (USDOS 20.3.2023).
Unbestätigten Berichten zufolge wird der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit informiert, wenn die Gründe für einen Aufschub nicht mehr gegeben sind, und diese werden auch digital überprüft. Früher mussten die Studenten den Status ihres Studiums selbst an das Militär melden, doch jetzt wird der Status der Studenten aktiv überwacht (STDOK 8.2017). Generell werden die Universitäten nun strenger überwacht und sind verpflichtet, das Militär über die An- oder Abwesenheit von Studenten zu informieren (STDOK 8.2017; vgl. FIS 14.12.2018). Berichten zufolge wurden Studenten trotz einer Ausnahmegenehmigung gelegentlich an Kontrollpunkten rekrutiert (FIS 14.12.2018).
Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Anfang April 2023 wurde beispielsweise von verstärkten Patrouillen der Regierungsstreitkräfte im Osten Dara'as berichtet, um Personen aufzugreifen, die zum Militär- und Reservedienst verpflichtet sind (ETANA 4.4.2023). Glaubhaften Berichten zufolge gab es Zwangsrekrutierungen junger Männer durch syrische Streitkräfte auch unmittelbar im Kampfgebiet (AA 4.12.2020).
Während manche Quellen berichten, dass sich die syrische Regierung bei der Rekrutierung auf Alawiten und regierungstreue Gebiete konzentrierte (EASO 4.2021), berichten andere, dass die syrische Regierung Alawiten und Christen nun weniger stark in Anspruch nimmt (ÖB Damaskus 12.2022; vgl. EASO 4.2021). Da die Zusammensetzung der syrisch-arabischen Armee ein Spiegelbild der syrischen Bevölkerung ist, sind ihre Wehrpflichtigen mehrheitlich sunnitische Araber, die vom Regime laut einer Quelle als "Kanonenfutter" im Krieg eingesetzt wurden. Die sunnitisch-arabischen Soldaten waren (ebenso wie die alawitischen Soldaten und andere) gezwungen, den größeren Teil der revoltierenden sunnitisch-arabischen Bevölkerung zu unterdrücken. Der Krieg forderte unter den alawitischen Soldaten bezüglich der Anzahl der Todesopfer einen hohen Tribut, wobei die Eliteeinheiten der SAA, die Nachrichtendienste und die Shabiha-Milizen stark alawitisch dominiert waren (Al-Majalla 15.3.2023).
Im Rahmen sog. lokaler "Versöhnungsabkommen" in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben (AA 29.3.2023).
Rekrutierung von Personen aus Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle
Nach dem Abkommen zwischen den Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung Mitte Oktober 2019, das die Stationierung von Truppen der syrischen Regierung in zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten vorsah, wurde berichtet, dass syrische Kurden aus dem Gebiet in den Irak geflohen sind, weil sie Angst hatten, in die SAA eingezogen zu werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Absolvierung des "Wehrdiensts" gemäß der "Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien" [Autonomous Administration of North and East Syria (AANES)] befreit nicht von der nationalen Wehrpflicht in Syrien. Die syrische Regierung verfügt über mehrere kleine Gebiete im Selbstverwaltungsgebiet. In Qamishli und al-Hassakah tragen diese die Bezeichnung "Sicherheitsquadrate" (Al-Morabat Al-Amniya), wo sich verschiedene staatliche Behörden, darunter auch solche mit Zuständigkeit für die Rekrutierung befinden. Während die syrischen Behörden im Allgemeinen keine Rekrutierungen im Selbstverwaltungsgebiet durchführen können, gehen die Aussagen über das Rekrutierungsverhalten in den Regimeenklaven bzw. "Sicherheitsquadraten" auseinander - auch bezüglich etwaiger Unterschiede zwischen dort wohnenden Wehrpflichtigen und Personen von außerhalb der Enklaven, welche die Enklaven betreten (DIS 6.2022). Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass die syrische Regierung in den Gebieten unter Kontrolle der Selbstverwaltung dort rekrutieren kann, wo sie im "Sicherheitsquadrat" im Zentrum der Gouvernements präsent ist, wie z. B. in Qamishli oder in Deir ez-Zor (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein befragter Militärexperte gab dagegen an, dass die syrische Regierung grundsätzlich Zugriff auf die Wehrpflichtigen in den Gebieten unter der Kontrolle der PYD [Partiya Yekîtiya Demokrat] hat, diese aber als illoyal ansieht und daher gar nicht versucht, sie zu rekrutieren (BMLV 12.10.2022). Männer im wehrpflichtigen Alter, die sich zwischen den Gebieten unter Kontrolle der SDF und der Regierungstruppen hin- und herbewegen, können von Rekrutierungsmaßnahmen auf beiden Seiten betroffen sein, da keine der beiden Seiten die Dokumente der anderen Seite [z.B. über einen abgeleisteten Wehrdienst, Aufschub der Wehrpflicht o.ä.] anerkennt (EB 15.8.2022).
Das Gouvernement Idlib befindet sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung, die dort keine Personen einberufen kann (Rechtsexperte 14.9.2022), mit Ausnahme einiger südwestlicher Sub-Distrikte (Nahias) des Gouvernements, die unter Regierungskontrolle stehen (ACLED 1.12.2022; vgl. Liveuamap 17.5.2023). Die syrische Regierung kontrolliert jedoch die Melderegister des Gouvernements Idlib (das von der syrischen Regierung in das Gouvernement Hama verlegt wurde), was es ihr ermöglicht, auf die Personenstandsdaten junger Männer, die das Rekrutierungsalter erreicht haben, zuzugreifen, um sie für die Ableistung des Militärdienstes auf die Liste der "Gesuchten" zu setzen. Das erleichtert ihre Verhaftung zur Rekrutierung, wenn sie das Gouvernement Idlib in Richtung der Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung verlassen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army, SNA) ist die zweitgrößte Oppositionspartei, die sich auf das Gouvernement Aleppo konzentriert. Sie wird von der Türkei unterstützt und besteht aus mehreren Fraktionen der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army, FSA). Sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in Nordsyrien, wird aber von politischen Analysten bisweilen als türkischer Stellvertreter gebrandmarkt. Die SNA hat die Kontrolle über die von der Türkei gehaltenen Gebiete (Afrin und Jarabulus) in Syrien und wird von der Türkei geschützt. Die syrische Regierung unterhält keine Präsenz in den von der Türkei gehaltenen Gebieten und kann keine Personen aus diesen Gebieten für die Armee rekrutieren, es sei denn, sie kommen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Auch mit Stand Februar 2023 hat die syrische Armee laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten keine Zugriffsmöglichkeit auf wehrdienstpflichtige Personen in Jarabulus (ACCORD 20.3.2023).
Reservedienst
Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden. Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung) (STDOK 8.2017). Reservisten können laut Gesetz bis zum Alter von 42 Jahren mehrfach zum Militärdienst eingezogen werden. Die syrischen Behörden ziehen weiterhin Reservisten ein (NMFA 5.2022). Die Behörden berufen vornehmlich Männer bis 27 ein, während ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise nach oben angehoben, sodass auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen wurden bzw. Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen können (ÖB Damaskus 12.2022). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab als von allgemeinen Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen Über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020). Das niederländische Außenministerium berichtet unter Berufung auf vertrauliche Quellen, dass Männer über 42 Jahre, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten, Gefahr laufen, verhaftet zu werden, um sie zum Reservedienst zu bewegen. Männer, auch solche über 42 Jahren, werden vor allem in Gebieten, die zuvor eine Zeit lang nicht unter der Kontrolle der Behörden standen, als Reservisten eingezogen. Dies soll eine Form der Vergeltung oder Bestrafung sein. Personen, die als Reservisten gesucht werden, versuchen, sich dem Militärdienst durch Bestechung zu entziehen oder falsche Bescheinigungen zu erhalten, gemäß derer sie bei inoffiziellen Streitkräften, wie etwa regierungsfreundlichen Milizen, dienen (NMFA 5.2022).
Rekrutierungsbedarf und partielle Demobilisierung
Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Mit der COVID-19-Pandemie und der Beendigung umfangreicher Militäroperationen im Nordwesten Syriens im Jahr 2020 haben sich die groß angelegten militärischen Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in den von ihr kontrollierten Gebieten jedoch verlangsamt (COAR 28.1.2021), und im Jahr 2021 hat die syrische Regierung damit begonnen, Soldaten mit entsprechender Dienstzeit abrüsten zu lassen. Nichtsdestotrotz wird die syrische Armee auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten, nicht nur zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebs, sondern auch, um eingeschränkt militärisch operativ sein zu können. Ein neuerliches "Hochfahren" dieses Systems scheint derzeit [Anm.: Stand 16.9.2022] nicht wahrscheinlich, kann aber vom Regime bei Notwendigkeit jederzeit wieder umgesetzt werden (BMLV 12.10.2022).
In Syrien besteht seit 2011 de facto eine unbefristete Wehrpflicht (AA 29.3.2023), nachdem die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten einstellte. Als die Regierung große Teile des Gebiets von bewaffneten Oppositionellen zurückerobert hatte, wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren (DIS 5.2020). Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte, und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020). Zuletzt erließ der syrische Präsident einen ab Oktober 2022 geltenden Verwaltungserlass mit Blick auf die unteren Ebenen der Militärhierarchie, der die Beibehaltung und Einberufung von bestimmten Offizieren und Reserveoffiziersanwärtern, die für den obligatorischen Militärdienst gemeldet sind, beendete. Bestimmte Offiziere und Offiziersanwärter, die in der Wehrpflicht stehen, sind zu demobilisieren, und bestimmte Unteroffiziere und Reservisten dürfen nicht mehr weiterbeschäftigt oder erneut einberufen werden (TIMEP 17.10.2022; vgl. SANA 27.8.2022). Ziel dieser Beschlüsse ist es, Hochschulabsolventen wie Ärzte und Ingenieure dazu zu bewegen, im Land zu bleiben (TIMEP 17.10.2022). Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020, vgl. NMFA 5.2022).
Einsatz von Rekruten im Kampf
Grundsätzlich vermeidet es die syrische Armee, neu ausgebildete Rekruten zu Kampfeinsätzen heranzuziehen, jedoch können diese aufgrund der asymmetrischen Art der Kriegsführung mit seinen Hinterhalten und Anschlägen, wie zuletzt beispielsweise in Dara'a, trotzdem in Kampfhandlungen verwickelt werden (BMLV 12.10.2022). Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Alle Eingezogenen können dagegen laut EUAA (European Union Agency for Asylum) unter Berufung auf einen Herkunftsländerbericht vom April 2021 potenziell an die Front abkommandiert werden. Ihr Einsatz hängt vom Bedarf der Armee für Truppen sowie von den individuellen Qualifikationen der Eingezogenen und ihrem Hintergrund oder ihrer Kampferfahrung ab. Eingezogene Männer aus "versöhnten" Gebieten werden disproportional oft kurz nach ihrer Einberufung mit minimaler Kampfausbildung als Bestrafung für ihre Illoyalität gegenüber dem Regime an die Front geschickt. Reservisten werden in (vergleichsweise) kleinerer Zahl an die Front geschickt (EUAA 2.2023). [Anm.: In welcher Relation die Zahl der Reservisten zu den Wehrpflichtigen steht, geht aus dem Bericht nicht hervor.]
Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts
Letzte Änderung: 14.07.2023
Siehe auch Kapitel "Länderspezifische Anmerkungen".
Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS 5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind. Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Diese Ausnahmen sind theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr Beschränkungen [als vor dem Konflikt] und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt werden (FIS 14.12.2018). Das Risiko der Willkür ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017).
Einem von der European Union Asylum Agency (EUAA) befragten syrischen Akademiker zufolge werden Männer mit deutlich sichtbaren medizinischen Problemen, die nicht wehrdiensttauglich sind, weiterhin freigestellt. Die medizinischen Ausschüsse, welche die Personen untersuchen, sind jedoch eher streng in ihren Urteilen. In einigen Fällen wurden Männer mit einem bestimmten Gesundheitszustand dennoch in die Armee einberufen, um militärische Tätigkeiten außerhalb des Feldes auszuüben (EUAA 9.2022). Einer vom niederländischen Außenministerium befragten Quelle zufolge werden medizinische Befreiungen häufig ignoriert und die Betroffenen müssen dennoch ihren Wehrdienst ableisten (NMFA 5.2022). Die tatsächliche Handhabung der Tauglichkeitskriterien ist schwer eruierbar, da sie von den Entscheidungen der medizinischen Ausschüsse abhängen (DIS 5.2020).
Seit einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Juli 2019 ist die Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich und kann durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB Damaskus 12.2022). Es gibt Beispiele, wo Männer sich durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern vom Wehrdienst freigekauft haben, was jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet werden kann. So war es vor dem Konflikt gängige Praxis, sich vom Wehrdienst freizukaufen, was einen aber nicht davor schützt – manchmal sogar Jahre danach – trotzdem eingezogen zu werden (STDOK 8.2017). Auch berichtet eine Quelle, dass Grenzbeamte von Rückkehrern trotz entrichteter [offizieller] Befreiungsgebühr Bestechungsgelder verlangen könnten, oder dass Personen mit gesundheitlichen Problemen, die eigentlich vom Wehrdienst befreit sein sollten, mitunter Bestechungsgelder bezahlen müssen, um eine Befreiung zu erwirken (DIS 5.2020).
Polizeidienst als Befreiung vom Wehrdienst
Gemäß Abschnitt 12 des Wehrpflichtgesetzes war eine Person vom Wehrdienst befreit, wenn sie mindestens zehn Jahre in den Diensten der inneren Sicherheit stand, einschließlich der Polizei. Diese Frist wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 1 von 2012 auf fünf Jahre verkürzt. Hat eine Person nicht die vollen fünf Jahre gedient, muss sie dennoch ihren Militärdienst ableisten. Wer bei der Polizei akzeptiert wird, unterschreibt jedoch einen Zehnjahresvertrag. Es ist auch möglich, dass ein Rekrut der Polizei beitritt und dort seinen Militärdienst ableistet, da die internen Sicherheitsdienste gemäß Artikel 10 des Wehrpflichtgesetzes zu den syrischen Streitkräften gezählt werden. Wenn eine Person der Polizei beitritt, wird das Rekrutierungsbüro, dem sie untersteht, angewiesen, sie nicht zum Militärdienst einzuberufen (NMFA 5.2022).
Rechtlich gesehen ist es möglich, aus dem Polizeidienst auszutreten. Die Kündigung muss samt einer Erklärung über die Gründe eingereicht werden. Alle Rücktrittsgesuche werden auf der Grundlage einer Sicherheitsanalyse geprüft. In der Praxis werden die meisten Anträge aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Polizeibeamte können während der ersten zehn Jahre ihres Vertrags de facto nicht kündigen. Eine Laufbahn innerhalb des erweiterten Sicherheitsapparats ist grundsätzlich auf Lebenszeit angelegt und es ist nicht üblich, eine solche Position vorzeitig zu verlassen. Bei einer Laufbahn in einer Sicherheitsbehörde ist es laut einer Quelle praktisch unmöglich, die Erlaubnis zur Kündigung zu erhalten. Das unerlaubte Verlassen eines Polizeidienstpostens wird als eine Form der Desertion angesehen, die mit Strafe bedroht werden kann. Es gibt unterschiedliche Angaben darüber, welches Gesetz in diesem Fall gilt (NMFA 5.2022). Zollbeamte gelten im Rahmen ihrer Zuständigkeit als allgemeine Sicherheitskräfte und Kriminalbeamte (ACCORD 17.1.2022).
Anm.: Zur Rolle des Sicherheitsapparats im Laufe des Kriegs und bei Menschenrechtsverletzungen siehe die Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage, Folter und unmenschliche Behandlung, Hinrichtungen und außergerichtliche Tötungen sowie das Kapitel Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen.
Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland
Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern und registrierten Palästinensern aus Syrien im Militärdienstalter (18-42 Jahre) und mit Wohnsitz im Ausland, eine Gebühr ("badal an-naqdi") zu entrichten, um von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Bis 2020 konnten Männer, die sich mindestens vier aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, einen Betrag von 8.000 US-Dollar zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (DIS 5.2020), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 2.9.2019; vgl. SB Berlin o.D.). Im November 2020 wurde mit dem Gesetzesdekret Nr. 31 (Rechtsexperte 14.9.2022) die Dauer des erforderlichen Auslandsaufenthalts auf ein Jahr reduziert und die Gebühr erhöht (NMFA 6.2021). Das Wehrersatzgeld ist nach der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im November 2020 gestaffelt nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre). Bei einem Aufenthalt ab fünf Jahren kommen pro Jahr weitere 200 USD Strafgebühr hinzu. Laut der Einschätzung verschiedener Organisationen dient die Möglichkeit der Zahlung des Wehrersatzgeldes für Auslandssyrer maßgeblich der Generierung ausländischer Devisen (AA 29.3.2023).
Für außerhalb Syriens geborene Syrer im wehrpflichtigen Alter, welche bis zum Erreichen des wehrpflichtigen Alters dauerhaft und ununterbrochen im Ausland lebten, gilt eine Befreiungsgebühr von 3.000 USD. Wehrpflichtige, die im Ausland geboren wurden und dort mindestens zehn Jahre vor dem Einberufungsalter gelebt haben, müssen einen Betrag von 6.500 USD entrichten (Rechtsexperte 14.9.2022). Ein Besuch von bis zu drei Monaten in Syrien wird dabei nicht als Unterbrechung des Aufenthalts einer Person in dem fremden Land gewertet. Für jedes Jahr, in welchem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den Wehrdienst aufschiebt oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an (DIS 5.2020; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022). Auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, können Quellen zufolge durch die Zahlung der Gebühr vom Militärdienst befreit werden (NMFA 5.2022; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022). Diese müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor durch einen individuellen "Versöhnungsprozess" bereinigen (NMFA 5.2022).
Informationen über den Prozess der Kompensationszahlung können auf den Webseiten der syrischen Botschaften in Ländern wie Deutschland, Ägypten, Libanon und der Russischen Föderation aufgerufen werden. Bevor die Zahlung durchgeführt wird, kontaktiert die Botschaft das syrische Verteidigungsministerium, um eine Genehmigung zu erhalten. Dabei wird ermittelt, ob die antragstellende Person sich vom Wehrdienst freikaufen kann (NMFA 5.2020). Die syrische Botschaft in Berlin gibt beispielsweise an, dass u. a. ein Reisepass oder Personalausweis sowie eine Bestätigung der Ein- und Ausreise vorgelegt werden muss (SB Berlin o.D.), welche von der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde ausgestellt wird ("bayan harakat"). So vorhanden, sollten die Antragsteller auch das Wehrbuch oder eine Kopie davon vorlegen (Rechtsexperte 14.9.2022).
Offiziell ist dieser Prozess relativ einfach, jedoch dauert er in Wirklichkeit sehr lange, und es müssen viele zusätzliche Kosten aufgewendet werden, unter anderem Bestechungsgelder für die Bürokratie. Beispielsweise müssen junge Männer, die mit der Opposition in Verbindung standen, aber aus wohlhabenden Familien kommen, wahrscheinlich mehr bezahlen, um vorab ihre Akte zu bereinigen (Balanche 13.12.2021).
Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdienstes
Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in Syrischen Pfund leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2.000 USD oder das Äquivalent in Syrischen Pfund nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird wie ein ganzes Jahr gerechnet (SANA 8.11.2017; vgl. PAR 15.11.2017).
Diese mit dem Gesetz Nr. 35 vom 15.11.2017 beschlossene Änderung ermöglicht es der Direktion für militärische Rekrutierung, Vermögen wie Immobilien und bewegliche Güter von syrischen Männern zu beschlagnahmen, die ihren Verpflichtungen zur Ableistung des Militärdienstes nicht nachgekommen sind. Gesetz Nr. 39 vom 24.12.2019 zur Änderung von Artikel 97 des Wehrdienstgesetzes Nr. 30 aus dem Jahr 2007 veränderte die Art der vorgesehenen Beschlagnahmung. Es ermöglicht die Beschlagnahme von Eigentum von Männern, die das 42. Lebensjahr vollendet haben und weder den Militärdienst abgeleistet noch die Kompensationszahlung von 8.000 USD ordnungsgemäß beglichen haben, oder von deren Ehefrauen oder Kindern, ohne dass die betroffenen Personen davon in Kenntnis gesetzt werden. Derzeit kann das Vermögen dieser Person vorsorglich beschlagnahmt werden, was bedeutet, dass es weder verkauft noch an eine andere Partei übertragen werden kann. Das Vermögen kann ohne weitere Ankündigung vom Staat versteigert werden, anstatt es bis zu einer Lösung der Frage einzufrieren. Der Staat kann den geschuldeten Betrag aus der Versteigerung einbehalten und den Restbetrag (falls vorhanden) an die Person zurückzahlen, deren Eigentum versteigert wurde. Erreicht das Vermögen des Mannes nicht den Wert der Kompensationszahlung, kann das gleiche Versteigerungsverfahren auf das Vermögen seiner Frau oder seiner Kinder angewandt werden, bis der Wert der Gebühr erreicht ist (Rechtsexperte 14.9.2022).
Unter anderem wurde auch berichtet, dass Palästinensern, die keinen Wehrdienst abgeleistet haben, der Zugang zum Camp Yarmouk verweigert wurde, um sich dort ihren Besitz zurückzuholen (Action PAL 3.1.2023).
Geistliche und Angehörige von religiösen Minderheiten
Christliche und muslimische religiöse Führer sind weiterhin aus Gewissensgründen vom Militärdienst befreit, wobei muslimische Geistliche dafür eine Abgabe bezahlen müssen (USDOS 15.5.2023). Es gibt Berichte, dass in einigen ländlichen Gebieten Mitgliedern von religiösen Minderheiten die Möglichkeit geboten wurde, sich lokalen regierungsnahen Milizen anzuschließen, anstatt ihren Wehrdienst abzuleisten. In den Städten gab es diese Möglichkeit im Allgemeinen jedoch nicht, und Mitglieder von Minderheiten wurden unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund zum Militärdienst eingezogen (FIS 14.12.2018).
Anders als in vielen Gebieten unter Regierungskontrolle konnten sich Männer im Gouvernement Suweida der gesetzlich festgelegten allgemeinen Wehrpflicht in den syrischen nationalen Streitkräften weitgehend entziehen (Syria Untold 9.1.2020; vgl. COAR 30.9.2020), viele Gemeindevorsteher und hochrangige drusische Religionsführer haben sich geweigert, die Einberufung in die Armee zu genehmigen (AW 5.12.2022). Stattdessen hat die drusische Gemeinschaft gut organisierte Nachbarschaftsschutzgruppen und Einheiten der Nationalen Verteidigungskräfte (NDF) unterhalten. Die syrische Regierung hält jedoch offiziell weiterhin an der verfassungsmäßig verankerten "heiligen Pflicht" des allgemeinen Wehrdienstes - auch für die in Suweida heimische drusische Gemeinschaft - fest (COAR 30.9.2020). Das Regime behandelt diese Menschen als Wehrdienstverweigerer und zwingt sie von Zeit zu Zeit, an so genannten "Sicherheitsregelungen" teilzunehmen. Die letzte dieser Maßnahmen fand am 5.10.2022 statt. Sie beinhaltete einerseits einen administrativen Aufschub für einen Zeitraum von sechs Monaten vor dem Eintritt in die im Süden Syriens stationierten Armeeeinheiten und andererseits die Einstellung der Verfolgung von Personen, die von den Sicherheitsapparaten gesucht werden. Allerdings nehmen viele Drusen diese Sicherheitsregelungen nicht ernst, da sie sich nicht als Rechtsbrecher betrachten. Im Oktober 2022 nahmen nur 2.500 junge Männer von 30.000 Wehrdienstverweigerern und Überläufern in Suweida an der Sicherheitsregelung teil. Für diejenigen, die einen Vergleich abschließen, besteht das Hauptmotiv darin, eine "Schlichtungskarte" zu erwerben, die ihnen Freizügigkeit gewährt und es ihnen ermöglicht, Transaktionen bei staatlichen Einrichtungen, wie z. B. die Beantragung von Reisedokumenten, ohne Angst vor Verhaftung und Inhaftierung durchzuführen (MED Blog 12.12.2022). Die Grauzone bezüglich der Umsetzung der Wehrpflicht hat zur Folge, dass die derzeit rund 30.000 zum Wehrdienst gesuchten Personen Suweida nicht verlassen bzw. nicht in von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiete reisen können (Alaraby 11.2.2022).
Wehrdienstverweigerung / Desertion
Letzte Änderung: 17.07.2023
Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme, Truppen bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der bewaffneten Opposition an, oder tauchte unter (DIS 5.2020). Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten Zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt und vergleichsweise wenige wurden nach diesem Zeitpunkt deswegen verhaftet (Landinfo 3.1.2018).
In Syrien besteht keine Möglichkeit der legalen Wehrdienstverweigerung. Auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht. Es gibt in Syrien keine reguläre oder gefahrlose Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch Wegzug in andere Landesteile zu entziehen. Beim Versuch, sich dem Militärdienst durch Flucht in andere Landesteile, die nicht unter Kontrolle des Regimes stehen, zu entziehen, müssten Wehrpflichtige zahlreiche militärische und paramilitärische Kontrollstellen passieren, mit dem Risiko einer zwangsweisen Einziehung, entweder durch die syrischen Streitkräfte, Geheimdienste oder regimetreue Milizen. Männern im wehrpflichtigen Alter ist die Ausreise verboten. Der Reisepass wird ihnen vorenthalten und Ausnahmen werden nur mit Genehmigung des Rekrutierungsbüros, welches bescheinigt, dass der Wehrdienst geleistet wurde, gewährt (AA 29.3.2023).
Der verpflichtende Militärdienst führt weiterhin zu einer Abwanderung junger syrischer Männer, die vielleicht nie mehr in ihr Land zurückkehren werden (ICWA 24.5.2022). Laut Berichten und Studien verschiedener Menschenrechtsorganisationen ist für zahlreiche Geflüchtete die Gefahr der Zwangsrekrutierung neben anderen Faktoren eines der wesentlichen Rückkehrhindernisse (AA 29.3.2023).
Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern
In dieser Frage gehen die Meinungen zum Teil auseinander: Manche Experten gehen davon aus, dass Wehrdienstverweigerung vom Regime als Nähe zur Opposition gesehen wird. Bereits vor 2011 war es ein Verbrechen, den Wehrdienst zu verweigern. Nachdem sich im Zuge des Konflikts der Bedarf an Soldaten erhöht hat, wird Wehrdienstverweigerung im besten Fall als Feigheit betrachtet und im schlimmsten im Rahmen des Militärverratsgesetzes (qanun al-khiana al-wataniya) behandelt. In letzterem Fall kann es zur Verurteilung vor einem Feldgericht und Exekution kommen oder zur Inhaftierung in einem Militärgefängnis. Ob die Entrichtung einer "Befreiungsgebühr" wirklich dazu führt, dass man nicht eingezogen wird, hängt vom Profil der Person ab. Dabei sind junge, sunnitische Männer im wehrfähigen Alter am stärksten im Verdacht der Behörden, aber sogar aus Regimesicht untadelige Personen wurden oft verhaftet (Üngör 15.12.2021). Loyalität ist hier ein entscheidender Faktor: Wer sich dem Wehrdienst entzogen hat, hat sich als illoyal erwiesen (Khaddour 24.12.2021). Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter gesehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt "ihr Land zu verteidigen". Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit "gerettet" haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021).
Gesetzliche Lage
Wehrdienstentzug wird gemäß dem Militärstrafgesetzbuch bestraft. In Art. 98-99 ist festgehalten, dass mit einer Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft wird, wer sich der Einberufung entzieht (AA 29.3.2023; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022).
Desertion wird von Soldaten begangen, die bereits einer Militäreinheit beigetreten sind, während Wehrdienstverweigerung in den meisten Fällen von Zivilisten begangen wird, die der Einberufung zum Wehrdienst nicht gefolgt sind. Desertion wird meist härter bestraft als Wehrdienstverweigerung. Das Militärstrafgesetzbuch unterscheidet zwischen "interner Desertion" (farar dakhelee) und "externer Desertion" (farar kharejee). Interne Desertion in Friedenszeiten wird begangen, wenn sich der Soldat sechs Tage lang unerlaubt von seiner militärischen Einheit entfernt. Ein Soldat, der noch keine drei Monate im Dienst ist, gilt jedoch erst nach einem vollen Monat unerlaubter Abwesenheit als Deserteur. Interne Desertion liegt außerdem vor, wenn der reisende Soldat trotz Ablauf seines Urlaubs nicht innerhalb von 15 Tagen nach dem für seine Ankunft oder Rückkehr festgelegten Datum zu seiner militärischen Einheit zurückgekehrt ist (Artikel 100/1/b des Militärstrafgesetzbuchs). Interne Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und wenn es sich bei dem Deserteur um einen Offizier oder einen Berufsunteroffizier handelt, kann er zusätzlich zu der vorgenannten Strafe mit Entlassung bestraft werden (Artikel 100/2). In Kriegszeiten können die oben genannten Fristen auf ein Drittel verkürzt und die Strafe verdoppelt werden (Artikel 100/4). Eine externe Desertion in Friedenszeiten liegt vor, wenn der Soldat ohne Erlaubnis die syrischen Grenzen überschreitet und seine Militäreinheit verlässt, um sich ins Ausland zu begeben. Der betreffende Soldat wird in Friedenszeiten nach Ablauf von drei Tagen seit seiner illegalen Abwesenheit und in Kriegszeiten nach einem Tag als Deserteur betrachtet (Artikel 101/1) (Rechtsexperte 14.9.2022). Externe Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft (Artikel 101/2) (Rechtsexperte 14.9.2022; vgl. AA 29.3.2023). Die Haftstrafen können sich bei Vorliegen bestimmter Umstände noch erhöhen (z. B. Desertion während des Dienstes, Mitnahme von Ausrüstung) (Rechtsexperte 14.9.2022). Die Todesstrafe ist gemäß Art. 102 bei Überlaufen zum Feind und gemäß Art. 105 bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (AA 29.3.2023).
Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel des umfassenden Anti-Terror-Gesetzes (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vgl. DIS 5.2020).
Syrische Männer im wehrpflichtigen Alter können sich nach syrischem Recht durch Zahlung eines sogenannten Wehrersatzgeldes von der Wehrpflicht freikaufen. Diese Regelung findet jedoch nur auf Syrer Anwendung, die außerhalb Syriens leben (AA 29.3.2023). Das syrische Wehrpflichtgesetz (Art. 97) ermöglicht es, das Vermögen von Männern zu beschlagnahmen, die sich bis zum Erreichen des 43. Lebensjahres (Altersgrenze zur Einberufung) der Wehrpflicht entzogen haben und sich weigern, ein Wehrersatzgeld in Höhe von 8.000 USD zu entrichten. Das Gesetz erlaubt die Beschlagnahme des Vermögens nicht nur von Männern, die nicht im Militär gedient haben, sondern auch von deren unmittelbaren Familienangehörigen, einschließlich Ehefrauen und Kindern (AA 29.3.2023; vgl. Rechtsexperte 14.9.2022).
Für nähere Informationen siehe auch das Unterkapitel "Befreiung, Aufschub, Befreiungsgebühren, Strafen bei Erreichung des 43. Lebensjahrs ohne Ableistung des Wehrdiensts".
Bzgl. Konfiszierungsmöglichkeiten im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes siehe Kapitel "Grundversorgung und Wirtschaft".
Handhabung
Die Gesetzesbestimmungen werden nicht konsistent umgesetzt (Landinfo 3.1.2018), und die Informationslage bezüglich konkreter Fälle von Bestrafung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist eingeschränkt, da die syrischen Behörden hierzu keine Informationen veröffentlichen (Rechtsexperte 14.9.2022). Manche Quellen geben an, dass Betroffene sofort (DIS 5.2020; vgl. Landinfo 3.1.2018) oder nach einer kurzen Haftstrafe (einige Tage bis Wochen) eingezogen werden, sofern sie in keinerlei Oppositionsaktivitäten involviert waren (DIS 5.2022). Andere geben an, dass Wehrdienstverweigerer von einem der Nachrichtendienste aufgegriffen und gefoltert oder "verschwindengelassen" werden können. Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab (Landinfo 3.1.2018).
Es gibt verschiedene Meinungen darüber, ob Wehrdienstpflichtige zurzeit sofort eingezogen, oder zuerst inhaftiert und dann eingezogen werden: Laut Balanche ist der Bedarf an Soldaten weiterhin hoch genug, dass man wahrscheinlich nicht inhaftiert, sondern mit mangelhafter oder ohne Ausbildung direkt an die Front geschickt wird (Balanche 13.12.2021). Die Strafe für das Sich-Entziehen vom Wehrdienst ist oft Haft und im Zuge dessen auch Folter. Während vor ein paar Jahren Wehrdienstverweigerer bei Checkpoints meist vor Ort verhaftet und zur Bestrafung direkt an die Front geschickt wurden (als "Kanonenfutter"), werden Wehrdienstverweigerer derzeit laut Uğur Üngör wahrscheinlich zuerst verhaftet. Seit die aktivsten Kampfgebiete sich beruhigt haben, kann das Regime es sich wieder leisten, Leute zu inhaftieren (Gefängnis bedeutet immer auch Folter, Wehrdienstverweigerer würden hier genauso behandelt wie andere Inhaftierte oder sogar schlechter). Selbst für privilegierte Personen mit guten Verbindungen zum Regime ist es nicht möglich, als Wehrdienstverweigerer nach Syrien zurückzukommen - es müsste erst jemand vom Geheimdienst seinen Namen von der Liste gesuchter Personen löschen. Auch nach der Einberufung ist davon auszugehen, dass Wehrdienstverweigerer in der Armee unmenschliche Behandlung erfahren werden (Üngör 15.12.2021). Laut Kheder Khaddour würde man als Wehrdienstverweigerer wahrscheinlich ein paar Wochen inhaftiert und danach in die Armee eingezogen (Khaddour 24.12.2021).
Es gibt jedoch Fälle von militärischer Desertion, die dem Militärgericht übergeben werden (Rechtsexperte 14.9.2022). Eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, jedoch habe die syrische Regierung ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an der Front festgenommene Deserteure zum Teil zu kurzen Haftstrafen verurteilt (DIS 5.2020). Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020).
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen berichtete im zweiten Halbjahr 2022 weiterhin von willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Regierungskräfte, darunter auch von Personen, die sich zuvor mit der Regierung "ausgesöhnt" hatten. Andere wurden vor der am 21.12.2022 angekündigten Amnestie für Verbrechen der "internen und externen Desertion vom Militärdienst" aufgrund von Tatbeständen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht inhaftiert (UNHRC 7.2.2023).
"Versöhnungsabkommen" und Rückkehr von Wehrpflichtigen
Im Rahmen sog. lokaler „Versöhnungsabkommen“ in den vom Regime zurückeroberten Gebieten sowie im Kontext lokaler Rückkehrinitiativen aus dem Libanon hat das Regime Männern im wehrpflichtigen Alter eine sechsmonatige Schonfrist zugesichert. Diese wurde jedoch in zahlreichen Fällen, auch nach der Einnahme des Südwestens, nicht eingehalten. Ein Monitoring durch die Vereinten Nationen oder andere Akteure zur Situation der Rückkehrer ist nicht möglich, da vielerorts kein Zugang für sie besteht; viele möchten darüber hinaus nicht als Flüchtlinge identifiziert werden. Sowohl in Ost-Ghouta als auch in den südlichen Gouvernements Dara‘a und Quneitra soll der Militärgeheimdienst dem Violations Documentation Center zufolge zahlreiche Razzien zur Verhaftung und zum anschließenden Einzug ins Militär durchgeführt haben. Neue Rekruten aus ehemaligen Oppositionsbastionen sollen in der Vergangenheit an die vorderste Front geschickt worden sein (AA 29.3.2023). Einzelne Personen in Aleppo berichteten, dass sie durch die Teilnahme am "Versöhnungsprozess" einem größeren Risiko ausgesetzt wären, bei späteren Interaktionen mit Sicherheitsbeamten verhaftet und erpresst zu werden. Selbst für diejenigen, die nicht im Verdacht stehen, sich an oppositionellen Aktivitäten zu beteiligen, ist das Risiko der Einberufung eine große Abschreckung, um zurückzukehren (ICG 9.5.2022). Zudem sind in den "versöhnten Gebieten" Männer im entsprechenden Alter auch mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert (FIS 14.12.2018).
In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten viele Deserteure und Überläufer, denen durch die "Versöhnungsabkommen" Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020). Human Rights Watch (HRW) berichtete 2021 vom Fall eines Deserteurs, der nach seiner Rückkehr zuerst inhaftiert und nach Abschluss eines "Versöhnungsabkommens" zur Armee eingezogen wurde, wo er nach Angaben einer Angehörigen aufgrund seiner vorherigen Desertion gefoltert und misshandelt wurde (HRW 20.10.2021).
Aufgrund der fehlenden Überwachung durch internationale Organisationen ist unklar, wie systematisch und weit verbreitet staatliche Übergriffe auf Rückkehrer sind. Die Tatsache, dass der zuständige Beamte am Grenzübergang oder in der örtlichen Sicherheitsdienststelle die Befugnis hat, seine eigene Entscheidung über den einzelnen Rückkehrer zu treffen, trägt dazu bei, dass es hierbei kein klares Muster gibt (DIS 5.2022). Auch geflüchtete Syrer, die nach Syrien zurückkehren, müssen mit Zwangsrekrutierung rechnen. Glaubwürdige Berichte über Einzelschicksale legen nahe, dass auch eine zuvor ausgesprochene Garantie des Regimes, auf Vollzug der Wehrpflicht bzw. Strafverfolgung aufgrund von Wehrentzug, etwa im Rahmen sogenannter "Versöhnungsabkommen" zu verzichten, keinen effektiven Schutz vor Zwangsrekrutierung bietet (AA 29.3.2023).
Einem Experten sind hingegen keine Berichte von Wehrdienstverweigerern bekannt, die aus dem Ausland in Gebiete unter Regierungskontrolle zurückgekehrt sind. Ihm zufolge kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, was in so einem Fall passieren würde. Laut dem Experten wäre es aber "wahnsinnig", als Wehrdienstverweigerer aus Europa ohne Sicherheitsbestätigung und politische Kontakte zurückzukommen. Wenn keine "Befreiungsgebühr" bezahlt wurde, müssen zurückgekehrte Wehrdienstverweigerer ihren Wehrdienst ableisten. Wer die Befreiungsgebühr entrichtet hat und offiziell vom Wehrdienst befreit ist, wird nicht eingezogen (Balanche 13.12.2021).
Zu den "Versöhnungsabkommen" siehe auch Abschnitt "Versöhnungsabkommen" im Kapitel "Sicherheitslage", zu Rückkehrern s. auch Kapitel "Rückkehr".
Haftbedingungen
Letzte Änderung: 17.07.2023
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Seit Ausbruch des Konflikts haben sich die Zustände aufgrund von Überfüllung und einer gestiegenen Gewaltbereitschaft der Sicherheitskräfte und Gefängnisbediensteten erheblich verschlechtert (AA 29.3.2023). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind überdies stark überfüllt. Es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind (USDOS 20.3.2023). Diese Lage geht mit grassierenden Krankheiten, einschließlich COVID-19 (AA 29.3.2023), und mit einer entsprechend hohen Sterberate einher (USDOS 20.3.2023). Die hygienischen Zustände sind laut Auswärtigem Amt "katastrophal". Dies gilt generell, jedoch in besonderem Maße für diejenigen Gefängnisse, in denen Oppositionelle und sonstige politische Gefangene untergebracht sind (AA 29.3.2023), und laut US-Außenministerium insbesondere in Hafteinrichtungen der Sicherheits- und Nachrichtendienste (USDOS 20.3.2023).
Besondere Bedürfnisse von Frauen werden kaum oder gar nicht berücksichtigt. Berichten zufolge müssen Frauen in Gefängnissen ohne jegliche Unterstützung entbinden und für ihre Kinder sorgen. Eine Versorgung mit Milch oder Hygieneartikeln erfolgt allenfalls durch Besucher, sofern sie in der entsprechenden Haftanstalt erlaubt sind (AA 29.3.2023).
Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen [Anm.: zu Hinrichtungen und Tod durch Folter - siehe Kapitel Todesstrafe und außergerichtlichen Tötungen sowie Folter und unmenschliche Behandlung] von Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt. Neben gewaltsamen Todesursachen ist eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auch auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 29.3.2023). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert. So müssen die Familien aktiv im Melderegister suchen, um vom Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. In diesen Fällen wurden die sterblichen Überreste auch nicht den Angehörigen übergeben (SNHR 26.6.2022).
Laut Menschenrechtsorganisationen und Familien von Inhaftierten bzw. Verschwundenen nutzen das Regime und ein korruptes Gefängnispersonal die erheblichen Zugangsbeschränkungen und -erschwernisse in Haftanstalten, aber auch die schlechte Versorgungslage, nicht zuletzt auch als zusätzliche Einnahmequelle. Grundlegende Versorgungsleistungen sowie Auskünfte zum Schicksal von Betroffenen werden vom Justiz- und Gefängnispersonal häufig nur gegen Geldzahlungen gewährt. Zudem sei es in einigen Fällen möglich, gegen Geldzahlung das Strafmaß bzw. Strafvorwürfe nachträglich zu reduzieren und so von Amnestien zu profitieren. Ein im Dezember 2020 von der Association of Detainees and The Missing in Saydnaya Prison veröffentlichter Bericht quantifiziert anhand von Interviews mit Familienangehörigen von 508 Verschwundenen das wirtschaftliche Ausmaß dieses Systems. Anhand von Hochrechnungen auf Basis der dokumentierten Fälle geht ADMSP von Zahlungen in einer Gesamthöhe von mehr als 100 Mio. USD in Vermisstenfällen aus, bei Einberechnung aller erkauften Freilassungen von über 700 Mio. USD (AA 29.3.2023).
Anmerkung: Weitere Informationen zu den Hafteinrichtungen (z. B. Saydnaya Gefängnis) sowie dortigen Zuständen und Menschenrechtsverletzungen befinden sich besonders in den Kapiteln je zu Folter und Todesstrafe. Zu Amnestien siehe Kapitel Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen im Unterkapitel Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst. Mehr zu Art und Ausmaß der jeweiligen Menschenrechtsverletzungen durch die jeweiligen bewaffneten Gruppen ist auch im Kapitel zur Sicherheitslage zu ihren jeweiligen Gebieten nachlesbar.
Rückkehr
Letzte Änderung: 12.07.2023
Die UNO konstatiert im Bericht der von ihr eingesetzten Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (COI) vom 7.2.2023 landesweit schwere Verstöße gegen die Menschenrechte sowie das humanitäre Völkerrecht durch verschiedene Akteure, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen könnten, und sieht keine Erfüllung der Voraussetzungen für nachhaltige, würdige Rückkehr von Flüchtlingen gegeben (UNCOI 7.2.2023). Eine UNHCR-Umfrage im Jahr 2022 unter syrischen Flüchtlingen in Ägypten, Libanon, Jordanien und Irak ergab, dass nur 1,7 Prozent der Befragten eine Rückkehr in den nächsten 12 Monaten vorhatten. Gleichzeitig steigt durch die diplomatische Normalisierung zwischen Syrien und der Arabischen Liga in manchen Staaten der Druck auf die Flüchtlinge, trotz der für sie unsicheren Lage nach Syrien zurückzukehren (CNN 10.5.2023).
Seit 2011 waren 12,3 Millionen Menschen in Syrien gezwungen, zu flüchten - 6,7 Millionen sind aktuell laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Binnenvertriebene (HRW 12.1.2022) RückkehrerInnen nach Syrien müssen laut Human Rights Watch mit einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen rechnen, von willkürlicher Verhaftung, Folter, Verschwindenlassen (HRW 12.1.2023, vgl. Al Jazeera 17.5.2023) bis hin zu Schikanen durch die syrischen Behörden (HRW 12.1.2023). Immer wieder sind Rückkehrende, insbesondere – aber nicht nur – solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt sind oder auch nur als solche erachtet werden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen, bis hin zu einer unmittelbaren Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt. Fehlende Rechtsstaatlichkeit und allgegenwärtige staatliche Willkür führen dazu, dass selbst regimenahe Personen Opfer von Repressionen werden können. Menschenrechtsorganisationen und Rückkehrende berichten von zahlreichen Fällen, in denen Rückkehrende verhaftet, gefoltert, oder eingeschüchtert wurden. Zuletzt dokumentierten Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Berichten von September bzw. Oktober 2021 Einzelfälle schwerwiegendster Menschenrechtsverletzungen von Regimekräften an Rückkehrenden, die sich an verschiedenen Orten in den Regimegebieten, einschließlich der Hauptstadt Damaskus, ereignet haben sollen. Diese Berichte umfassen Fälle von sexualisierter Gewalt, willkürlichen und ungesetzlichen Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen bis hin zu Verschwindenlassen und mutmaßlichen Tötungen von Inhaftierten. Die Dokumentation von Einzelfällen – insbesondere auch bei Rückkehrenden – zeigt nach Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amtes, dass es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen Dienst kommen kann. Willkürliche Verhaftungen gehen primär von Polizei, Geheimdiensten und staatlich organisierten Milizen aus. Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten, es findet keine zuverlässige und für Betroffene verlässliche Abstimmung und Zentralisierung statt (AA 29.11.2021).
Darüber hinaus können belastbare Aussagen oder Prognosen zu Rückkehrfragen nach geografischen Kriterien laut Auswärtigem Amt weiterhin nicht getroffen werden. Insbesondere für die Gebiete unter Kontrolle des Regimes, einschließlich vermeintlich friedlicherer Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie in der Hauptstadt Damaskus, gilt unverändert, dass eine belastbare Einschätzung der individuellen Gefährdungslage aufgrund des dortigen Herrschaftssystems, seiner teilweise rivalisierenden Geheimdienste sowie regimenaher Milizen ohne umfassende zentrale Steuerung nicht möglich ist (AA 29.3.2023).
Laut UNHCR sind von 2016 bis Ende 2020 170.000 Flüchtlinge (40.000 2020 gegenüber 95.000 im Jahr 2019) zurückgekehrt, der Gutteil davon aus dem Libanon und Jordanien (2019: 30.000), wobei die libanesischen Behörden weit höhere Zahlen nennen (bis 2019: 187.000 rückkehrende Flüchtlinge). COVID-bedingt kam die Rückkehr 2020 zum Erliegen. Die Rückkehr von Flüchtlingen wird durch den Libanon und die Türkei mit erheblichem politischem Druck verfolgt. Als ein Argument für ihre Militäroperationen führt die Türkei auch die Rückführung von Flüchtlingen in die von der Türkei kontrollierten Gebiete an. Die Rückkehrbewegungen aus Europa sind sehr niedrig. Eine von Russland Mitte November 2020 initiierte Konferenz zur Flüchtlingsrückkehr in Damaskus (Follow-up 2021 sowie 2022), an der weder westliche noch viele Länder der Region teilnahmen, vermochte an diesen Trends nichts zu ändern (ÖB Damaskus 12.2022).
Laut Vereinten Nationen (u. a. UNHCR) sind die Bedingungen für eine nachhaltige Flüchtlingsrückkehr in großem Umfang derzeit nicht gegeben (ÖB Damaskus 12.2022).
Hindernisse für die Rückkehr
Rückkehrende sind auch Human Rights Watch zufolge mit wirtschaftlicher Not konfrontiert wie der fehlenden Möglichkeit, sich Grundnahrungsmittel leisten zu können. Die meisten finden ihre Heime ganz oder teilweise zerstört vor, und können sich die Renovierung nicht leisten. Die syrische Regierung leistet keine Hilfe bei der Wiederinstandsetzung von Unterkünften (HRW 12.1.2023). In der von der Türkei kontrollierten Region um Afrin nordöstlich von Aleppo Stadt wurde überdies berichtet, dass Rückkehrer ihre Häuser geplündert oder von oppositionellen Kämpfern besetzt vorgefunden haben. Auch im Zuge der türkischen Militäroperation 'Friedensquelle' im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam es zu Plünderungen und gewaltsamen Enteignungen von Häusern und Betrieben von Kurden, Jesiden und Christen durch Türkei-nahe Milizen (ÖB Damaskus 12.2022). Neben den fehlenden sozioökonomischen Perspektiven und Basisdienstleistungen ist es oft auch die mangelnde individuelle Rechtssicherheit, die einer Rückkehr entgegensteht. Nach wie vor gibt es Berichte über willkürliche Verhaftungen und das Verschwinden von Personen. Am stärksten betroffen sind davon Aktivisten, oppositionelle Milizionäre, Deserteure, Rückkehrer und andere, die unter dem Verdacht stehen, die Opposition zu unterstützen. Um Informationen zu gewinnen, wurden auch Familienangehörige oder Freunde von Oppositionellen bzw. von Personen verhaftet. Deutlich wird die mangelnde Rechtssicherheit auch laut ÖB Damaskus an Eigentumsfragen. Das Eigentum von Personen, die wegen gewisser Delikte verurteilt wurden, kann vom Staat im Rahmen des zur Terrorismusbekämpfung erlassenen Gesetzes Nr. 19 konfisziert werden. Darunter fällt auch das Eigentum der Familien der Verurteilten in einigen Fällen sogar ihrer Freunde. Das im April 2018 erlassene Gesetz Nr. 10 ermöglicht es Gemeinde- und Provinzbehörden, Zonen für die Entwicklung von Liegenschaften auszuweisen und dafür auch Enteignungen vorzunehmen. Der erforderliche Nachweis der Eigentumsrechte für Entschädigungszahlungen trifft besonders Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Konkrete Pläne für die Einrichtung von Entwicklungszonen deuten auf Gebiete hin, die ehemals von der Opposition gehalten wurden. Von den großflächigen Eigentumstransfers dürften regierungsnahe Kreise profitieren. Auf Druck von Russland, der Nachbarländer sowie der Vereinten Nationen wurden einige Abänderungen vorgenommen, wie die Verlängerung des Fristenlaufs von 30 Tagen auf ein Jahr (ÖB Damaskus 12.2022). Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind besonders von Enteignungen betroffen (BS 23.2.2022). Zudem kommt es zum Diebstahl durch Betrug von Immobilien, deren Besitzer - z.B. Flüchtlinge - abwesend sind (The Guardian 24.4.2023). Viele von ihren Besitzern verlassene Häuser wurden mittlerweile von jemandem besetzt. Sofern es sich dabei nicht um Familienmitglieder handelt, ist die Bereitschaft der Besetzer, das Haus oder Grundstück zurückzugeben, oft nicht vorhanden. Diese können dann die Rückkehrenden beschuldigen, Teil der Opposition zu sein, den Geheimdienst auf sie hetzen, und so in Schwierigkeiten bringen (Balanche 13.12.2021). Der Mangel an Wohnraum und die Sorge um zurückgelassenes Eigentum gehören zu den Faktoren, die syrische Flüchtlinge davon abhalten, nach Syrien zurückzukehren (AA 29.11.2021).
Laut einer Erhebung der Syrian Association for Citizen's Dignity (SACD) ist für 58 Prozent aller befragten Flüchtlinge die Abschaffung der Zwangsrekrutierung die wichtigste Bedingung für die Rückkehr in ihre Heimat (AA 4.12.2020). Nach Einschätzung von Human Rights Watch nutzt das Regime Schlupflöcher in den Amnestiedekreten aus, um Rückkehrer unmittelbar nach der Einreise wieder auf Einberufungslisten zu setzen. Amnesty International dokumentierte Fälle von Rückkehrern, die aufgrund der Wehrpflicht zunächst festgenommen und nach Freilassung unmittelbar zum Militärdienst eingezogen wurden (AA 29.11.2021).
Die laut Experteneinschätzung katastrophale wirtschaftliche Lage ist ein großes Hindernis für die Rückkehr: Es gibt wenige Jobs, und die Bezahlung ist schlecht (Balanche 13.12.2021). Neben sicherheitsrelevanten und politischen Überlegungen der syrischen Regierung dürfte die Limitierung der Rückkehr auch dem Fehlen der notwendigen Infrastruktur und Unterkünfte geschuldet sein (ÖB 1.10.2021).
Das geringe Angebot an Bildungs-, Gesundheits- und Grundversorgungsleistungen in Syrien wirken abschreckend auf potenzielle Rückkehrer. Eine geringere Lebensqualität im Exil erhöht nicht immer die Rückkehrbereitschaft. Es hat sich gezeigt, dass Flüchtlinge seltener in Bezirke zurückkehren, die in der Vergangenheit von intensiven Konflikten geprägt waren (Weltbank 2020). Ein relevanter Faktor im Zusammenhang mit der Schaffung von physischer Sicherheit ist auch die Entminung von rückeroberten Gebieten, insbesondere solchen, die vom IS gehalten wurden (z.B. Raqqa, Deir Ez-Zor). Laut aktueller Mitteilung von UNMAS vom November 2022 sind weder Ausmaß noch flächenmäßige Ausdehnung der Kontaminierung von Syrien mit explosiven Materialien bisher in vollem Umfang bekannt. Es wird geschätzt, dass mehr als zehn Mio. Menschen also rund 50 Prozent der Bevölkerung dem Risiko ausgesetzt sind, in ihrem Alltag mit explosiven Materialien in Kontakt zu kommen. Dabei sind Männer aufgrund unterschiedlicher sozialer Rollen dem Risiko stärker ausgesetzt als Frauen. Im Schnitt gab es seit Kriegsbeginn alle zehn Minuten ein Opfer des Kriegs oder mittelbarer Kriegsfolgen. Ein Drittel der Opfer von Explosionen sind gestorben, 85 Prozent der Opfer sind männlich, fast 50 Prozent mussten amputiert werden und mehr als 20 Prozent haben Gehör oder Sehvermögen verloren. Zwei Drittel der Opfer sind lebenslang eingeschränkt. 39 Prozent der Unfälle ereigneten sich in Wohngebieten, 34 Prozent auf landwirtschaftlichen Flächen, zehn Prozent auf Straßen oder am Straßenrand. Seit 2019 waren 26 Prozent der Opfer IDPs (ÖB Damaskus 12.2022) [Anm.: Infolge der Erdbeben im Februar 2023 erhöht sich die Gefahr, dass Explosivmaterialen wie Minen durch Erdbebenbewegungen, Wasser etc. verschoben werden].
Es ist wichtig, dass die Rückkehrer an ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann Zugang zu einem sozialen Netzwerk und/oder ihrem Stamm haben. Diejenigen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, verfügen nicht über ein solches Sicherheitsnetz (NMFA 7.2019). So berichtet UNHCR von einer 'sehr begrenzten' und 'abnehmenden' Zahl an Rückkehrern über die Jahre. Im 1. Quartal 2022 kehrten demnach insgesamt 22.052 Personen an ihre Herkunftsorte zurück. Hierbei handelte es sich allerdings zu 94 Prozent um Rückkehrer innerhalb Syriens (UNHCR 6.2022). Insgesamt ging im Jahr 2022 laut UN-Einschätzung die Bereitschaft zu einer Rückkehr zurück, und zwar aufgrund von Sicherheitsbedenken der Flüchtlinge. Stattdessen steigt demnach die Zahl der SyrerInnen, welche versuchen, Europa zu erreichen, wie beispielsweise das Bootsunglück vom 22.9.2022 mit 99 Toten zeigte. In diesem Zusammenhang wird Vorwürfen über die willkürliche Verhaftung mehrer männlicher Überlebender durch die syrische Polizei und den Militärnachrichtendienst nachgegangen (UNCOI 7.2.2023).
Während die syrischen Behörden auf internationaler Ebene öffentlich eine Rückkehr befürworten, fehlen syrischen Flüchtlingen, im Ausland arbeitenden SyrerInnen und Binnenflüchtlingen, die ins Regierungsgebiet zurückkehren wollen, klare Informationen für die Bedingungen und Zuständigkeiten für eine Rückkehr sowie bezüglich einer Einspruchsmöglichkeit gegen eine Rückkehrverweigerung (UNCOI 7.2.2023) [Anm.: mehr dazu siehe in dem Unterkapitel Administrative Bedingungen für eine Rückkehr sowie Möglichkeit der Rückkehr an den Herkunftsort sowie im Unterkapitel Perspektiven des Staatsapparats bezüglich Emigration und Rückkehr].
Weitere Informationen zu Enteignungen und der Wohnraumsituation finden sich im Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
1.3.2. Auszug aus der EUAA, Country Guidance: Syria vom Februar 2023:
4.2. Persons who evaded or deserted military service
[…]
4.2.1. Military service: overview
Male citizens between the age of 18 and 42 are obliged by law to perform their military service. Career soldiers can be called to service up to the age bracket of 48 to 62, depending on the rank. Registered Palestinians residing in Syria are also subject to conscription and usually serve in the ranks of the SAA-affiliated Palestinian Liberation Army. After completing compulsory military service, former soldiers can be called up for reserve service until 42 years of age [Targeting 2022, 2.1, p. 37; Military service, 2, p. 13]. The age limit is less dependent on the universal draft than on the government’s mobilising efforts and local developments. In January 2021, sources indicated that Syrian authorities focused recruitment on men between the ages of 18 and 30, while older people tended to avoid the recruitment more easily [Military service, 2.1, p. 13, 2.3, p. 15]. A source had noted that the age limit for reserve service can be increased if the person possessed specific qualifications, such as in the case of doctors, tank drivers, air force personnel, artillery specialists and combat equipment engineers. While there were some rare reports of recruitment under and above the legal age, most sources were not aware of such practices [Military service, 2, p. 13].
Conscientious objection
According to Article 46 of the Syrian Constitution of 2012, ‘compulsory military service shall be a sacred duty’ and ‘defending the territorial integrity of the homeland and maintaining the secrets of the state shall be a duty of every citizen’. The right to conscientious objection is not legally recognised and there are no provisions for substitute or alternative service. Only Christian and Muslim religious leaders continued to be exempted from the military based on conscientious objection, although Muslim religious leaders were required to pay an exemption fee. [Targeting 2022, 2.2, p. 14]
Exemptions and deferrals
The law permits exemptions from military service for the categories of individuals described below. However, the process for obtaining an exemption was assessed to include more limitations and more variation on case-by-case basis. In practice, the exemptions are generally implemented, but an increasing level of arbitrariness and corruption has been reported. There are also reports that returnees have been conscripted despite promises that they would be exempted. [Military service, 3, p. 28]
• Only sons: a family’s only son can be granted deferral from military service for one or more years, which he must renew until he is granted a permanent exemption, i.e. until his mother reaches an age when she is not expected to be able to give birth to another child. In October 2021, there were increasing reports of the conscription of men who were the only sons in a family. [Targeting 2022, 2.6, p. 44; Military service, 3.1, p. 28]
• Medical cases: there are reports of men who had clearly visible medical conditions and were unfit to perform military service receiving exemptions. However, the medical committee that examines individuals was reportedly quite strict in their assessments. In some cases, men with a certain health condition were nevertheless called up to the army to perform non-field military activities. In January and February 2022, sources noted that it was common for medical exemptions to be ignored and for the person to be required to serve in the military anyway. [Targeting 2022, 2.6, p. 44, Military service, 3.2, p. 29]
• Students: students can defer their conscription on a yearly basis while they are studying [Targeting 2022, 2.1, p. 37]. Restrictions apply on the age limits allowed to start different levels of education, as well as on the number of study years during which students are permitted to request exemption from military service. As of October 2021, exemptions for students had become increasingly difficult to claim, and students had been drafted on a case-by-case basis [Targeting 2022, 2.6, p. 45; Military service, 3.3, p. 29].
• Paying an exemption fee: Syrian young men residing abroad, including registered Palestinians from Syria, can be exempted from compulsory military service upon payment of a fee. This does not apply to reservists [Targeting 2022, 2.1, p. 37]. It was reported that many conscripts residing abroad had made use of the option of paying an exemption fee, but the rules change regularly. There were also indications that the procedure for obtaining an exemption took a very long time in practice. The use of exemption fee was often linked with corruption, bribery and discretionary application. While several sources indicated that the payment of an exemption fee would be respected in practice, information remains conflicting [Targeting 2022, 2.6, p. 45; Military service, 3.4, p. 31].
[…]
1.3.3. Auszug aus EASO, Syria: Targeting of Individuals:
The law permits exemptions from military service for certain categories of individuals. […]
The law also allows for the payment of an exemption fee; however, this only applies for people residing abroad and reservists are not eligible for the payment of the fee.
In November 2020 Legislative Decree 31/2020 amended key provisions of Legislative Decree 30/2007 (Syrian Military Service Law). Syrians who reside abroad for one, two, three or four years may now pay USD 10 000, 9 000, 8 000 or 7 000 respectively to acquire exemptions.
Persons subject to military service, who want to pay the exemption fee and ‘whose residence has exceeded five years after reaching the age of military enlistment shall be fined USD 200 for each year delay’.Residents ‘determined to serve in a non-field service’ in the military can now pay USD 3 000 for an exemption.
Article 97 of Legislative Decree 30/2007 applies to men who have evaded compulsory military service and have not paid the exemption fee when reaching the age of 43 years. […]
[…]
Implementation practice regarding exemptions
The law stipulates certain categories eligible for exemption, such as being the only male child in a family, being unfit due to health reasons and having paid an exemption fee.
[…]
Fabrice Balanche notes that many conscripts that reside abroad use the option to pay to get exempted from military service. Rules regarding this option change regularly and besides the official fee, bribes have to be paid. In practice the process to get an exemption takes a long time.
Whether the exemption from military service is respected after payment of the fee, or whether the person is nevertheless conscripted, depends on the individual profile, according to Uğur Üngör. Also, arbitrariness and unpredictability are a factor. Balanche, however, stated that after payment of the exemption fee, no conscription would happen.
A Syrian human rights organisation that requested anonymity interviewed by DIS in April 2022 noted that ‘there have been no reports that those who have paid the exemption fee of USD 8 000 have faced issues upon return.’
Sources interviewed by the Swedish Migration Agency in April 2022 stated that persons who paid the exemption fee and have confirmation of the exemption on their military booklet would not be conscripted.
According to Kheder Khaddour, to get the exemption people usually send the amount of money to their family in Syria, who takes care of the process from inside the country.
Conscripts then receive a document and show this at the immigration office. Then the name of the person disappears from the list for military service and the person can enter Syria. This procedure, however, is mainly used by Syrians in Jordan, Lebanon, Turkey, Egypt and the Gulf States. Conscripts living in Europe, where the ‘corruption networks’ are not accessible, therefore need people inside Syria.
However, according to information published by the Syrian embassy in Berlin the procedure can be launched entirely through the Syrian embassies operating in several EU countries. The fee itself can be paid either to the embassy in EUR or by a relative in Syria in USD.
Sources interviewed by DIS in August and October 2020 noted that ‘when the exemption fee has been paid, the person will receive a stamp in his military service book indicating his exemption from military service’. The person will also be handed a confirmation of the payment, which will have to be presented at ‘the Recruitment Division in Syria upon return’."
1.3.4 Auszug aus der AFB der Staatendokumentation vom 16.9.2022: SYRIEN - Fragen des BVwG zu syrischen Wehrdienstgesetzen:
„5. Gibt es aktuell Möglichkeiten sich durch die Zahlung von Geldleistungen von einer Bestrafung wegen des Entzuges vom Wehrdienst, etwa auch durch eine erfolgte Ausreise freizukaufen? Wie lauten die konkreten gesetzlichen Bestimmungen. – allfällig bitte Berichte aktualisieren.
5.1. Befreiungsgebühr für Syrer mit Wohnsitz im Ausland: Sind die angegebene Quellen aktuell?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
Diese Fragen werden im COI-CMS Syrien der Staatendokumentation (derzeit Version 7 vom 10.8.2022, jedoch auch schon in der vorhergehenden Version 6) beantwortet. Die Länderinformationen im COI-CMS der Staatendokumentation werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert, und die Quellen auf ihre Aktualität überprüft. Bezüglich Frage 4 wird darum gebeten, nicht nur die zitierte Quelle aus dem Jahr 2017, sondern auch jene von Ende November 2021 zu berücksichtigen. In Ergänzung zu den bereits vorhandenen Informationen werden weitergehende Informationen eines Rechtsexperten bereitgestellt, der im Auftrag der Staatendokumentation von der österreichischen Botschaft (ÖB) Damaskus zum Thema befragt wurde. Informationen zur Fragestellung können auch der Anfragebeantwortung (AFB) von ACCORD „Anfragebeantwortung zu Syrien: Wehrdienstverweigerung und Desertion [a-11951]“ vom 8.9.2022 entnommen werden. Eine Quellenbeschreibung zu den österreichischen Botschaften bzw. deren Vertrauensanwälten (VA) findet sich auf dem Quellenblatt der Staatendokumentation auf www.staatendokumentation.at sowie in der dort ersichtlichen Methodologie der Staatendokumentation.
Zusammenfassung: s. Einzelquelle
Einzelquelle: Ein befragter Rechtsexperte der ÖB Damaskus berichtet, dass in den Jahren 2017 und 2019 zwei Änderungen des Entwurfs des Wehrdienstgesetzes von 2007 veröffentlicht wurden:
• Gesetz Nr. 35 vom 15. November 2017 zur Änderung des Entwurfs des Wehrdienstgesetzes, das mit dem Gesetzesdekret Nr. 30 aus dem Jahr 2007 zur „Einziehung von Vermögenswerten bei Nichterfüllung des Wehrdienstes“ erlassen wurde. Dieses Gesetz ermöglicht es der Direktion für militärische Rekrutierung, reales und bewegliches Vermögen von syrischen Männern zu beschlagnahmen, die ihren Verpflichtungen zur Ableistung des Militärdienstes nicht nachgekommen sind. Bis zum Alter von 42 Jahren müssen syrische Männer ihren Militärdienst abgeleistet oder alternativ den „Altersersatz“ in Höhe von 8.000 USD bezahlt haben (Artikel 2 des Gesetzes Nr. 35/2017). Dieses Gesetz ermöglicht es dem syrischen Verteidigungsminister, das Eigentum einer Person zu beschlagnahmen, die ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen ist. Wird die Geldstrafe nicht innerhalb von drei Monaten nach Aufforderung gezahlt, können weitere Strafen verhängt werden, darunter ein Jahr Haft oder eine weitere Geldstrafe bis zu einem Gegenwert von maximal 2.000 USD.
• Gesetz Nr. 39 vom 24. Dezember 2019 zur Änderung von Artikel 97 des Wehrdienstgesetzes Nr. 30 aus dem Jahr 2007. Diese Änderung ermöglicht die Beschlagnahme von Eigentum von Männern, die das 42. Lebensjahr vollendet haben und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, oder von deren Ehefrauen oder Kindern, ohne dass die betroffenen Personen davon in Kenntnis gesetzt werden. Durch die jüngste Änderung wurde die Art der Vermögensbeschlagnahme geändert, die gegen jemanden angeordnet werden kann, der die „Missed Service Fee“ von 8.000 USD nicht ordnungsgemäß bezahlt hat. Derzeit kann das Vermögen dieser Person vorsorglich beschlagnahmt werden, was bedeutet, dass es weder verkauft noch an eine andere Partei übertragen werden kann. Durch die Änderung wird die vorsorgliche Beschlagnahme durch eine exekutive Beschlagnahme ersetzt, was bedeutet, dass das Vermögen ohne weitere Ankündigung vom Staat versteigert werden kann, anstatt es bis zur Lösung einzufrieren. Der Staat würde den geschuldeten Betrag aus der Versteigerung einbehalten und den Restbetrag (falls vorhanden) an die Person zurückzahlen, deren Eigentum versteigert wurde. Erreicht das Vermögen des Mannes nicht den Wert der „Missed Service Fee“, kann das gleiche Versteigerungsverfahren auf das Vermögen seiner Frau oder seiner Kinder angewandt werden, bis der Wert der Gebühr erreicht ist.
Derzeit gelten die folgenden Bestimmungen bezüglich der Befreiungsgebühr für Syrer, die im Ausland leben:
Artikel 13/2 des Gesetzesdekrets Nr. 30 aus dem Jahr 2007, das „Flaggendienstgesetz“, das kürzlich durch das Gesetzesdekret Nr. 31 vom 8. November 2020 geändert wurde, sieht vor, dass jede wehrpflichtige Person (mukalaf), die sich im Ausland befindet, von der Ableistung des Wehrdienstes befreit wird, wenn ein bestimmter Geldbetrag an die Staatskasse gezahlt wird:
1) Die Zahlung des Betrags von 7.000 USD durch die zum syrischen Militärdienst verpflichtete Person, die sich mindestens vier Jahre vor oder nach dem Einberufungsalter im Ausland aufgehalten hat20 (Artikel 1/ Zweitens/a).
2) Die Zahlung des Betrags von 8.000 USD durch die zum syrischen Militärdienst verpflichtete Person, die mindestens drei Jahre und weniger als vier Jahre vor oder nach dem Einberufungsalter im Ausland gewohnt hat (Artikel 1/ Zweitens/b).
3) Die Zahlung des Betrags von 9.000 USD durch die zum syrischen Militärdienst verpflichtete Person, die mindestens zwei Jahre und weniger als drei Jahre vor oder nach dem Einberufungsalter im Ausland gewohnt hat (Artikel 1/Zweitens/c).
4) Die Zahlung des Betrags von 10.000 USD durch die zum syrischen Militärdienst verpflichtete Person, die mindestens ein Jahr und weniger als zwei Jahre vor oder nach dem Einberufungsalter im Ausland gewohnt hat (Artikel 1/Zweitens/d).
5) Die Zahlung des Betrags von 3.000 USD durch die zum syrischen Militärdienst verpflichtete Person, die in einem arabischen oder ausländischen Staat geboren wurde und dort bis zum Erreichen des Militärdienstalters dauerhaft und ununterbrochen gewohnt hat (Artikel 1/Zweitens/e).
6) Die Entrichtung des Betrags von 6.500 USD durch die zum syrischen Militärdienst verpflichtete Person, die in einem arabischen oder ausländischen Land geboren ist und dort mindestens zehn Jahre vor dem Einberufungsalter gewohnt hat. Der Betrag von 500 USD wird für jedes über das Aufenthaltsjahr hinausgehende Jahr und bis zu 17 Jahren einschließlich abgezogen (Artikel 1/Zweitens/f).
Darüber hinaus gelten die folgenden Säumniszuschläge:
Der Wehrpflichtige, der den oben genannten Geldbetrag zahlen will und dessen Aufenthalt länger als fünf Jahre nach Erreichen des Wehrpflichtalters zurückliegt, muss für jedes Jahr Verzug eine Geldstrafe von 200 USD für jedes Jahr des Verzugs zahlen (Artikel 1/Viertens/a).
Ein Teil eines Jahres gilt als volles Jahr (Artikel 1/Viertens/c).
Der Wehrpflichtige, der seinen Wohnsitz außerhalb Syriens hat, kann sich für einen Zeitraum von höchstens 90 Tagen innerhalb eines Jahrs nach gregorianischem Kalender von seinem Wohnsitzland entfernen (Artikel 1/Fünftens/a).
Der Wehrpflichtige, der seinen Wohnsitz außerhalb Syriens hat, kann sich gegen Zahlung eines Betrags von 200 USD für weitere 60 Tage in Syrien aufhalten, die über den im vorstehenden Absatz genannten Unterbrechungszeitraum hinausgehen, wobei dieser Zeitraum nicht auf die gesetzlich vorgeschriebene Frist für die Zahlung des Geldbetrags angerechnet wird (Artikel 1/Fünfte/b).
Schließlich muss die wehrpflichtige Person, die den Wehrdienst nicht geleistet hat und das Alter von 42 Jahren erreicht hat, innerhalb von drei Monaten ab dem Tag, der auf den Tag folgt, an dem sie 42 Jahre alt wird, einen „Altersersatz“ in Höhe von 8.000 USD zahlen, um vom Wehrdienst befreit zu werden (Artikel 2 des Gesetzes Nr. 35/2017).
Sobald die oben genannten Beträge gezahlt wurden (von der Person selbst oder einem ihrer Familienangehörigen in Syrien oder ihrem Bevollmächtigten, wenn sich die wehrpflichtige Person im Ausland aufhält), ist die wehrpflichtige Person offiziell von der syrischen Wehrpflicht befreit und kann nach Syrien zurückkehren, ohne befürchten zu müssen, von der Militärpolizei verhaftet zu werden (Artikel 12 des geänderten Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007).
Je nach dem oben geschilderten Fall sind neben der oben erwähnten finanziellen Zahlung des Wehrpflichtigen zur Befreiung vom Wehrdienst folgende Unterlagen bei der zuständigen Rekrutierungsstelle in Syrien oder bei der syrischen Botschaft im Ausland einzureichen:
Detaillierte Bewegungsmeldung (bayan harakat) der syrischen Einwanderungs- und Passbehörde, aus der hervorgeht, dass die betreffende Person nach Syrien aus- und eingereist ist.
Militärdienstbuch, falls in seinem Besitz, oder eine Kopie davon.
Reisepass, Personalausweis oder eine Meldebescheinigung.
Personen über 42 Jahre, die sich im Ausland befinden und den Wehrdienst nicht abgeleistet haben, müssen zusätzlich zur Zahlung der „Missed Service Fee“ in Höhe von 8.000 USD die folgenden Unterlagen vorlegen:
Personenstandsregisterauszug der betreffenden Person. […]
5.2. Gibt es andere Möglichkeiten der Strafe einer Wehrdienstverweigerung zu entgehen?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
Aufgrund der informationsspezifischen Art der Fragestellung wurde diese an eine externe Stelle übermittelt. Dabei handelt es sich um einen Vertrauensanwalt der österreichischen Botschaft (ÖB) Damaskus. Informationen zu Befreiungsmöglichkeiten vom Wehrdienst können außerdem dem COI-CMS Syrien der Staatendokumentation (derzeit Version 7 vom 10.8.2022) sowie der Anfragebeantwortung (AFB) von ACCORD „Anfragebeantwortung zu Syrien: Wehrdienstverweigerung und Desertion [a-11951]“ vom 8.9.2022 entnommen werden. Eine Quellenbeschreibung zu den österreichischen Botschaften bzw. deren Vertrauensanwälten (VA) findet sich auf dem Quellenblatt der Staatendokumentation auf www.staatendokumentation.at sowie in der dort ersichtlichen Methodologie der Staatendokumentation.
Zusammenfassung: s. Einzelquelle
Einzelquelle: Auf die Frage, ob es andere Möglichkeiten als die bereits beschriebenen gibt, um einer Bestrafung für Wehrdienstverweigerung zu entgehen, antwortet der befragte Rechtsexperte der ÖB Damaskus, dass die Zahlung der Befreiungsgebühr möglicherweise die einzige Möglichkeit ist, einer Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung zu entgehen, wenn ein syrischer Staatsbürger nicht nach einem der in Artikel 12 des „Wehrdienstgesetzes“ aufgeführten Befreiungsgründe von der Wehrpflicht befreit ist. Lebt ein syrischer Staatsangehöriger jedoch dauerhaft im Ausland und erwägt nicht, nach Syrien zurückzukehren, muss er keinen Betrag zahlen, weil die Strafe für Wehrdienstverweigerung ihn nicht trifft, sofern er kein Eigentum/Vermögen in Syrien besitzt.
Eine Möglichkeit, sich dem Wehrdienst in Syrien zu entziehen, kann sich aus Artikel 12/g des syrischen „Wehrdienstgesetzes“ ergeben, das durch das Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 in seiner geänderten Fassung erlassen wurde und vorsieht, dass ein syrischer Staatsbürger, der in Syrien wehrpflichtig ist, von der Ableistung des Wehrdienstes in Syrien befreit ist, wenn er den Wehrdienst in einem anderen arabischen oder ausländischen Land geleistet hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Für die Dienstbefreiung wegen der Ableistung des Wehrdienstes im Ausland sind folgende Unterlagen erforderlich:
• Schriftlicher Antrag.
• Eine Familienbescheinigung, auf der alle Änderungen vermerkt sind.
• Bescheinigung über die geleistete Dienstzeit mit Angabe von Dienstgrad, Spezialisierung, Dienstort, Dienstdauer, Dienstbeginn und Dienstende.
• Dekret über den Erwerb der Staatsbürgerschaft.[…]
Rechtsexperte der ÖB Damaskus (14.9.2022): Antwortschreiben per E-Mail“
1.3.5 Auszug aus dem Bericht des DIS, Syria: Treatment upon return, Mai 2022:
“2.4. Evasion and desertion from military service
According to the Syrian law, both deserters and evaders should be punished. However, evaders will not be punished if they obtain a status settlement. Nevertheless, they will still be required to serve in the military unless they have paid the exemption fee.
HRW documented the case of arrest and torture of a person returning from Lebanon in 2018 who hadfled the country in 2015 upon his desertion from the military.
AI also mentions three cases of persons who were arrested upon return because they did not complete their military service.
According to two sources consulted by the DIS in 2020, persons who obtain status settlement because of evasion from military service usually do not face any problems with the GoS upon return. However, one source told the DIS that some people who settled their evasion might be temporarily arrested upon return, and some might be subjected to torture.
In a report by DIS published in 2019 about military service in Syria, sources mentioned that men wanted for military service and evaders, who pay the exemption fee in order to be exempted from military service, usually do not face problems with the GoS upon return.
According to the Syrian human rights organisation interviewed by DIS in April 2022, draft evaders and deserters are sent to military service after a short detention (a couple of days or weeks), provided that they have not been involved in any opposition activities. There have been no reports that those who have paid the exemption fee of 8000 USD have faced issues upon return.
The source added that family members of draft evaders and deserters do not face problems with the authorities anymore. Previously, the authorities harassed such families, but now the authorities may contact them once or twice and ask about the evading or deserting family member and his whereabouts, but nothing more will happen. One should also bear in mind that there are too many draft evaders and deserters for the authorities to be able to spend time and resources on such cases."
1.3.6 Auszug aus dem Bericht EASO, Syria: Military service, April 2021:
“3.4 Exemption fee
The Syrian Military Service Law allows Syrian men of military service age (18-42), including registered Palestinians from Syria, to pay a fee (‘Badal al-Naqdi’) to get an exemption from compulsory military service and not be called up again. However, this option only applies for people residing abroad.215
Reservists are not eligible to pay the exemption fee.
Before November 2020, the exemption fees applied to a male living abroad for no less than four consecutive years, who could pay a fee of USD 5 000 before the war and USD 8 000 after to be exempted from military service.217 According to a November 2020 amendment made to the law, Syrians who reside abroad for one year, two years, three years or four years can now pay USD 10 000, 9 000, 8 000 or 7 000 respectively to acquire exemptions. The number of years of residence are calculated for the period either before or after the person reached the age of military recruitment.218
Those whose residence periods have exceeded five years after reaching the military age, have to pay a fine of USD 200 per each year in addition to the exemption fee (i.e. for five year it is equivalent to USD 7 200; for six year it is equivalent to USD 7 400, etc.).
According to the chief of Syria’s Immigration and Passports Department interviewed by DIS in November 2018, both persons who left the country legally and those who left illegally can be exempted from their military service obligations. A male of military service born outside Syria and residing continuously there until he reaches 18 years can pay USD 3 000, while one who was born abroad and lived there for at least 10 years before reaching the military age can pay USD 6 500.
Those exceeding 25 years will have to pay USD 8 000.
Referring to the website of the Syrian embassy in Stockholm, among other sources, DIS reported that those who have left Syria illegally during the conflict will have to first undergo the procedure of ‘sorting out one’s affairs’/status settlement [taswiyat wada͛] before they can pay the exemption fee. This means that they will have to go through a security check and resolve any outstanding issues they might have with the GoS. While the German Federal Foreign Office reported in 2018 that it is not known whether this regulation also applies to Syrian men who have left Syria illegally since the beginning of the conflict, other sources reported in 2020 that even those who left Syria illegally can pay the exemption fee for military service after undergoing status settlement.
Several sources interviewed by DIS between January and February 2020 assessed that the exemption fee system was being implemented in practice by the GoS authorities. Fabrice Balanche noted however, that border guards could demand bribes from returnees despite having paid an exemption fee. Syrian journalist and researcher Asaad Hanna had knowledge of two cases of men who returned from Lebanon and were arrested and conscripted, despite having paid the exemption fee. An October 2020 research based on interviews with Syrians in Lebanon, Homs and Rural Damascus noted that several interviewees stated that many returnees who paid the exemption fee and additional fines were arrested for their previous political activities and some were conscripted.In previous years, the exemption fee has been linked with corruption, bribery, and discretionary application."
1.3.7 Auszug aus dem Bericht DIS: COI brief report Syira: Military service: recruitment procedure, conscripts’ duties and military service for naturalised Ajanibs, Juli 2023:
“1.1.2.2. Exemption by paying a fee and its registration in the military booklet
A person living abroad can be exempted by paying an exemption fee either by himself while he is abroad or by a proxy in Syria. Exemption by paying an exemption fee is also registered in the military booklet.
If the person pays the exemption fee from abroad through a Syrian representation (embassy or consulate), he will receive a receipt from the military recruitment division in Syria via the Syrian representation stating that he has paid the exemption fee and therefore is exempted. It is not possible for the representation to register the exemption in the military booklet, as it should include a stamp from the military recruitment division in Syria. Therefore, the person will only be able to get the exemption registered in his military booklet when he returns to Syria.
After arriving in Syria, he will have to show the receipt to prove that he is exempted from military service at the airport, at checkpoints and at any encounter with the authorities. When returning to Syria, the authorities at the airport accept the receipt and let him enter the country, according to SNHR. The person will then have to go to the military recruitment division to have the exemption registered in his military booklet in order to avoid delay at mobile military police checkpoints where the checkpoint officers may spend time verifying the receipt, as they may not have access to the central database.
A person who wants to use a proxy (for instance his parents) to pay the exemption fee for him in Syria will have to send his military booklet to the proxy in order to have the exemption registered in the booklet. The proxy will receive a receipt when he/she pays the exemption fee at the Ministry of Finance and thereafter, the military recruitment division will register the exemption in the military booklet.
When passing by checkpoints, it is usually sufficient to show the military booklet; it will not be necessary to show other documents proving that the person is exempted or that he has a specific military service status. However, if the officer at a checkpoint suspects that the military booklet has been manipulated, he may ask the person to show other documents. In such situations, the person can show the document that proves his military status."
1.3.8 ACCORD v. 02.06.2023 Anfragebeantwortung zu Syrien: Einberufung von Reservisten der syrischen Armee: Bedarf, Bedingungen, Alter, Dauer, Einsatzbereich, Möglichkeit des Freikaufens [a-12132-1]:
„[..] Bedarf an einer Einberufung von registrierten Reservisten
Das Syrian Network for Human Rights (SNHR) erklärt in einer E-Mail Auskunft an ACCORD vom Mai 2023, dass im Jahr 2023 bereits mehrere Tausend Reservisten zum Militärdienst in der syrischen Armee (Syrian Arab Army, SAA) einberufen worden seien. Eine genaue Schätzung der Zahl sei schwierig, da die Rekrutierungsbüros keine Listen der zum Reservedienst einberufenen Personen veröffentlichen würden (SNHR, 31. Mai 2023).
Das Danish Immigration Service (DIS) schreibt in einem Bericht über Rekrutierung in der Provinz Hasaka vom Juni 2022, dass die syrischen Behörden in den meisten von ihnen kontrollierten Gebieten sowohl Wehrpflichtige wie auch Reservisten rekrutieren würden (DIS, Juni 2022, S. 29). Auch das niederländische Außenministerium bestätigt im Mai 2022 mit Verweis auf vertrauliche Quellen, dass die Behörden weiterhin Reservisten zum Dienst einziehen würden (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Mai 2022, S. 53).
Eine in Syrien tätige internationale humanitäre Organisation, die 2021 von EASO [European Asylum Support Office, heute: EUAA] interviewt wurde, habe angegeben, dass die syrische Armee regelmäßig auch Reservisten einberufe (EUAA, April 2021, S. 15)
Ein westlicher Diplomat, der in Syrien arbeite, habe gegenüber DIS im Februar 2020 erklärt, dass der Bedarf an Wehrpflichtigen und Reservisten ungebrochen hoch sei (DIS, Mai 2020, S. 82). Im Gegensatz dazu habe eine humanitäre Organisation ebenfalls im Februar 2020 die Ansicht geäußert, dass der Bedarf an Kämpfern in den beiden vorangegangenen Jahren zurückgegangen sei und daher auch weniger Reservisten rekrutiert würden (DIS, Mai 2020, S. 85).
Profil der einberufenen Reservisten
SNHR teilte ACCORD im Mai 2023 mit, dass alle Arten von Reservisten zum Reservedienst einberufen würden. Dazu würden unerfahrene Rekruten, Unteroffiziere, sowie Offiziere gehören. Es gebe jedoch Unterschiede in der Art und Dauer ihres Dienstes (SNHR, 31. Mai 2023).
Eine vertrauliche Quelle habe dem niederländischen Außenministerium im Jänner 2021 mitgeteilt, dass keine spezifischen Merkmale, wie Alter, früherer militärischer Dienstgrad oder Wohnort einen Einfluss auf die Entscheidung der syrischen Regierung darüber hätten, wer als Reservist einberufen werde. Alle geeigneten Personen würden in Betracht gezogen (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Juni 2021, S. 38).
Der unabhängige Syrienforscher Suhail Al-Ghazi habe gegenüber EUAA im Februar 2021 erklärt, dass Reservisten zum aktiven Dienst einberufen würden, wenn es der Armee an Personal mangle, aber auch, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Bestimmte Qualifikationen des Reservisten, wie Panzerführer oder Mechaniker, sowie ein früherer Einsatz im Anschluss an die militärische Ausbildung, hätten Einfluss darauf, ob die syrische Armee einen Reservisten in den aktiven Dienst einberufe (EUAA, April 2021, S. 13). Al-Ghazi habe gegenüber DIS im Februar 2020 berichtet, dass die syrische Armee ab 2018 keine Reservisten mehr aus Gebieten, die die Regierung unterstützen würden, einberufen habe. Es sei jedoch eine große Zahl von Reservisten aus ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten einberufen worden. Zweck der Einberufung von Reservisten sei, laut Al-Ghazi, unter anderem, Männer im wehrfähigen Alter im Auge zu behalten, um zu verhindern, dass sie sich der Opposition anschließen (DIS, Mai 2020, S. 77).
Laut Quellen der schwedischen Einwanderungsbehörde, Migrationsverket, aus dem Jahr 2017, würden zunächst Reservisten einberufen, die den Grundwehrdienst bis zu fünf Jahre zuvor abgeleistet hätten. In weiterer Folge würden Reservisten einberufen, deren Wehrdienstzeit fünf bis zehn Jahre zurückliege, und schließlich Reservisten, die ihren Wehrdienst zehn bis fünfzehn Jahre zuvor abgeleistet hätten. Ein Interviewpartner habe Migrationsverket 2021 mitgeteilt, dass in der Praxis nicht alle Reservisten zum aktiven Dienst einberufen würden. (Migrationsverket, 1. Juni 2021, S. 13). Laut einem 2021 interviewten ehemaligen Offizier der syrischen Armee sei der Bedarf an bestimmten Fähigkeiten von entscheidender Bedeutung für die Rekrutierung von Reservisten. Dieser Bedarf variiere in den unterschiedlichen Phasen des Konflikts (Migrationsverket, 1. Juni 2021, S. 14).
Es konnten keine Informationen darüber gefunden werden, ob Personen, die aus dem Ausland nach Syrien zurückkehren, in Bezug auf den Reservedienst anders behandelt werden als Männer, die Syrien nicht verlassen haben.
Dienstgrad (Rang) eines Wehrdienstpflichtigen bei Beendigung der Wehrpflicht
Laut einem von ACCORD befragten Syrienexperten beende nicht jeder Wehrdienstpflichtige seinen Wehrdienst mit dem gleichen Dienstgrad. Der nach Abschluss des Militärdienstes erreichte Rang hänge vom Bildungsniveau des Einzelnen ab. Das Bildungsniveau der Wehrdienstpflichtigen bestimme den anfänglichen Rang, dem dann Beförderungen folgen könnten (Syrienexperte, 17. Mai 2023).
Altersgrenze für die Einberufung von Reservisten
EUAA schreibt im Bericht über den syrischen Militärdienst vom April 2021 mit Verweis auf eine Zusammenfassung des Wehrpflichtgesetzes, dass Reservisten bis zu einem Alter von 42 Jahren für den Reservedienst einberufen werden könnten. Christopher Kozak vom Institute for the Study of War (ISW) habe in einem Interview mit UNHCR 2017 angegeben, dass die Altersgrenze für den Reservedienst angehoben werden könne, wenn eine Person über bestimmte Qualifikationen verfüge, beispielsweise Arzt, Panzerfahrer, Luftwaffenangehöriger, Artilleriespezialist oder Kampfausrüstungsingenieur sei (EUAA, April 2021, S. 13).
Laut dem Außenministerium der Niederlande habe die syrische Regierung hunderttausenden Männern im Alter zwischen 25 und 42 Jahren Reservedienst auferlegt. Teilweise seien auch Männer über 42 Jahren betroffen. Das Alter, bis zu dem eine Person im Militärdienst bleibe, hänge unter anderem vom Dienstgrad ab. Es konnte vom Niederländischen Außenministerium nicht in Erfahrung gebracht werden, ob Reservisten über 42 Jahren noch im Kampf eingesetzt werden (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Juni 2021, S. 38). Im Jänner und Juni 2022 interviewte vertrauliche Quellen hätten dem niederländischen Außenministerium mitgeteilt, dass auch Männern über 42 Jahren, die ihren Wehrdienst abgeleistet hätten, Verhaftung drohe, um sie zum Reservedienst einzuziehen. Laut einer der Quellen würden vor allem in Gebieten, die zuvor längere Zeit nicht unter staatlicher Kontrolle gestanden hätten, Männer, auch solche über 42 Jahren, als Reservisten eingezogen (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Mai 2022, S. 53).
Eine von Migrationsverket im Mai 2021 interviewte Quelle habe angegeben, dass die Altersgrenze von 42 Jahren in der Praxis nicht in Stein gemeißelt sei. Es sei von zentraler Bedeutung in welcher Einheit und an welchen Waffen die Person ausgebildet worden sei und in welchen Bereichen die Armee Unterstützung benötige. Das Alter sei zweitrangig. Laut Migrationsverket habe die Berichterstattung 2021 jedoch darauf hingedeutet, dass ältere Menschen nur in sehr geringem Umfang zum aktiven Dienst einberufen würden. Laut einem ehemaligen Offizier der syrischen Armee versuche die Armee die Rekrutierung von Männern, die knapp 42 Jahre alt seien, zu vermeiden. Dies sei jedoch schwer möglich, wenn der Bedarf an Männern für das Militär groß sei (Migrationsverket, 1. Juni 2021, S. 13-14).
DIS berichtet von zwei Anfang 2019 erlassenen Anordnungen, denen zufolge Personen, die zum damaligen Zeitpunkt über 42 Jahre (erste Anordnung) beziehungsweise über 38 Jahre (zweite Anordnung) gewesen seien, nicht mehr zum Reservedienst einberufen worden seien. Die erste Anordnung habe Ausnahmen für medizinisches Personal und Personen, die sich für mehr als 30 Tage einer Einberufung entzogen hätten, enthalten. Laut Suhail Al-Ghazi und einer humanitären Organisation seien gemäß der Anordnung seit Februar 2019 keine Männer über 38 Jahren mehr zum Reservedienst eingezogen worden. Im Gegensatz dazu habe die in der Türkei ansässige WATAN Foundation erklärt, dass auch Reservisten bis zum Alter von 40 Jahren zum Reservedienst einberufen worden seien. Auch Elizabeth Tsurkov vom Foreign Policy Research Institute habe vom Fall eines 40-jährigen Mannes gewusst, der Ende 2019 verhaftet und eingezogen worden sei (DIS, Mai 2020, S. 19). Laut SNHR und Jusoor for Studies seien einige Reservisten, die das 42. Lebensjahr überschritten hätten, weiterhin im aktiven Reservedienst tätig. SNHR habe außerdem angegeben, dass es sich um Männer bis zum Alter von 48 Jahren gehandelt habe (DIS, Mai 2020, S. 19-20).
Mehrfache Einberufung von Reservisten
Laut vom niederländischen Außenministerium interviewten vertraulichen Quellen dürften Personen, die nicht älter als 42 Jahre seien und ihren Wehrdienst abgeleistet hätten, mehrfach als Reservisten einberufen werden (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Mai 2022, S. 53).
SNHR fügt im Mai 2023 hinzu, dass dem Netzwerk keine Fälle bekannt seien, in denen Reservisten aus dem Reservedienst entlassen und in weiterer Folge ein zweites Mal eingezogen worden seien (SNHR, 31. Mai 2023).
Maximaldauer für die Einberufung als Reservist
Das niederländische Außenministerium erklärt im Mai 2022, dass seit März 2011 eine Demobilisierung ausschließlich auf Grundlage einer Anordnung des Präsidenten erfolge. Eine solche Anordnung gelte für bestimmte Kategorien, die zur Demobilisierung berechtigt seien (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Mai 2022, S. 55).
SNHR habe gegenüber DIS Anfang 2020 angegeben, dass keine reguläre endgültige Entlassung von Reservisten stattgefunden habe (DIS, Mai 2020, S. 16). Laut Jusoor for Studies habe die syrische Armee einige Jahre zuvor angekündigt, langjährig dienende Reservisten aus dem Dienst zu entlassen. Tatsächlich seien jedoch nur einige Offiziere und keine regulären Soldaten aus dem Dienst entlassen worden (DIS, Mai 2020, S. 17).
Suhail Al-Ghazi habe gegenüber DIS im Februar 2020 erklärt, dass Reservisten seit 2012 jeweils für einige Monate rekrutiert und danach wieder demobilisiert würden (DIS, Mai 2020, S. 78). Laut Al-Ghazi würden Reservisten im Infanterie- und Logistikdienst kontinuierlich vom Dienst entlassen. Reservisten, die in Panzerdivisionen dienen würden, würden jedoch wahrscheinlich ein bis zwei Jahre im aktiven Reservedienst gehalten. Die meisten der aus ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten rekrutierten Reservisten würden nach einigen Monaten demobilisiert (DIS, Mai 2020, S. 78-79). Laut Al-Ghazi seien Reservisten 2019 und 2020 schrittweise demobilisiert worden seien. Die Entlassung aus dem Dienst habe sich auf Reservisten mit einer Dienstzeit von mehr als fünf Jahren konzentriert (EUAA, April 2021, S. 26).
Laut DIS sei im März 2020 eine Anordnung erlassen worden, dass alle Reservisten, die seit 2013 durchgehend in der Armee gedient hätten, wie auch Offiziere, die seit mehr als drei Jahren als Reservisten in der Armee gedient hätten, zu demobilisieren seien (DIS, Mai 2020, S. 17).
Im November 2020 seien laut dem niederländischen Außenministerium zwei weitere Anordnungen von der syrischen Regierung erlassen worden, die die Demobilisierung von Reservisten, die zwei Jahre oder mehr gedient hätten, angeordnet hätten. Gleichzeitig seien Tausende anderer Zivilisten zum Reservedienst einberufen worden (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Juni 2021, S. 38-39).
Das niederländische Außenministerium schreibt im Juni 2021, dass seit 2011 die meisten Reservisten auf unbestimmte Zeit gedient hätten (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Juni 2021, S. 39). Eine vertrauliche Quelle habe dem niederländischen Außenministerium im Jänner 2021 mitgeteilt, dass Männer, die 1983 oder später geboren worden seien, sieben Jahre lang als Reservisten dienen müssten. Männer, die im Jahr 1982 geboren worden seien, müssten zwei Jahre dienen (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Juni 2021, S. 38).
Im Oktober 2021 habe Präsident Assad einen weiteren Demobilisierungsbefehl erlassen. Dieser habe alle Offiziere eingeschlossen, die mit 31. Dezember 2021 mindestens zwei Jahre als Reservisten gedient hätten, sowie eine bestimmte Gruppe von Ärzten, sofern sie nicht von der Armee gebraucht würden und bereits zwei Jahre als Reservisten gedient hätten, und Reservisten, die mit 31. Dezember 2021 mindestens sechseinhalb Jahre im Dienst gewesen seien (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Mai 2022, S. 55).
Im August 2022 veröffentlicht die staatliche Syrian Arab News Agency (SANA) eine weitere Anordnung zur Demobilisierung, unter anderem von Reservisten, die bereits seit mindestens sechseinhalb ihren Dienst abgeleistet hätten. Reservisten, die in den Jahren 1982-1983 geboren worden seien und die mit Ende August 2022 mindestens zwei Jahre im Dienst gewesen seien, würden ebenfalls demobilisiert, wie auch Reserveoffiziere, die seit mindestens einem Jahr ihren Dienst abgeleistet hätten (SANA, 27. August 2022).
Einsatz aktuell in welchen Bereichen und Gebieten
SNHR erklärt gegenüber ACCORD im Mai 2023, dass sich die Einsatzgebiete der Reservisten je nach Spezialisierung der einzelnen Reservestreitkräfte unterscheiden würden. In der Regel würden Reservisten mit derselben Spezialisierung gemeinsam an denselben Orten eingesetzt, wo sie bereits während ihres Wehrdienstes stationiert gewesen seien. Das Einsatzgebiet richte sich nach den Bedürfnissen der einzelnen Einheiten und deren militärischen Aufgaben. Die Entscheidung darüber werde von den Rekrutierungsbüros getroffen und ändere sich stetig (SNHR, 31. Mai 2023).
Migrationsverket zitiert im Juni 2021 eine in Damaskus ansässige Quelle mit guten Kenntnissen in militärischen Angelegenheiten. Laut der Quelle bestimmten die Situation im Land und der Bedarf die Verteilung, nicht die Herkunft der Person. Es gebe keine klaren Vorgaben oder Richtlinien, wer an die Front geschickt werde, und rund um die Zeit der Befragung sei die Zahl der Reservisten, die an die Front geschickt worden seien, angestiegen. Es gebe große lokale Unterschiede, wie Reservisten eingesetzt würden (Migrationsverket, 1. Juni 2021, S. 10).
Reservisten vom Bedarf der Armee und den Qualifikationen des Reservisten abhänge und davon, ob Reservisten von der Regierung als loyal angesehen würden. Laut Al-Ghazi verlasse sich die syrische Armee bei den Konflikten im Nordwesten Syriens und gegen den Islamischen Staat nicht auf Reservisten (EUAA, April 2021, S. 25).
Von DIS im Jahr 2020 interviewte Experten hätten angegeben, dass Reservisten wie auch Wehrpflichtige an der Front eingesetzt würden (DIS, Mai 2020, S. 14).
Laut Aymenn Jawad Al-Tamimi, Forscher und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Doktorand an der Universität Swansea, entsende die syrische Armee auch viele Wehrpflichtige und Reservisten, um unsichere Gebiete, wie die Wüste von Homs und Deir Ezzor, zu bewachen. Es gebe keine Garantie dafür, dass Wehrpflichtige oder Reservisten, die nicht aktiv an der Front kämpften, in ihrer [sicheren] Position und ihrem Einsatzgebiet bleiben könnten (DIS, Mai 2020, S. 49-50).
Möglichkeit des Freikaufens vom Reservedienst
Laut Gesetzesdekret Nr. 31 von 2020 zur Änderung einiger Artikel des Gesetzesdekrets Nr. 30 vom 3. Mai 2007 und dessen Novellierungen, einschließlich des Militärdienstgesetzes, ist eine Person, die sich seit mindestens einem Jahr außerhalb Syriens aufhält, dauerhaft außerhalb des Landes ansässig ist und eine Gebühr von 5.000 US-Dollar bezahlt, vom Reservedienst befreit (Gesetzesdekret Nr. 31 von 2020).
Auf der Webseite der syrischen Botschaft in Al-Manama, Bahrain, findet sich eine undatierte Kundmachung zur Umsetzung der Regelungen zum Freikauf vom Militärdienst. Ein Reservist, der sich langfristig und seit mehr als einem Jahr im Ausland befinde, könne sich für 5.000 US-Dollar vom Wehrdienst freikaufen (Botschaft der arabischen Republik Syrien in Bahrain, ohne Datum). Die syrische Botschaft im Libanon habe diese Möglichkeit ebenfalls in Aussicht gestellt, so Rozana Radio, ein von syrischen Journalist·innen im Exil in Paris gegründeter Radiosender, im Februar 2021. Allerdings habe ein Mitarbeiter der Botschaft in Beirut darauf hingewiesen, dass zu den 5.000 US-Dollar noch eine Bearbeitungsgebühr von 100 US-Dollar hinzukomme (Rozana Radio, 9. Februar 2021).
SNHR bestätigt, dass Personen, die dauerhaft außerhalb Syriens ansässig seien, sich vom Reservedienst freikaufen könnten (SNHR, 31. Mai 2023).
Es konnten keinen Informationen darüber gefunden werden, dass es Personen innerhalb Syriens möglich ist, sich vom Reservedienst freizukaufen.“
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Leben in Syrien und in der Türkei, seiner Schulausbildung und Berufserfahrung gründen sich auf den glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung sowie im behördlichen Verfahren (vgl. Niederschrift der mündlichen Verhandlung, S. 7 ff und Niederschrift der Einvernahme, AS 47ff)
Die Feststellungen zur familiären Situation des Beschwerdeführers stützen sich auf die glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung sowie im behördlichen Verfahren (vgl. Niederschrift der mündlichen Verhandlung, S. 7 f, Niederschrift der Einvernahme, AS 49f). Dass der Beschwerdeführer gesund ist, ergibt sich aus dessen diesbezüglich unbedenklichen Angaben in der mündlichen. Die Feststellungen zur strafrechtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers beruhen auf den vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Auszügen des Strafregisters.
2.2. Zu den Fluchtgründen:
Der Beschwerdeführer hat in der mündlichen Verhandlung zusammengefasst vorgebracht, dass er sich im reservedienstpflichtigen Alter befinde und befürchte, im Falle seiner Rückkehr nach Syrien zum Reservedienst bei der syrischen Armee einrücken zu müssen. Der Beschwerdeführer wolle niemanden töten und auch selbst nicht getötet werden.
So gab der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung in Bezug zu seinem Fluchtgrund an: „Im Jahr 2012 als ich wieder nach Syrien vom Libanon aus zurückgekehrt bin, bin ich an einem Kontrollposten angehalten worden und sie wollten Geld um mich gehen zu lassen. Ich habe ihnen keines geben, weil ich auch keines hatte. Sie haben mich mit der Waffe niedergeschlagen, seitdem höre ich am linken Ohr sehr wenig und sie haben mir einen Zahn ausgeschlagen. Ein weiterer Grund war im Jahr 2018. Ich wurde damals einberufen vom Ortsvorsteher und unser Ortsvorsteher war für alles zuständig. Für die Registrierung von Geburten, Eheschließungen und das aushändigen von Einberufungen. Er war wie eine Art Behörde. Ich wurde vom Ortsvorsteher einberufen. Er meinte ich muss in Aleppo zur Rekrutierungsstelle, da ich zum Reservedienst einberufen wurde. Ich habe einen schriftlichen Einberufungsbefehl erhalten, jedoch dann sofort weggeschmissen. Hätte ich ihn dabei, würde ich ihn sofort vorlegen. Im Jahr 2019 als die Regierung bei uns einmarschiert ist, sind fast ¾ der Einwohner von Manbidsch nach Jarablus. Ich bin damals mit, da ich die Brutalität der Regierung bereits gespürt hatte. Ich wollte ebenso nicht eingezogen werden. Ich möchte keinen töten oder gar getötet werden.“ (vgl. Niederschrift der mündlichen Verhandlung, S. 8, 9).
Dass der Beschwerdeführer den Grundwehrdienst bei der syrischen Armee bereits abgeleistet hat und er dort als LKW-Fahrer beschäftigt war ergab sich aus den glaubhaften Schilderungen des Beschwerdeführers: „R: Von wann bis wann haben Sie Ihren Grundwehrdienst bei der syrischen Armee geleistet? BF: Ich habe für zwei Jahre und drei Monate gedient. Ich glaube das war Ende 2005 bis zum Jahr 2007. Ich musste ein Monat extra dienen, zu dieser Zeit gab es in Libanon Bürgerkrieg und ich wurde in Tarmous für ein Monat angehalten. R: Welche Tätigkeiten haben Sie als Soldat während des Grundwehrdienstes ausgeübt? BF: Es war eher ein Fahrzeug mit Waffen. Ich musste Waffen transportieren von Ort zu Ort. Artillerie, Ausrüstung musste ich immer von Ort zu Ort bringen. R: Sind Sie einen LKW gefahren? BF: Ja, einen SIL – LKW.“ (vgl. Niederschrift der mündlichen Verhandlung, S. 9).
Den Länderberichten ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass sich die Heimatregion des Beschwerdeführers östlich bzw. nordöstlich der Stadt Manbij seit dem Einmarsch türkischer Truppen nach Nordsyrien in Teilen unter gemeinsamer Kontrolle des syrischen Regimes und der SDF bzw. kurdischer Milizen steht. Eine genaue Zuordnung der territorialen Kontrolle ist fallggst. schwer, da das Heimatdorf des Beschwerdeführers auf Kartendiensten nicht konkret verzeichnet ist.
Auch aus den in der EUAA Country Guidance als verlässliche Quelle zur Kontrollsituation in mehr als 8.000 syrischen Orten herangezogenen Kartendaten des „Syria Conflict Mapping team“ des Carter Center (https://www.cartercenter.org/news/multimedia/map/exploring-historical-control-in-syria.html ), geht hervor, sich vor allem Zonen nordöstlich der Stadt Manbij, in Richtung des von türkischen Truppen gehaltenen Gebiets (blaue Punkte) unter geteilter Kontrolle sowohl der SDF bzw. kurdischen Streitkräfte als auch der syrischen Armee stehen (hellrote Punkte) (Bilder abgerufen am 25.09.2023):
Was nun die Frage einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit betrifft, dass der Beschwerdeführer bei Rückkehr in diese Region durch die syrische Armee/Militärpolizei angehalten und in Folge zur Reservedienstleistung ebendort zwangsrekrutiert werden wird, ist angesichts der Angaben in der AFB „ACCORD v. 07.09.2023: Rekrutierung Wehrpflichtiger durch die syrische Regierung in Manbidsch (Provinz Aleppo) [a-12201-1]“ (https://www.ecoi.net/de/dokument/2097226.html ) in erheblichen Zweifel zu ziehen, dass eine solche Rekrutierungsmöglichkeit der syrischen Armee dort tatsächlich besteht:
„[..] Laut einem im August 2023 von ACCORD kontaktierten Syrienexperten würden sich die Gebiete in und um Manbidsch zwar durch die Präsenz einiger Regierungstruppen auszeichnen, die SDF (Syrian Democratic Forces) sei jedoch nach wie vor der Hauptakteur in der Region. Die SDF habe der Regierung lediglich erlaubt, Truppen einzusetzen, um eine mögliche türkische Militäroperation in Nordsyrien zu verhindern. Daher seien die Regierungstruppen zwar präsent, allerdings beschränke sich diese Präsenz auf die Durchführung von Patrouillen, meist zusammen mit der russischen Militärpolizei. In der Region sei die SDF zurzeit der wichtigste Kontrollakteur, der die Möglichkeit habe, die Lokalbevölkerung zu rekrutieren und zu verhaften (Syrienexperte, 17. August 2023). Der Syrienexperte bestätigt auf Nachfrage im September 2023, dass seines Wissens nach die syrische Regierung keine Wehrpflichtigen für den Militärdienst in Manbidsch einberufen könne (Syrienexperte, 4. August 2023).
Wladimir van Wilgenburg bestätigt im September 2023 in einer E-Mail-Auskunft an ACCORD, dass es in Manbidsch keinen Militärdienst der syrischen Regierung gebe. Die syrische Regierung könne in Gebieten, die von den SDF oder mit ihnen verbundenen Kräften kontrolliert würden, keine Wehrpflichtigen einziehen (Van Wilgenburg, 1. September 2023).
Das Syrian Network for Human Rights (SNHR), eine 2011 gegründete unabhängige Menschenrechtsorganisation, die Menschenrechtsverletzungen in Syrien beobachtet und dokumentiert, schreibt in einer E-Mail-Auskunft an ACCORD vom August 2023, dass die Rekrutierung von Wehrpflichtigen und Reservisten durch die syrischen Regierung an deren Zugriffsmöglichkeiten gebunden sei. Dies bedeute, dass wenn junge Menschen, einen Checkpoint unter der Kontrolle der Regierungskräfte in der Nähe von Manbidsch passieren würden und für den Militärdienst gesucht würden, zur Wehrpflicht eskortiert würden (SNHR, 21. August 2023).[..]“ (ACCORD a.a.O. S. 2 -4)
Letztendlich kommt es aber fallbezogen auch unter Einbeziehung der Tatsache, dass der Heimatort des Beschwerdeführers auf Kartendiensten nicht gefunden werde konnte, auf eine solche tatsächliche Rekrutierungsmöglichkeit nicht weiter an, da dem Beschwerdeführer selbst bei Annahme einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer Rekrutierung zum Reservedienst durch die syrische Armee jedenfalls Alternativen zur Reservedienstleistung zur Verfügung stehen bzw. ihm durch dessen Verweigerung keine asylrelevante oppositionelle Gesinnung unterstellt wird (vgl. die umfangreichen Ausführungen dieser Thematik unten in den Punkten II.3.3ff).
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer keine glaubhaft verinnerlichte politische Überzeugung gegen den Dienst an der Waffe an sich aufweist und auch nicht als potentieller Oppositioneller ins Blickfeld des syrischen Regimes gerückt ist, waren aufgrund seiner diesbezüglich Angaben im Verfahren zu treffen, wonach er niemals politisch aktiv war bzw. sich nicht aufgrund einer inneren Einstellung politisch gegen das syrische Regime in einer für das Regime wahrnehmbaren Art und Weise betätigt hat. Folglich gab er auch schon bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt an, niemals wegen politischer Aktivitäten verfolgt worden zu sein. Auch in Zusammenhang mit seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer weder vor dem Bundesamt noch vor dem BVwG an, sich aufgrund einer politischen Überzeugung oder entsprechender von ihm gesetzter außenwirksamer politischer Aktivitäten verfolgt zu fühlen. Er gab an, er habe auch niemals gegen das syrische Regime demonstriert.
Hinsichtlich der Frage was der Beschwerdeführer konkret im Rahmen des Reservedienstes befürchte, gab er an, niemanden töten zu wollen und auch selbst nicht sterben zu wollen, er wolle nicht auf seine Landsleute schießen müssen. Wenngleich diese moralische Ansicht des Beschwerdeführers mehr als nachvollziehbar erscheint, stellt diese Ansicht keine tiefgreifend verinnerlichte politische Überzeugung gegen den Dienst an Waffe an sich dar, zumal der Beschwerdeführer diesen auch bereits in Form seines Grundwehrdienstes bei der SAA geleistet hat, wenngleich zuzugestehen ist, dass der innersyrische Bürgerkrieg zum Zeitpunkt der Ableistung des Grundwehrdienstes noch nicht ausgebrochen war.
2.3. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen stützen sich auf die zitierten und referenzierten Quellen. Angesichts der Aktualität, Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie des Umstandes, dass diese Berichte auf verschiedenen voneinander unabhängigen Quellen beruhen und ein übereinstimmendes, in sich schlüssiges und nachvollziehbares Gesamtbild liefern, besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Die Quellen konnten daher allesamt dem Verfahren zugrunde gelegt werden.
3. Rechtliche Beurteilung
Zu Spruchteil A): Zur Abweisung der Beschwerde:
3.1 ggst. maßgebliche Rechtsvorschriften:
Die RL 2011/95/EU des europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes („StatusRL“), ABl. L Nr. 337 vom 20.12.2011, S. 9, lautet auszugsweise:
„Artikel 4
Prüfung der Tatsachen und Umstände
(1) Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.
(2) Zu den in Absatz 1 genannten Anhaltspunkten gehören Angaben des Antragstellers zu Alter und familiären und sozialen Verhältnissen — auch der betroffenen Verwandten —, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz und sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen zu diesen Angaben.
(3) Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:
a) alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden;
b) die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;
c) die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;
d) die Frage, ob die Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes ausschließlich oder hauptsächlich aufgenommen wurden, um die für die Beantragung von internationalem Schutz erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit bewertet werden kann, ob der Antragsteller im Fall einer Rückkehr in dieses Land aufgrund dieser Aktivitäten verfolgt oder ernsthaften Schaden erleiden würde;
e) die Frage, ob vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er den Schutz eines anderen Staates in Anspruch nimmt, dessen Staatsangehörigkeit er für sich geltend machen könnte.
4) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.
(5) Wenden die Mitgliedstaaten den Grundsatz an, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese Aussagen keines Nachweises, wenn
a) der Antragsteller sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen;
b) alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde;
c) festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen;
d) der Antragsteller internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war; und
e) die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.
…
Artikel 6
Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann
Die Verfolgung bzw. der ernsthafte Schaden kann ausgehen von
a) dem Staat;
b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen;
c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden im Sinne des Artikels 7 zu bieten.
...
Artikel 9
Verfolgungshandlungen
(1) Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, muss eine Handlung
a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Abweichung zulässig ist, oder
b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist.
(2) Als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:
a) Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
b) gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
c) unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
d) Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
e) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 fallen, und
f) Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.
(3) Gemäß Artikel 2 Buchstabe d muss eine Verknüpfung zwischen den in Artikel 10 genannten Gründen und den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen bestehen.
Artikel 10
Verfolgungsgründe
(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:
a) Der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
b) der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
c) der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
d) eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn - die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
- die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine bestimmte soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Als sexuelle Orientierung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten. Geschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, werden zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe angemessen berücksichtigt;
e) unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Artikel 6 genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.“
Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl, i.d.F. BGBl. I Nr. 234/2021, („AsylG 2005“), lautet auszugsweise:
„Begriffsbestimmungen
§ 2. (1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist
1. …
8. …
9. die Statusrichtlinie: die Richtlinie 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes; ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9;
10. …
11. Verfolgung: jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie;
12. ein Verfolgungsgrund: ein in Art. 10 Statusrichtlinie genannter Grund;
13. …
27. …
Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) …
(5) …
…
Mitwirkungspflichten von Asylwerbern im Verfahren
§ 15. (1) Ein Asylwerber hat am Verfahren nach diesem Bundesgesetz mitzuwirken; insbesondere hat er
1. ohne unnötigen Aufschub seinen Antrag zu begründen und alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen;
2. bei Verfahrenshandlungen und bei Untersuchungen durch einen Sachverständigen persönlich und rechtzeitig zu erscheinen, und an diesen mitzuwirken. Unfreiwillige Eingriffe in die körperliche Integrität sind unzulässig;
3. ihm zur Verfügung stehende ärztliche Befunde und Gutachten, soweit diese für die Beurteilung des Vorliegens einer belastungsabhängigen krankheitswertigen psychischen Störung (§ 30) oder besonderer Bedürfnisse (§ 2 Abs. 1 GVG-B) relevant sind, vorzulegen;
4. dem Bundesamt oder dem Bundesverwaltungsgericht, auch nachdem er Österreich, aus welchem Grund auch immer, verlassen hat, seinen Aufenthaltsort und seine Anschrift sowie Änderungen dazu unverzüglich bekannt zu geben. Hierzu genügt es, wenn ein in Österreich befindlicher Asylwerber seiner Meldepflicht nach dem Meldegesetz 1991 – MeldeG, BGBl. Nr. 9/1992 nachkommt. Unterliegt der Asylwerber einer Meldeverpflichtung gemäß § 15a, hat die Bekanntgabe im Sinne des ersten Satzes spätestens zeitgleich mit der Änderung des Aufenthaltsortes zu erfolgen. Die Meldepflicht nach dem MeldeG bleibt hievon unberührt;
5. dem Bundesamt oder dem Bundesverwaltungsgericht alle ihm zur Verfügung stehenden Dokumente und Gegenstände am Beginn des Verfahrens, oder soweit diese erst während des Verfahrens hervorkommen oder zugänglich werden, unverzüglich zu übergeben, soweit diese für das Verfahren relevant sind;
7. unbeschadet der Z 1, 2, 4 und 5 an den zu Beginn des Zulassungsverfahrens notwendigen Verfahrens- und Ermittlungsschritten gemäß § 29 Abs. 6 mitzuwirken.
(2) Wenn ein Asylwerber einer Mitwirkungspflicht nach Abs. 1 aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen nicht nachkommen kann, hat er dies, je nachdem bei wem zu diesem Zeitpunkt das Verfahren geführt wird, unverzüglich dem Bundesamt oder dem Bundesverwaltungsgericht mitzuteilen. Die Mitteilung ist zu begründen.
(3) Zu den in Abs. 1 Z 1 genannten Anhaltspunkten gehören insbesondere
1. der Name des Asylwerbers;
2. alle bisher in Verfahren verwendeten Namen samt Aliasnamen;
3. das Geburtsdatum;
4. die Staatsangehörigkeit, im Falle der Staatenlosigkeit der Herkunftsstaat;
5. Staaten des früheren Aufenthaltes;
6. der Reiseweg nach Österreich;
7. frühere Asylanträge und frühere Anträge auf internationalen Schutz, auch in anderen Staaten;
8. Angaben zu familiären und sozialen Verhältnissen;
9. Angaben über den Verbleib nicht mehr vorhandener Dokumente;
10. Gründe, die zum Antrag auf internationalen Schutz geführt haben, und
11. Gründe und Tatsachen, nach denen das Bundesamt oder das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich fragt, soweit sie für das Verfahren von Bedeutung sind.
(4) …
…
Ermittlungsverfahren
§ 18. (1) Das Bundesamt und das Bundesverwaltungsgericht haben in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amts wegen beizuschaffen.
(2) ….
(3) Im Rahmen der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens eines Asylwerbers ist auf die Mitwirkung im Verfahren Bedacht zu nehmen.“
3.2. Zum Flüchtlingsbegriff allgemein:
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg.cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Flüchtling i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK (i.d.F. des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99/20/0128; VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
Nach der Rechtsprechung des VwGH ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der [Beschwerdeführer] die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG § 45 Rz 3 mit Judikaturhinweisen). Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der „hierzu geeigneten Beweismittel“, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).
Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
In der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes wird ausgeführt, dass drohende Bestrafung wegen der Weigerung der Teilnahme an einem von der Völkergemeinschaft verurteilten Kriegseinsatz dann zur Asylgewährung führen könne, wenn dem jeweiligen Asylwerber eine feindliche politische Gesinnung unterstellt werde (siehe etwa VwGH 21.12.2000, 2000/01/0072). Der Verwaltungsgerichtshof vertritt darüber hinaus ausdrücklich die Auffassung, dass unter dem Gesichtspunkt des Zwangs zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen - etwa gegen die Zivilbevölkerung - auch eine bloße Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung darstellen kann (VwGH 25.03.2003, 2001/01/0009). Dies ist auch in Art. 9 Abs. 2 lit e der Richtlinie 2011/95/EU ausdrücklich festgehalten. Daher wäre eine (drohende) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 der genannten Richtlinie fallen, eine (drohende) asylrelevante Verfolgung.
Gemäß § 3 Abs. 3 Z. 1 und § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Asylantrag abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann ("innerstaatliche Fluchtalternative"). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann (vgl. zur Rechtslage vor dem AsylG 2005 z.B. VwGH 15.03.2001, 99/20/0036; VwGH 15.03.2001, 99/20/0134, wonach Asylsuchende nicht des Schutzes durch Asyl bedürfen, wenn sie in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen).
Damit ist - wie der Verwaltungsgerichtshof zur GFK judiziert - nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "inländischen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal wirtschaftliche Benachteiligungen auch dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614, VwGH 29.03.2001, 2000/20/0539).
3.3. Der Begriff der „Verfolgung“ in der StatusRL:
Um als „Verfolgung“ bzw. „Verfolgungshandlung“ nach § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 i.V.m. Art. 9 Abs. 1 der StatusRL qualifiziert zu werden müssen die maßgeblichen Ereignisse aufgrund ihrer Art oder Wiederholung „so gravierend“ sein, dass sie eine „schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen“, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die „so gravierend“ ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise wie durch eine „schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte“ betroffen ist. Nach Art. 9 Abs. 3 der StatusRL muss außerdem eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 leg. cit. genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen bestehen (vgl. VwGH 19.04.2021, Ra 2021/01/0034, Rn. 12, unter Hinweis auf das Urteil des EuGHs vom 20.01.2021, C-255/19, Secretary of State for the Home Department/OA; zur Kumulierung vgl. auch VwGH 26.06.1996, 95/20/0423).
Als Verfolgungshandlungen definiert zum einen Art. 9 Abs. 1 lit. a) der Statusrichtlinie solche, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Zum anderen kann nach Art. 9 Abs. 1 lit. b) leg. cit. die Verfolgungshandlung aber auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a beschriebenen Weise betroffen ist. Dazu zählt die Statusrichtlinie ausdrücklich gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden bzw. solche, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen. Der Grund für den im Falle einer Verfolgung im beschriebenen Sinne gebotenen asylrechtlichen Schutz könnte schon darin liegen, dass eine Abweichung von den herrschenden religiösen und/oder politischen Normen als Akt einer (allenfalls auch nur unterstellten) religiösen und/oder politischen Opposition betrachtet wird (vgl. VwGH 31.08.2022, Ra 2021/18/0366, Rn. 28 ff, m.w.N.).
Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der StatusRL). Ob dies der Fall ist, haben das Bundesamt bzw. das Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (vgl. VwGH 18.05.2020, Ra 2019/18/0402, Rn. 19).
Bei der Beurteilung der Lage im Herkunftsstaat sind die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben (vgl. dazu etwa VwGH 20.10.2021, Ra 2021/20/0329, Rn. 25, m.w.N.). Verpflichtend als Leitlinien zu berücksichtigen sind von UNHCR und dem EASO (nunmehr der EUAA) herausgegebene Richtlinien (vgl. VwGH 11.02.2021, Ra 2021/20/0026 bis 0029, Rn. 14, m.w.N.).
Der EuGH hat zu Art. 4 der Richtlinie 2004/83/EG („Prüfung der Ereignisse und Umstände“), dem Art. 4 der StatusRL de facto entspricht, erwogen, dass die von dieser Bestimmung vorgesehene „Prüfung“ sich in Wirklichkeit „in zwei getrennten Abschnitten“ vollzieht. Der erste Abschnitt betrifft die Feststellung der tatsächlichen Umstände, die Beweise zur Stützung des Antrags darstellen können, während der zweite Abschnitt die rechtliche Würdigung dieser Umstände betrifft, die in der Entscheidung besteht, ob die in den Art. 9 und 10 oder 15 der Richtlinie 2004/83 vorgesehenen materiellen Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes in Anbetracht der Umstände, die einen konkreten Fall auszeichnen, erfüllt sind (vgl. zum Ganzen EuGH 22.11.2012, C-277/11, M.M./Minister for Justice, Equality and Law Reform, Rn. 64). Daraus folgt, dass, ausgehend vor allem vom zur Antragsbegründung getätigten Vorbringens, unter dem Begründungselement „Tatsachenfeststellungen“ (gegenständlich als „Feststellungen“ bezeichnet) die positiven oder negativen Feststellungen, insbesondere zu den als entscheidungsrelevant erachteten persönlichen Umständen einer Antragstellerin oder eines Antragstellers (vgl. dazu Art. 4 Abs. 3 lit. c) StatusRL), zu behaupteten Vorgänge im Herkunftsstaat (die dann u.U. als so genannte „Vorverfolgungshandlungen“ i.S.d. Art. 4 Abs. 4 der StatusRL qualifiziert werden könnten), wie auch zur derzeitigen Lage im Herkunftsstaat auszuführen sind. „Beweiswürdigend“ wäre zu den festgestellten Tatsachen jeweils, im erforderlichen Umfang, zu erwägen, ob bzw. warum diese jeweiligen Tatsachen – vor allem bezogen auf die erwähnten persönlichen Umstände oder behaupteten Vorgänge im Herkunftsstaat und eben nach dem Beweismaßstab der „Glaubhaftmachung“ – als glaubwürdig oder nicht glaubwürdig anzusehen sind.
Im Begründungselement „rechtliche Beurteilung“ ist wiederum ausgehend von (bzw. in deren Zusammenschau) den festgestellten Tatsachen – nach dem Maßstab der „maßgeblichen Wahrscheinlichkeit“ – prognostizierend darzulegen, ob, und wenn ja, von welchen Handlungen gegen den Beschwerdeführer im Entscheidungszeitpunkt (hier des Bundesverwaltungsgerichts) bei Rückkehr in den Herkunftsstaat auszugehen wäre. Diese Handlungen sind, ebenfalls als Gegenstand der rechtlichen Beurteilung, in der Folge dahingehend zu bewerten, ob diese sich – aufgrund auch der Intensität des Eingriffs in ein (asyl-)rechtlich beachtliches Recht – als „Verfolgung(-shandlungen)“ i.S.d. § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 i.V.m. Art. 9 der StatusRL qualifizieren. Daran schließt die Beurteilung an, ob die Handlung(en) mit einem Grund i.S.d. § 2 Abs. 1 Z 12 AsylG 2005 verknüpft werden können. Daraus kann dann abgeleitet werden, ob die oder der Antragsteller eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung – eben aus dem der Gründe nach Art 10 Abs. 2 StatusRL i.V.m. Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK – glaubhaft gemacht hat.
3.4 Zur Verfolgung aufgrund einer Verweigerung des Wehrdiensts in der Syrian Arab Army (SAA):
Als Verfolgungshandlung gilt gemäß § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 i.V.m. Art. 9 Abs. 2 lit. e) der StatusRL die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 der genannten Richtlinie fallen. Verfolgungshandlungen, denen derjenige, der gemäß dieser Bestimmung als Flüchtling anerkannt werden möchte, nach seinen Angaben ausgesetzt ist, müssen aus seiner Verweigerung des Militärdiensts resultieren (vgl. VfGH 20.09.2022, E 1138/2022, Rn. 15 unter Hinweis auf Rechtsprechung des EuGHs).
Nach den getroffenen Feststellungen zur Lage in Syrien besteht die Pflicht für 18 bis 42-jährige Männer zur Leistung des Wehrdiensts (Grundwehr- und bei Einberufung auch Reservedienstleistung) in der syrischen Armee und wird diese auch umgesetzt (vgl. Punkt II.1.3.1 unter „Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen“ – „Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst“ und das Kapitel „Umsetzung“).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs stellt die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar, sondern könnte nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen (vgl. dazu etwa VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0330, m.w.N.). Einer Wehrdienstverweigerung kann Asylrelevanz zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen seiner Wehrdienstverweigerung vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen – wie etwa bei Anwendung von Folter – jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Würde der Wehrdienst dazu zwingen, an völkerrechtswidrigen Militäraktionen teilzunehmen, kann nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung auch schon eine Bestrafung mit einer („bloßen“) Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein (vgl. dazu etwa VwGH 25.06.2019, Ra 2018/19/0705, m.w.N.).
Aufbauend auf einer – noch als grundsätzlich aktuell anzusehenden Berichtslage – vertritt der UNHCR die Auffassung, dass Personen, die sich dem Pflichtwehrdienst oder dem Reservewehrdienst aus Gewissensgründen entzogen haben („Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen“), wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls auf der Grundlage einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer Religion.
Angesichts der weitverbreiteten Berichte über schwere Verstöße der Regierungstruppen gegen internationale Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht in Verbindung mit dem Umstand, dass individuelle Rekruten und Reservisten grundsätzlich keinen Einfluss auf ihre Funktion innerhalb der Streitkräfte (einschließlich des Gebiets, in dem sie eingesetzt werden, und der Art der Aufgaben, die ihnen zugewiesen werden) nehmen können, ist UNHCR der Auffassung, dass bei einer Einberufung zu den Streitkräften die vernünftige Wahrscheinlichkeit besteht, an Aktivitäten teilnehmen zu müssen, die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, das Völkerstrafrecht und/oder internationale Menschenrechte darstellen.
Dementsprechend ist UNHCR der Auffassung, dass Personen, die sich dem Pflichtwehrdienst oder dem Reservewehrdienst entzogen haben, da sie mit den Mitteln und Methoden der Kriegsführung der Regierungstruppen nicht einverstanden sind („Verweigerung des Militärdienstes in Konflikten, die den Grundregeln menschlichen Verhaltens zuwiderlaufen“), wahrscheinlich internationalen Flüchtlingsschutz benötigen, je nach den Umständen des Einzelfalls auf der Grundlage einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder ihrer Religion (zum Ganzen siehe UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen [2021], S. 138).
Ebenso vor einer grds. noch aktuellen Länderberichtslage sieht die EUAA zu einem Risikoprofil der „Wehrdienstentziehung oder Desertation“ („Persons who evaded or deserted military service“) das Risiko für Verfolgungshandlungen (vgl. EUAA, Country Guidance Kapitel 2.2.) wie folgt:
Aufgrund des andauernden bewaffneten Konflikts in Syrien, in dem verschiedene asylausschließbare Handlungen von den syrischen Streitkräften begangen worden sein sollen, in Verbindung mit der Tatsache, dass die einzelnen Rekruten und Reservisten im Allgemeinen keine Kontrolle über ihre Rolle innerhalb der Streitkräfte hätten, weder in Bezug auf ihren Einsatzort noch in Bezug auf die Zuweisung bestimmter Aufgaben, werde die Erfüllung von Art. 9 Abs. 2 lit. e der StatusRL als zutreffend erachtet. Eine begründete Furcht vor Verfolgung wäre daher im Allgemeinen begründet.
In Anbetracht der Tatsache, dass es keine Bestimmungen für einen Ersatzdienst gebe und außer für christliche und muslimische Religionsführer kein Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen bestehe, wäre eine begründete Furcht vor Verfolgung im Allgemeinen auch für andere Personen begründet, die sich der Wehrpflicht aus Gewissensgründen entzogen hätten und keinen Befreiungsgrund vorweisen können. Bei der individuellen Beurteilung, ob es sich um einen Kriegsdienstverweigerer handle, sei zu prüfen, ob die Ablehnung des Militärdienstes durch einen schwerwiegenden und unüberwindbaren Konflikt zwischen der Verpflichtung, in der Armee zu dienen, und dem Gewissen einer Person oder ihren tief verwurzelten und aufrichtigen religiösen oder anderen Überzeugungen motiviert sei und eine Überzeugung oder einen Glauben von hinreichender Schlüssigkeit, Ernsthaftigkeit, Kohärenz und Bedeutung darstelle (unter Hinweis auf das Urteil des EuGH vom 19.11.2020, Rechtssache C- 238/19, EZ/Deutschland). Andere Maßnahmen, denen sich Wehrdienstverweigerer ausgesetzt sehen könnten, könnten ebenfalls so schwerwiegend sein, dass sie einer Verfolgung gleichkommen (z. B. willkürliche Verhaftung in Verbindung mit anderen Formen der Misshandlung wie körperliche Gewalt, die mit der Behandlung in Haftanstalten verbundenen Risiken, einschließlich Folter).
Im Falle von Wehrdienstverweigerern, die keine Befreiung vom Wehrdienst bzw. Reservedienst in Anspruch nehmen (können) wird im Allgemeinen eine begründete Furcht vor Verfolgung gegeben sein. Da Amnestieerlasse zeitlich begrenzt seien und die Verpflichtung zur Ableistung des Wehrdienstes bzw. Reservedienst nicht aufheben, würden sie sich im Allgemeinen auch nicht auf ein mit der Wehrdienstverweigerung verbundenes Risiko auswirken.
3.4.1 Zur Alternative zur (bloßen) Verweigerung des Wehrdienstes bei der SAA
Der Verwaltungsgerichthof referenziert in seiner rezenten Judikatur (VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108) zur Frage der Asylrelevanz der Wehrdienstverweigerung syrischer Staatsbürger in der SAA (VwGH a.a.O. Rz. 27 f) unter anderem auch auf die rezente Judikatur des deutschen Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG). Aus der diesbezüglichen Leitentscheidung des BVerwG vom 19.01.2023, Zl. BVerwG 1 C 22.21, lässt sich hierzu unter Verweis auf die Judikatur des EuGHs zur StatusRL das Folgende auszugsweise entnehmen (Anm.: Verweise hier auf das dt. AsylG, Hervorhebung durch den Verfasser):
„20 Gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG kann als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG unter anderem die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt gelten, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen.
21 aa) § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG erfasst vorbehaltlich entgegenstehender Umstände des Einzelfalls auch die Verweigerung des Militärdienstes durch Antragsteller, die sich im militärdienstpflichtigen Alter befinden, zum Kreis derer gehören, die voraussichtlich dem Militärdienst unterliegen und bei denen beachtlich wahrscheinlich ist, dass sie zeitnah einberufen werden.
22 § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ist im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU dahingehend auszulegen, dass die genannten Vorschriften es, wenn das Recht des Herkunftsstaates die Möglichkeit der Verweigerung des Militärdienstes nicht vorsieht und es dementsprechend kein Verfahren zu diesem Zweck gibt, nicht verwehren, diese Verweigerung auch für den Fall festzustellen, dass der Betroffene seine Verweigerung nicht in einem bestimmten Verfahren formalisiert hat und aus seinem Herkunftsland geflohen ist, ohne sich der Militärverwaltung zur Verfügung zu stellen. Maßgeblich ist, dass diese Verweigerung das einzige Mittel darstellt, das es dem Antragsteller erlaubt, der Beteiligung an Kriegsverbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG zu entgehen. Ist diese Verweigerung nach dem Recht des Herkunftsstaates rechtswidrig und ist der Antragsteller durch die Verweigerung der Strafverfolgung und Bestrafung ausgesetzt, so kann von ihm vernünftigerweise nicht verlangt werden, dass er jene vor der Militärverwaltung zum Ausdruck gebracht hat (EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 [ECLI:EU:C:2020:945], EZ - Rn. 27 ff.).“
Der EuGH führt im vom BVerwG referenzierten Judikat vom 19. November 2020, Rs. C-238/19 zur Frage Asylrelevanz einer Wehrdienstverweigerung wegen mutmaßlichem Zwang zu Begehung menschenrechtswidriger Handlungen bzw. Kriegsverbrechen während dessen Ableistung i.Zh.m. Art. 9 Abs. 2 lit. e) StatusRL wie folgt aus:
„26 Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er es, wenn das Recht des Herkunftsstaats die Möglichkeit, den Militärdienst zu verweigern, nicht vorsieht, verwehrt, diese Verweigerung in einer Situation festzustellen, in der der Betroffene seine Verweigerung nicht in einem bestimmten Verfahren formalisiert hat und aus seinem Herkunftsland geflohen ist, ohne sich der Militärverwaltung zur Verfügung zu stellen.
27 Nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 müssen die Verfolgungshandlungen, denen derjenige, der gemäß dieser Bestimmung als Flüchtling anerkannt werden möchte, nach seinen Angaben ausgesetzt ist, aus seiner Verweigerung des Militärdienstes resultieren. Demnach muss diese Verweigerung das einzige Mittel darstellen, das es dem Betroffenen erlaubt, der Beteiligung an Kriegsverbrechen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie zu entgehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2015, Shepherd, C‑472/13, EU:C:2015:117, Rn. 44).
28 Folglich schließt der Umstand, dass der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrende Antragsteller kein Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer angestrengt hat, jeden Schutz nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 aus, sofern der Antragsteller nicht beweist, dass ihm in seiner konkreten Situation kein derartiges Verfahren zur Verfügung stand (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2015, Shepherd, C‑472/13, EU:C:2015:117, Rn. 45).
29 Wenn die Möglichkeit, den Militärdienst zu verweigern, vom Recht des Herkunftsstaats nicht vorgesehen ist und es dementsprechend kein Verfahren zu diesem Zweck gibt, kann von dem Kriegsdienstverweigerer nicht verlangt werden, dass er seine Verweigerung in einem bestimmten Verfahren formalisiert.
30 Außerdem kann in diesem Fall unter Berücksichtigung der Tatsache, dass diese Verweigerung nach dem Recht des Herkunftsstaats rechtswidrig ist, sowie der Strafverfolgung und Bestrafung, denen der Betroffene durch die Verweigerung ausgesetzt ist, von ihm vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er sie vor der Militärverwaltung zum Ausdruck gebracht hat.
31 Allerdings reichen diese Umstände nicht für den Nachweis aus, dass der Betroffene den Militärdienst tatsächlich verweigert hat. Nach Art. 4 Abs. 3 Buchst. a, b und c der Richtlinie 2011/95 ist dies – wie in Rn. 23 des vorliegenden Urteils dargelegt – wie die anderen zur Stützung des Antrags auf internationalen Schutz vorgebrachten Anhaltspunkte unter Berücksichtigung aller mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, der maßgeblichen Angaben des Antragstellers und der von ihm vorgelegten Unterlagen sowie seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Umstände zu prüfen.“
Hinsichtlich der Frage, ob die Verweigerung des staatlichen Wehrdienstes bzw. Reservedienstes die einzige Möglichkeit, sohin das einzige Mittel darstellt, das es dem Betroffenen erlaubt, der Beteiligung an Kriegsverbrechen zu entgehen, geht der EuGH folglich unter Verweis auf sein Urteil vom 26. Februar 2015, Rs. C‑472/13 „Shepherd“ davon aus, dass es bei hinreichender Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrdienst Leistender dazu gezwungen sein könnte menschenrechtswidrige Handlungen bzw. Kriegsverbrechen während seines Wehrdienstes zu begehen, für die Asylrelevanz dieses Faktums darauf ankommen soll, ob dem Wehrpflichtigen keine andere Möglichkeit als der Verweigerung des Wehrdienstes offensteht, um nicht im Zuge der Wehrdienstleistung zu den oben genannten Handlungen gezwungen zu werden (vgl. auch Binder/Haller/Nedwed „Wehrdienstverweigerung als Asylgrund“, in Filzwieser/Kasper (Hrsg.) Asyl- und Fremdenrecht Jahrbuch 2023, 243).
Die entsprechenden zusammenfassenden Erwägungen im Urteil des EuGHs vom 26. Februar 2015, Rs. C‑472/13 „Shepherd“ lesen sich hierbei auszugsweise wie folgt:
„46 Nach alledem ist auf die Fragen 1 bis 7 zu antworten, dass die Bestimmungen von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen sind,
– dass sie alle Militärangehörigen einschließlich des logistischen und unterstützenden Personals erfassen,
– dass sie den Fall betreffen, in dem der geleistete Militärdienst selbst in einem bestimmten Konflikt die Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde, einschließlich der Fälle, in denen der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrende Antragsteller nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde,
– dass sie nicht ausschließlich Fälle betreffen, in denen feststeht, dass bereits Kriegsverbrechen begangen wurden oder vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht werden könnten, sondern auch solche, in denen der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrende Antragsteller darzulegen vermag, dass solche Verbrechen mit hoher Wahrscheinlichkeit begangen werden,
– dass die allein den innerstaatlichen Behörden unter gerichtlicher Kontrolle obliegende Tatsachenwürdigung zur Einordnung der bei dem in Rede stehenden Dienst bestehenden Situation auf ein Bündel von Indizien zu stützen ist, das geeignet ist, in Anbetracht aller relevanten Umstände – insbesondere der mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, sowie der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers – zu belegen, dass die bei diesem Dienst bestehende Situation die Begehung der behaupteten Kriegsverbrechen plausibel erscheinen lässt,
– dass bei der den innerstaatlichen Behörden obliegenden Würdigung zu berücksichtigen ist, dass eine militärische Intervention aufgrund eines Mandats des Sicherheitsrats der Organisation der Vereinten Nationen oder auf der Grundlage eines Konsenses der internationalen Gemeinschaft stattfindet und dass der oder die die Operationen durchführenden Staaten Kriegsverbrechen ahnden, und
– dass die Verweigerung des Militärdienstes das einzige Mittel darstellen muss, das es dem die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrenden Antragsteller erlaubt, der Beteiligung an den behaupteten Kriegsverbrechen zu entgehen, so dass der Umstand, dass er kein Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer angestrengt hat, jeden Schutz nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 ausschließt, sofern der Antragsteller nicht beweist, dass ihm in seiner konkreten Situation kein derartiges Verfahren zur Verfügung stand.“
3.4.1.1. In Zusammenschau der soeben dargestellten Judikatur lässt sich dieser somit fallbezogen entnehmen, dass es angesichts der in den Länderberichten zu Syrien dargestellten Praxis der syrischen Militärbehörden, wehrpflichtige männliche Syrer im Falle einer Kontrolle bei ihrer Einreise oder an einem Checkpoint festzunehmen und im Wege einer Zwangsrekrutierung ihrer Wehrdienst- bzw. Reservedienstleistung zuzuführen sowie weiters aufgrund der Tatsache, dass im Wehrrecht der Arabischen Republik Syrien keine gesetzliche Möglichkeit zur Verweigerung des Wehr- bzw. Reservedienstes besteht und eine solche im Gegenteil in eventu Gegenstand von sofortiger Strafverfolgung und Haft in asylrelevanter Gravität sein kann, es wehrpflichtigen männlichen Syrern nicht zur Last gelegt werden kann, ihre Wehrdienstverweigerung nicht in einem „formellen“ Verfahren gegenüber den syrischen Militärbehörden ausgedrückt zu haben. Es kann daher fallbezogen dem Beschwerdeführer im Hinblick auf die Frage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu seinem Nachteil vorgehalten werden, kein Verfahren zur „Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer“ angestrengt zu haben, da ein solches im Wehrrecht der Arabischen Republik Syrien schlichtweg nicht existiert.
3.4.1.2. Davon losgelöst ist jedoch im Hinblick auf die Asylrelevanz der in Art. 9 Abs. 2 lit. e) StatusRL bezeichneten Verfolgungshandlung festzuhalten, dass die Verweigerung des Wehrdienstes (unabhängig davon, ob es sich um einen Grundwehr- oder Reservedienst handelt) nach Ansicht des EuGHs die einzig zur Verfügung stehende Möglichkeit für den Wehrpflichtigen sein muss, der potentiellen Begehung von Kriegsverbrechen während der Ableistung des Wehrdienstes zu entgehen.
Im Hinblick auf den verpflichtenden Wehr- bzw. Reservedienst bei der SAA für männliche Syrer, ist dessen Verweigerung bzw. der Entzug vor ebendiesem nicht die einzige Möglichkeit, der potentiellen Begehung von Kriegsverbrechen im Zuge der Wehrdienstleistung zu entgehen:
Wie aus den Feststellungen zu den im Verfahren verwendeten, nachvollziehbaren und konsistenten Länderberichten (vgl. die Feststellungen der Punkte II.1.3.1 bis II.1.3.7) zur Frage der Möglichkeiten für männliche wehrpflichtige Syrer, eine Befreiung vom Wehrdienst als auch vom Reservedienst bei der SAA zu erhalten, übereinstimmend hervorgeht, besteht für männliche Syrer, die ihren dauernden Aufenthalt bzw. Wohnsitz außerhalb Syriens haben, die Möglichkeit statt der Ableistung des Grundwehrdienstes eine – nach Dauer des Auslandsaufenthaltes – gestaffelte Befreiungsgebühr („badal an-naqdi“) zu entrichten. Die Entrichtung dieser Gebühr ist dabei kein Bestechungsgeld, sondern ist die Möglichkeit der Befreiung vom Wehrdienst gegen Gebühr in den syrischen Wehrgesetzen ausdrücklich als legale Möglichkeit vorgesehen (vgl. die Ausführungen im LIB vom 17.07.2023 zum „Gesetzesdekret Nr. 31 vom November 2020“ der syrischen Regierung). Die Höhe der Gebühr richtet sich konkret nach der Dauer des Auslandsaufenthaltes und beträgt 10.000 USD (ein Jahr), 9.000 USD (zwei Jahre), 8.000 USD (drei Jahre) bzw. 7.000 USD (vier Jahre). Bei einem Aufenthalt ab fünf Jahren kommen pro Jahr weitere 200 USD Strafgebühr hinzu. Die Entrichtung der Befreiungsgebühr ist im Wege eines weitgehend einfachen Verfahrens über syrische Botschaften bzw. Konsulate im Ausland oder über einen Stellvertreter bzw. Bevollmächtigten des Wehrpflichtigen in Syrien selbst möglich. Auch steht diese Möglichkeit dann offen, wenn der betreffende Wehrpflichtige illegal aus Syrien ausgereist ist, wobei zuvor ein „settlement procedure“ zu durchlaufen ist. Selbiges gilt für die Befreiungsgebühr vom Reservedienst: Wie aus der AFB von ACCORD v. 02.06.2023 (vgl. Punkt II.1.3.8) hervorgeht, ist es nach dem „Gesetzesdekret Nr. 31“ von 2020 zur Änderung einiger Artikel des „Gesetzesdekrets Nr. 30“ vom 3. Mai 2007 für zum Reservedienst einberufene Syrer, die seit einem Jahr im Ausland leben, möglich, sich gegen eine Befreiungsgebühr von pauschal 5.000,- USD vom Reservedienst befreien zu lassen. Die übrigen Modalitäten der Bezahlung sind mit jenen der Befreiung vom Grundwehrdienst weitgehend ident.
In Bezug auf die Frage, ob die Entrichtung der Befreiungsgebühr im Hinblick auf die in Syrien allgemein auftretende Behördenwillkür tatsächlich ein mit hinreichender Zuverlässigkeit ausgestattetes Instrument ist, das zum Entfall der Grundwehrdienstpflicht und dazu führt, dass der die Gebühr leistende auch bei seiner Einreise tatsächlich nicht eingezogen wird, geben die referenzierten Länderberichte hierzu letztlich wieder, dass zwar das Verfahren zur Entrichtung der Gebühr in der Praxis eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen kann, letztlich jedoch im Falle der tatsächlichen Entrichtung der Befreiungsgebühr, die auch in den entsprechenden offiziellen Dokumenten des Betroffenen vermerkt wird, diese von syrischen Behörden bei der Einreise akzeptiert wird und der Betroffene unbehelligt bleibt und nicht eingezogen wird (vgl. EUAA, Country Guidance: Syria, Februar 2023, S. 69; AFB v. 16.9.2022: SYRIEN - Fragen des BVwG zu syrischen Wehrdienstgesetzen, S. 45f; EASO, Syria: Targeting of Individuals, September 2022, S. 45 unter Verweis auf DIS, Syria: Treatment upon return, Mai 2022, S. 11f; aktuell: DIS, COI brief report Syira: Military service: recruitment procedure, conscripts’ duties and military service for naturalised Ajanibs, Juli 2023 S. 9). Hinsichtlich des Reservedienstes, also bei Personen, die den Grundwehrdienst ohnehin bereits geleistet haben, sind aus den Länderberichten keine Berichte ersichtlich, aus denen hervorgehen würde, dass die rechtskonforme Leistung der Befreiungsgebühr bei der Einreise von den syrischen Grenzbehörden ignoriert worden wäre.
Angesichts dieser weitestgehend einhelligen Darstellung der herangezogenen und verfügbaren Länderinformationen zu dieser Frage überzeugen die bereits mehr als sechs Jahre alten (wenigen) Verweisquellen im LIB (vgl. S. 122) aus dem Jahr 2017, wonach es in Einzelfällen in der Vergangenheit (Anm.: somit vor dem Jahr 2017) zu willkürlicher Ignoranz der Wehrdienstbefreiung durch syrische Behörden gekommen sei, nicht mehr, zumal festzuhalten ist, dass die Rekrutierungspraxis der SAA in den Jahren vor dem Jahr 2017 – somit am Höhepunkt des syrischen Bürgerkriegs – eine deutliche „aggressivere“ war, als sie es derzeit ist. Dies ist vor allem auf das überwiegende Ende von breitflächigen Kampfhandlungen nach Aushandlung mehrerer Abkommen zwischen der syrischen Regierung und oppositionellen Kräften unter Vermittlung der russischen Regierung ab Anfang des Jahres 2018 zurückzuführen. Es wird dabei nicht verkannt, dass ein hoher Personalbedarf der SAA nach wie vor besteht, jedoch ist aus den Länderinformationen nicht zu entnehmen, dass dieser angesichts des nun überwiegend statischen Konflikts, der sich fast ausschließlich an den Grenzen der unter Kontrolle der von der HTS bzw. FSA/SNA gehaltenen Gebiete in Nordwestsyrien stattfindet, auch nur annähernd so hoch ist, wie auf dem Höhepunkt des syrischen Bürgerkrieges in den Jahren 2014 bis 2017.
Dass es, wie der DIS in seinem referenzierten Bericht vom Mai 2022 ausführt, in Einzelfällen notwendig sein könnte, im Fall, dass ein Einreisender an einen korrupten Grenzbeamten gerät, zusätzlich trotz erfolgter Befreiung Bestechungsgelder zu bezahlen, ändert an dieser Einschätzung ebenso nichts, da hierbei kein asylrelevanter Konnex ersichtlich ist, weil die Einforderung von (illegalen) Bestechungsgeldern durch korrupte syrische Beamte Ausfluss der allgemein in Syrien bestehenden weit verbreiteten und omnipräsenten Korruption in der öffentlichen Verwaltung ist (vgl. das Kapitel 5 des aktuellen LIB „Rechtsschutz / Justizwesen“). Diese Bestechungsgelder – soweit sie im Einzelfall tatsächlich verlangt werden – werden somit im Regelfall zur persönlichen Bereicherung der diese Verlangenden und nicht vom syrischen Staat in Zusammenhang mit bestimmten in Art. 10 der StatusRL als Verfolgungsgrund definierten Merkmale verlangt.
3.4.1.3. Das oben Ausgeführte ist dabei auch mutatis mutandis in gleicher Weise auf die Verfolgungshandlung des Art. 9 Abs. 2 lit. c) StatusRL anzuwenden, wenn man die aus der Verweigerung des Wehr- bzw. Reservedienstes bei der SAA entspringende strafrechtliche Verfolgung und Bestrafung durch das syrische Regime als gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen ansieht, die als solche diskriminierend ist oder in diskriminierender Weise angewandt werden. Die Strafverfolgung durch das syrische Regime bei Verweigerung des Wehrdienstes, vor allem aber die Haftbedingungen, die u.U. in Einzelfällen Folter miteinschließen – und damit jedenfalls eine unverhältnismäßige Strafverfolgung bedeuten – stellt dem Grunde nach eine Verfolgungshandlung i.S.d. Art. 9 Abs. 2 lit. c) StatusRL dar.
Dennoch ist auch hierzu auf das oben Gesagte zu verweisen: Dem Beschwerdeführer steht die nach syrischem Wehrrecht legale Möglichkeit offen, als Alternative zur (bloßen) Verweigerung des Reservedienstes bei der SAA eine gesetzlich vorgesehene Befreiungsgebühr zu leisten, die zu seiner – nach Maßgabe der asylrechtlichen Prognoseeinschätzung – rechtsgültigen und rechtssicheren Befreiung vom Reservedienst führt. Durch das Bestehen dieser legalen Alternative zur Verweigerung, die den zentralen Anknüpfungspunkt sowohl für die Verfolgungshandlungen der lit. b) als auch e) des Art. 9 Abs. 2 StatusRL darstellt, fällt die alleinige Notwendigkeit der Verweigerung des Wehrdienstes bei der SAA weg, weshalb die Tatbestandselemente der genannten Verfolgungshandlungen nicht vorliegen.
3.4.1.4. Zusammengefasst ist daher iSd vom EuGH in seinem Judikat Rs. C‑472/13 „Shepherd“ aufgestellten Grundsätze festzuhalten, dass dem Beschwerdeführer als männlicher Syrer im wehrpflichtigen Alter eine nach syrischem Wehrrecht legale und hinreichend sichere bzw. zuverlässige Alternative zur Verweigerung des Reservedienstes bei der SAA zur Verfügung steht, die zum Entfall der asylrelevanten Verfolgungshandlungen der lit. b) als auch e) des Art. 9 Abs. 2 StatusRL führt.
3.4.1.5. Der Beschwerdeführer konnte im vorliegenden Verfahren iSd Urteils des EuGHs in der Rs C‑472/13 „Shepherd“ aufgestellten Anforderung auch nicht darlegen, dass ihm in seiner konkreten Situation diese Alternative nicht zur Verfügung stand:
Einer etwaigen Ablehnung der Zahlung der Befreiungsgebühr durch einen wehrpflichtigen Syrer aus moralischen oder politischen Gründen, weil er das syrische Regime nicht finanziell unterstützen will, kann jedenfalls keine asylrelevante Bedeutung zukommen. Dabei verkennt das BVwG keineswegs, dass die Befreiungsgebühren, die von Auslandssyrern entrichtet werden, die wichtigste Devisengenerierungsquelle des syrischen Assad-Regimes darstellen. Auch wird nicht verkannt, dass das Regime von Baschar al-Assad vor und während des andauernden syrischen Bürgerkriegs für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht wird und mit unerbittlicher Repression durch Verhaftungen und Folter gegen oppositionelle Gruppen und Personen, somit gegen die eigene Bevölkerung vorgeht. Es mag daher grundsätzlich nachvollziehbar sein, wenn ein wehrpflichtiger syrischer Staatsbürger auch ohne eine tiefergehende oppositionelle Gesinnung verinnerlicht zu haben, dieses Regime nicht finanziell unterstützen möchte. Die vom EuGH im oben referenzieren Urteil in der Rs. C‑472/13 „Shepherd“ aufgestellte Prämisse, dass die Verweigerung des Wehrdienstes die einzig verfügbare Möglichkeit für eine die Flüchtlingseigenschaft nach der StatusRL anstrebende Person sein muss, ihre Einziehung zu einem staatlichen Wehrdienst, dessen Ableistung mit der Begehung von Kriegsverbrechen einherginge, zu verhindern, kann jedoch ebenso wenig durch moralischen Bedenken der die Flüchtlingseigenschaft anstrebende Person gegen eine mögliche Alternative zur Verweigerung außer Kraft gesetzt werden. Es kann der zitieren Rsp. des EuGHs nicht entnommen werden, dass bei Bestehen einer nach dem Recht des Herkunftsstaates legalen Alternative zur Ableistung eines solchen Wehrdienstes, wie der ggst. in Rede stehenden Zahlung einer Befreiungsgebühr, diese von jener Person die in Furcht vor der Einziehung zu einem solchen Wehrdienst die Flüchtlingseigenschaft anstrebt, deshalb ungenutzt bleiben könnte, weil diese Person moralische oder politische Bedenken an der Ergreifung dieser alternativen Möglichkeit zur zuverlässigen Verhinderung ihrer Einziehung zum Wehrdienst hat (vgl. hierzu auch Binder/Haller/Nedwed „Wehrdienstverweigerung als Asylgrund“, in Filzwieser/Kasper (Hrsg.), Asyl- und Fremdenrecht Jahrbuch 2023, 245).
Aus Sicht des BVwG entfällt dann eine konkrete Zumutbarkeitsprüfung zur Inanspruchnahme dieser Alternative zur Wehr- bzw. Reservedienstleistung, wenn es sich um eine nach dem Recht Herkunftsstaates legale Alternative zur Ableistung eines solchen Wehrdienstes handelt und diese im Herkunftsstaat legale Alternative nicht prima-facie mit den der eigenen Rechtsordnung zu Grunde liegenden Prinzipien (ordre public) unvereinbar erscheint. Dass die Bezahlung einer Befreiungsgebühr ohne signifikanten Pönalcharakter als Abgeltung für die Nicht-Leistung des Reservedienstes nicht per-se als ordre public widrig erkannt werden kann, liegt nach Ansicht des BVwG auf der Hand.
Auch eine Qualifikation der an die syrische Regierung zu leistende Befreiungsgebühr für die Reservedienstleistung bei der SAA als eine Gebühr mit Pönalcharakter ist aus den getroffenen Feststellungen der Punkte II.1.3.2 bis II.1.3.8 nicht zu erkennen. Die Gebühr ist mit 5.000 USD als Pauschalgebühr nicht unsachlich hoch oder an diskriminierende Voraussetzungen geknüpft. Ebenso wenig führen die bei Beantragung der Befreiung im Wege des Botschaftsverfahrens bei syrischen Vertretungsbehörden zusätzlich zu begleichenden Konsulatsgebühren zu einem Strafcharakter, steht den Betroffenen doch auch jedenfalls die Begleichung der Gebühr direkt in Syrien im Wege eines Bevollmächtigten (oftmals Familienmitglieder) oder eines Rechtsanwaltes offen, wobei letztere Variante nach den referenzierten Länderberichten die von Auslandsyrern überwiegend genutzte darstellt.
Weiters sind im Verfahren auch keine Umstände zu Tage getreten, die darauf hinweisen, dass der Beschwerdeführer nicht die finanziellen Möglichkeiten hätte, die Gebühr zu bezahlen. Einleitend ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer weder vor dem Bundesamt, noch dem BVwG angab, er könne sich die Befreiungsgebühr nicht leisten. Hinsichtlich der Befreiungsgebühr gab der Beschwerdeführer bloß an, er wolle das syrische Regime nicht finanziell unterstützen. Weiters gab der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt selbst an, die hohen Kosten (ca. 4.500,- EUR) der Schleppung aus Syrien und über die Türkei nach Europa weitgehend ohne Probleme selbst bzw. auch durch familiäre Hilfe aufgebracht zu haben. Es ist fallbezogen nicht zu sehen, dass dem Beschwerdeführer nunmehr diese Hilfe verwehrt werden sollte, gerade wenn es um eine nach syrischem Recht legale Abhilfemaßnahme geht, die die vom Beschwerdeführer geäußerte, zu seiner Flucht führende Furcht vor einer Zwangsrekrutierung zur SAA mit weitestgehender Sicherheit beseitigen wird.
Darüber hinaus ist es trotz der Notwendigkeit für das BVwG, bei der Beurteilung der Asylrelevanz der von einem Antragsteller auf internationalen Schutz geäußerten Fluchtgründe, auf die Sach- und Rechtslage zum Entscheidungszeitpunkt abzustellen, iSd der Rsp. des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofs bei dieser Beurteilung notwendig, einen objektiven Prognosestandpunkt einzunehmen. Maßgeblich ist die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht im Sinne einer Prognoseentscheidung (vgl. VfSlg 19.086/2010; VfGH 26.9.2012, U741/12; 19.2.2016, E992/2015; VwGH 29.06.20223, Ra 2022/01/0285, mwN). Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Entscheidend ist, ob die betroffene Person vor dem Hintergrund der zu treffenden aktuellen Länderfeststellungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. etwa VwGH 26.11.2020, Ra 2020/18/0384 m.w.N.). Dabei stellt der VfGH im Rahmen der Prognoseentscheidung grds. auch auf eine zeitliche Komponente ab (jüngst: VfGH 27.02.2023, E3307/2022, zu einem Fall eines 17jährigen Syrers, dem in Fall der Rückkehr binnen eines Jahres die Rekrutierung drohe). Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass es dem Beschwerdeführer, dem bereits rechtskräftig iSd § 8 AsylG 2005 subsidiärer Schutz vom Bundesamt zuerkannt wurde und der somit uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt im Bundesgebiet hat, ebenso im Hinblick bis zu einem hypothetischen Rückkehrzeitpunkt jedenfalls zumutbar und möglich erscheint, etwaig noch fehlendende Geldmittel selbst ins Verdienen zu bringen.
3.4.1.6. Zusammengefasst kommt das BVwG somit auch nach Beurteilung der Spezifika des konkreten Falles zum Ergebnis, dass es dem Beschwerdeführer als männlichem, im wehrdienstpflichtigen Alter befindlichem Syrer mit Aufenthalt außerhalb Syriens offensteht, sich als alternative Möglichkeit zur bloßen Verweigerung der Ableistung seines Reservedienstes bei der SAA, die zur (unverhältnismäßigen) Strafverfolgung führen würde, durch Leistung einer im syrischen Wehrrecht vorgesehenen Befreiungsgebühr, von einer Einziehung zum Wehrdienst bei der SAA zuverlässig befreien zu lassen. Der Beschwerdeführer ist somit fallbezogen nicht zur Reservedienstverweigerung bei der SAA gezwungen, um dem mit der Ableistung dieses Wehrdienstes in eventu verbunden Zwang zu Begehung von Kriegsverbrechen (Art. 9 Abs. 2 lit. e) StatusRL) bzw. einer Strafverfolgung bei Verweigerung mit anschließenden asylrelevanten Haftbedingungen (Art. 9 Abs. 2 lit. b) StatusRL) zu entgehen.
Es sind nach den getroffenen Feststellungen zum Beschwerdeführer selbst auch keine besonderen Umstände erkennbar, die das syrische Regime veranlassen sollten, dem Beschwerdeführer eine oppositionelle Gesinnung zu unterstellen (vgl. hierzu auch sogleich unter Punkt II.3.4.2) und somit trotz erfolgter Zahlung der Befreiungsgebühr die erfolgte Wehrdienstbefreiung zu ignorieren.
3.4.1.7. Soweit die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers dementgegen in der mündlichen Verhandlung vorgebracht hat, dass auch die Zahlung der Befreiungsgebühr keine Sicherheit dafür begründe, dass der Beschwerdeführer nicht eingezogen werde, findet diese bloße Behauptung keine Deckung in den festgestellten Länderberichten, (vgl. die Zusammenschau oben) die im Wesentlichen genau das Gegenteil zum Ausdruck bringen. Ebenso wenig kann sich der Beschwerdeführer darauf zurückziehen, dass es ihm nicht zumutbar sei, „ein international geächtetes und mit Sanktionen belegtes Regime finanziell im Bürgerkrieg zu unterstützen“. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, verkennt das BVwG keineswegs die moralisch berechtigten Bedenken, dem syrischen Regime Devisen durch die Zahlung der Befreiungsgebühr zur Verfügung zu stellen, jedoch können diese Bedenken nach den in der Rs. „Sheperd“ aufgestellten Leitlinien des EuGHs nicht dazu führen, dass diesfalls bei freiwilliger Unterlassung der Ergreifung der Alternative zur Wehrdienstleistung einem Antragsteller Flüchtlingsschutz zu gewähren wäre.
Soweit die Vertretung des Beschwerdeführers auf das Erkenntnis des VwGH vom 03.05.2022, Ra 2021/18/0250, verweist, ist dieses ggst. nicht einschlägig, da der VwGH hierin beanstandete, dass sich das BVwG im dortigen Bezugserkenntis basierend auf seinen Feststellungen nicht mit der Möglichkeit auseinandergesetzt habe, dass Befreiungstatbestände vom Wehrdienst in Einzelfällen vom syrischen Regime ignoriert würden, wobei es dort fallbezogen nur um den Befreiungstatbestand „einziger Sohn“ ging. Diese für den syrischen Staat mit keinen Vorteilen verbundenen Befreiungstatbestände unterscheiden sich maßgeblich von der hier relevanten Möglichkeit der Bezahlung der Befreiungsgebühr, die eine der wichtigsten Devisenquellen des syrischen Regimes darstellt. Darüber hinaus basierte das dortige Bezugserkenntis aus dem Mai 2021 auf deutlich älteren Länderinformationen, wobei die Länderinformationen zur Rekrutierungspraxis im dortigen Bezugserkenntis teilweise auf das Jahr 2016 zurückgehen, als der syrische Bürgerkrieg am Höhepunkt stand. Die diesbezügliche jetzige Situation stellt sich auf Basis der oben umfassend erörterte Länderinformationen dementgegen deutlich anders dar.
3.4.2. Zur Frage der Verknüpfung der Verfolgungshandlungen iSd Art. 9 Status RL mit einem in Art. 10 leg. cit. iVm der GFK normierten Verfolgungsgründe
Selbst wenn man entgegen der in Punkt 3.4.1 ausgeführten Erwägungen dennoch vom Eintritt einer Verfolgungshandlung i.S.d. Art. 9 Abs. 2 lit. e) oder b) StatusRL ausginge, ist fallbezogen folgendes zu beachten:
3.4.2.1. Allgemein ist festzuhalten, dass der zu prognostizierende Eintritt von grundsätzlich asylrelevanten Verfolgungshandlungen iSd Art. 9 Abs. 2 Status RL mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei Rückkehr einer die Flüchtlingseigenschaft anstrebende Person in ihren Herkunftsstaat noch nicht für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausreichen. Zusätzlich müssen die in Art. 9 Abs. 2 Status RL bezeichneten Verfolgungshandlungen durch den im Herkunftsstaat befindlichen potentiellen Verfolgereinen zwingenden Konnex zu den in Art. 10 Abs. 1 Status RL i.V.m. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Verfolgungsgründen aufweisen. Zu diesem herzustellenden Zusammenhang führt der VwGH neben zahlreichen früheren Entscheidungen in seiner rezenten Judikatur (VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108) unter Verweis auf die Entscheidungen des dt. Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) wie folgt aus:
„[..]
27 In diesem Zusammenhang weist der Verwaltungsgerichtshof darauf hin, dass die Asylgewährung an Wehrdienstverweigerer neben der Prüfung, ob die schutzsuchende Person bei Rückkehr in den Herkunftsstaat tatsächlich „Verfolgung“ im asylrechtlichen Sinne zu gewärtigen hätte, auch den Konnex dieser Verfolgungshandlung mit einem der fünf in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Konventionsgründe („Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“) erfordert, die in Art. 10 Statusrichtlinie näher umschrieben werden. In den Worten des Art. 9 Abs. 3 Statusrichtlinie muss eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 genannten Gründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen bestehen.
28 Als Verfolgungshandlungen gegen Wehrdienstverweigerer kommen - im Lichte des Unionsrechts - insbesondere solche nach Art. 9 Abs. 2 lit b, c und e Statusrichtlinie in Betracht, also etwa eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung des Wehrdienstverweigerers (Art. 9 Abs. 2 lit. c) oder eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 fallen (Art. 9 Abs. 2 lit. e); Letzteres betrifft u.a. Fälle, in denen der Militärdienst die Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde, einschließlich solcher, in denen der Asylwerber nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde (EuGH 26.2.2015, C-472/13, Rs. Shepherd). Hätte der Wehrpflichtige seinen Militärdienst im Kontext eines allgemeinen Bürgerkriegs abzuleisten, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Statusrichtlinie durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist, so besteht nach den Ausführungen des EuGH eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem - allenfalls noch nicht bekannten - Einsatzgebiet dazu veranlasst sein würde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung der betreffenden Verbrechen teilzunehmen (EuGH 19.11.2020, C-238/19, Rs. EZ).
29 Selbst die Bejahung von Verfolgungshandlungen der geschilderten Art erübrigt es nicht, das Bestehen einer Verknüpfung zwischen (zumindest) einem der in Art. 10 Statusrichtlinie bzw. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Verfolgungsgründe und den Verfolgungshandlungen individuell zu prüfen.
30 Wie der EuGH bereits klargestellt hat, ist die Verweigerung des Militärdienstes in vielen Fällen Ausdruck politischer Überzeugungen (sei es, dass sie in der Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer Gewalt oder in der Opposition zur Politik oder den Methoden der Behörden des Herkunftslandes bestehen), religiöser Überzeugungen oder sie hat ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. In diesen Konstellationen können die Verfolgungshandlungen aufgrund der Verweigerung des Wehrdienstes den einschlägigen Verfolgungsgründen zugeordnet werden.
31 Die Verweigerung des Militärdienstes kann allerdings auch aus Gründen erfolgen, die in den Verfolgungsgründen von Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK bzw. Art. 10 Statusrichtlinie keine Deckung finden. Sie kann u.a. durch die Furcht begründet sein, sich den Gefahren auszusetzen, die die Ableistung des Militärdienstes im Kontext eines bewaffneten Konflikts mit sich bringt. Ginge man davon aus, dass die Verweigerung des Militärdienstes in jedem Fall mit einem der von der GFK vorgesehenen Verfolgungsgründe verknüpft ist, würde dies somit in Wirklichkeit darauf hinauslaufen, diesen Gründen weitere Verfolgungsgründe hinzuzufügen, was weder mit der GFK noch mit der Statusrichtlinie in Einklang stünde (EuGH Rs. EZ , Rn. 47 ff).
32 In diesem Sinne hat auch der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass die (bloße) Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrelevante Verfolgung darstellt, sondern nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen kann (VwGH 7.1.2021, Ra 2020/18/0491, mwN).
33 Neben Fällen, in denen die Wehrdienstverweigerung des oder der Betroffenen auf einem Verfolgungsgrund, wie etwa politischer Gesinnung oder religiöser Überzeugung beruht, kann nach der ständigen - auf das hg. Erkenntnis vom 21. März 2002, 99/20/0401, zurückgehenden - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes einer Wehrdienstverweigerung bei entsprechenden Verfolgungshandlungen auch dann Asylrelevanz zukommen, wenn dem Betroffenen wegen seines Verhaltens vom Verfolger eine oppositionelle (politische oder religiöse) Gesinnung unterstellt wird.
34 In jedem Fall ist es also vor der Asylgewährung wegen behaupteter Wehrdienstverweigerung erforderlich, die drohenden Verfolgungshandlungen wegen dieses Verhaltens im Herkunftsstaat im Sinne des bisher Gesagten zu ermitteln und bejahendenfalls eine Verknüpfung zu einem der Verfolgungsgründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK bzw. Art. 10 Statusrichtlinie herzustellen.
35 Auch im Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie gilt, wie der EuGH bereits erkannt hat, nichts anderes. Allein deshalb, weil einem Wehrdienstverweigerer unter den Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie Bestrafung durch die Behörden seines Herkunftsstaates droht, kann die Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nicht als gegeben angesehen werden. Die Plausibilität der Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen ist nach Auffassung des EuGH von den zuständigen nationalen Behörden vielmehr in Anbetracht sämtlicher vom Asylwerber (oder der Asylwerberin) vorgetragenen Anhaltspunkte zu prüfen. Dabei spricht zwar eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 Statusrichtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht. Dies entbindet die Asylbehörde bzw. das nachprüfende BVwG aber nicht von der erforderlichen Plausibilitätsprüfung (EuGH Rs. EZ vgl. dazu auch jüngst deutsches BVerwG, 19.1.2023, 1 C 22.21, u.a. Rn. 48 ff).“
Soweit es um einen möglichen Zusammenhang mit dem Asylgrund der politischen Gesinnung geht ist daher die vom EuGH in der Rs. C-238/19 (E.Z.) bzw. EuGH v. 2. Januar 2023, Rs. C-280/21 (Migracijos departamentas) angesprochene Plausibilitätsprüfung des konkreten Zusammenhangs der in Rede stehenden Verfolgungshandlungen des Art. 9 Abs. 2 lit. b) und e) StatusRL mit den Verfolgungsgründen des Art. 10 Abs. 1 StatusRL derart durchzuführen, dass dabei alle relevanten Tatsachen und auch der allgemeine Kontext des Herkunftslands der Person, die die Anerkennung als Flüchtling beantragt, zu berücksichtigen sind, insbesondere seine politischen, rechtlichen, justiziellen, historischen und soziokulturellen Aspekte (vgl. EuGH Rs. C-280/21, Rn. 39, 38 i.V.m. Rn. 33). Mit anderen Worten ist somit zu beurteilen, ob die wegen einer Wehrdienstverweigerung gesetzten Strafverfolgungs- oder Bestrafungshandlungen (Art. 9 Abs. 2 lit. e) StatusRL) oder – als unverhältnismäßig zu qualifizierende – Handlungen (Art. 9 Abs. 2 lit. b) StatusRL) wegen einer tatsächlich vom Asylwerber glaubhaft verinnerlichten oder diesem vom potentiellen Verfolger dem Asylwerber zumindest unterstellten politischen Gesinnung bzw. Überzeugung erfolgen. Zu dieser Prüfung führt der EuGH in Rs. C-280/21 ab Rn. 33 wie folgt aus:
„33 Drittens bedeutet die weite Auslegung des Begriffs „politische Überzeugung“ als „Verfolgungsgrund“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 , dass die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, um festzustellen, ob eine solche Überzeugung vorliegt und ein Kausalzusammenhang zwischen ihr und den Verfolgungshandlungen besteht, den allgemeinen Kontext des Herkunftslands der Person, die die Anerkennung als Flüchtling beantragt, berücksichtigen müssen, insbesondere seine politischen, rechtlichen, justiziellen, historischen und soziokulturellen Aspekte.
34 Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass die durch eine Handlung oder Unterlassung erfolgte Äußerung einer bestimmten Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung, die nicht direkt und unmittelbar politisch ist, die „Akteure, von denen die Verfolgung ausgehen kann“, je nach dem spezifischen Kontext des Herkunftslands des Antragstellers dazu veranlassen kann, einer solchen Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung den Charakter einer „politischen Überzeugung“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 dieser Richtlinie zuzuschreiben.
35 In dieser Hinsicht hat er zum einen klargestellt, dass im Kontext eines bewaffneten Konflikts, insbesondere eines Bürgerkriegs, und bei fehlender legaler Möglichkeit, sich seinen militärischen Pflichten zu entziehen, eine starke Vermutung dafürspricht, dass die Verweigerung des Militärdienstes von den Behörden des betreffenden Drittlands unabhängig von den persönlichen, eventuell viel komplexeren Gründen des Betroffenen als ein Akt politischer Opposition ausgelegt wird, vorbehaltlich der Prüfung durch die Behörden des Mitgliedstaats, bei dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, ob der Zusammenhang zwischen einer solchen Verweigerung und dem betreffenden Verfolgungsgrund plausibel ist (Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Militärdienst und Asyl], C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 47, 48, 60 und 61).
36 Zum anderen hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Beteiligung der Person, die internationalen Schutz beantragt, an der Erhebung einer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen ihr Herkunftsland, um Verstöße des dort an der Macht befindlichen Regimes gegen die Grundfreiheiten feststellen zu lassen, als Verfolgungsgrund wegen der „politischen Überzeugung“ einzustufen ist, wenn es gute Gründe für die Befürchtung gibt, dass diese Beteiligung von dem Regime als ein Akt politischen Widerstands aufgefasst wird, gegen den es Repressalien ergreifen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 90).
37 Gleiches gilt für die Versuche einer Person, die die Anerkennung als Flüchtling beantragt, ihre Interessen durch gerichtliche Klagen gegen ihr gegenüber illegal operierende nicht staatliche Akteure zu verteidigen, wenn diese Akteure aufgrund ihrer durch Korruption zum Staat unterhaltenen Verbindungen in der Lage sind, den Repressionsapparat dieses Staates zum Nachteil dieser Person zu instrumentalisieren, und zwar selbst dann, wenn deren Klage durch die Verteidigung ihrer persönlichen vermögensrechtlichen und wirtschaftlichen Interessen motiviert war.
38 Bei der in Art. 4 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Prüfung der Tatsachen und Umstände, die nach Art. 4 Abs. 3 auf individueller Grundlage anhand sämtlicher fraglichen Umstände unter Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen, insbesondere der in Rn. 33 des vorliegenden Urteils genannten, vorzunehmen ist, müssen die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats berücksichtigen, dass es besonders schwierig sein kann, den unmittelbaren Beweis zu erbringen, dass eine bestimmte Handlung oder Unterlassung des Antragstellers von den Behörden des Herkunftslands als Äußerung einer „politischen Überzeugung“ aufgefasst werden könnte. Art. 4 Abs. 5 dieser Richtlinie erkennt an, dass ein Antragsteller nicht immer in der Lage sein wird, seinen Antrag durch Unterlagen oder sonstige Beweise zu untermauern, und führt die kumulativen Voraussetzungen auf, unter denen solche Beweise nicht verlangt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Militärdienst und Asyl], C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 55).“
3.4.2.2. Zum Vorliegen bzw. zur Unterstellung einer politischen Überzeugung:
3.4.2.2.1. Das BVerwG hat in der vom VwGH oben zitierten Entscheidung insbesondere auf eine Reihe dt. oberverwaltungsgerichtlicher (OVG) Entscheidungen bzw. Entscheidungen dt. Landesverwaltungsgerichtshöfe (VGH) verwiesen, die sich mit dem Zusammenhang einer (potentiellen) Verweigerung der Wehrdienstleistung mit einem Asylgrund auseinandersetzten.
In einer summarischen Zusammenschau dieser Entscheidungen deutscher Verwaltungsgerichte ist festzuhalten, dass diese in vergleichbaren Verfahrenskonstellationen bei Durchführung dieser vom EuGH postulierten Plausibilitätsprüfung unter Beachtung der Spezifika des Einzelfalles zu dem Ergebnis gelangen, dass weder alleine die Wehr- bzw. Reservedienstverweigerung, die Illegalität der Ausreise aus Syrien, ein längerer Auslandsaufenthalt, ein Antrag auf internationalen Schutz im Ausland, noch die Herkunft aus einer von der Regierung als oppositionsgeprägt erachteten Region für sich alleine genommen genügen, um losgelöst von den individuellen Umständen des Einzelfalls bei einer hypothetischen Rückkehr nach Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen zugeschriebener politischer Einstellung anzunehmen (vgl. etwa zu Deutschland: VGH München, Urteil vom 21. September 2020 - 21 B 19.32725 -, juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 31. August 2020 - 2 LB 674/18 -, juris; OVG Münster, Urteil vom 13. März 2020 - 14 A 2778/17.A -, juris.(Rn.30) , VG Trier 1. Kammer, 20.04.2021, 1 K 3528/20.TR, als auch beispielsweise Schweiz: BVGer E-5262/2018 vom 19. Dezember 2018, E. 6.1; E-3366/2018 vom 4. Juni 2019 E. 6.3.1; D-3914/2018 vom 19. August 2019 E. 4.2.4; D-2391/2019 vom 9. März 2020 E. 7.1).So wie im hier vom BVwG zu beurteilenden Fall, liegen der Rsp. der dt. OVG bzw. VGH Fälle zu Grunde, in denen keine glaubhaften Hinweise auf das Vorliegen einer tatsächlich verinnerlichten politischen Gesinnung bestehen, wodurch die Unterstellung einer politischen Überzeugung durch das syrische Regime zu prüfen ist.
Der bayrische Verwaltungsgerichtshof (VGH Bayern) führt dabei in seinem Urteil vom 21. September 2020 - 21 B 19.32725 folgende verfahrensrelevanten Leitsätze aus:
1. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass ein syrischer Staatsangehöriger allein wegen seiner (illegalen) Ausreise, seines Asylantrags und des Aufenthalts in Deutschland als Oppositioneller betrachtet wird und deshalb eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG zu befürchten hat (Rn. 23).
2. Es fehlt an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass Rückkehrer nach Syrien im militärdienstpflichtigen Alter allein deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an eine (unterstellte) regimefeindliche Gesinnung Verfolgungshandlungen syrischer Sicherheitskräfte befürchten müssen, weil sie sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben (Rn. 58).
Hinsichtlich des zu 1. geäußerten Leitsatz des VGH Bayern kann keine nennenswerte Abweichung zur st. Rsp. in Österreich festgestellt werden, gehen doch die verfügbaren Länderinformationen (hier vor allem die aktuelle EUAA Country Guidance Syria vom Februar 2023) einhellig davon aus, dass eine bloße illegale Ausreise und Stellung eines Asylantrags und Aufenthalt im Ausland per-se nicht zur Zuschreibung einer oppositionellen Gesinnung für syrische Staatsbürger durch das syrische Regime führen.
Hinsichtlich des zweiten Leitsatzes begründet der VGH Bayern wie folgt:
„2.3.2 Der syrische Staat reagierte auf die militärische Bedrohung seiner Macht und die zu seinen Gunsten veränderte militärische Lage bezogen auf die Militärdienstpflicht syrischer Männer im Wesentlichen wie folgt:
44 Die syrische Armee hatte seit dem Beginn des Konflikts durch Todesfälle, Desertionen und Überlaufen zu den Rebellen erhebliche Verluste zu erleiden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Syrien, 25.1.2018, S. 45). Seit Herbst 2014 ergriff der syrische Staat verschiedene Maßnahmen, um die dezimierte syrische Armee zu stärken. Es kam zu einer großflächigen Mobilisierung von Reservisten, Verhaftungswellen von Deserteuren und Männern, die sich bislang dem Militärdienst entzogen hatten. Die syrische Armee und regierungstreue Milizen errichteten Kontrollstellen und intensivierten Razzien im öffentlichen sowie privaten Bereich. Bereits in den ersten sieben Monaten des Jahres 2014 dokumentierte das Syrian Network for Human Rights über 5.400 Verhaftungen von militärdienstpflichtigen jungen Männern. Viele Männer, die im Rahmen dieser Maßnahmen einberufen wurden, erhielten eine nur sehr begrenzte militärische Ausbildung und wurden zum Teil innerhalb nur weniger Tage an die Front geschickt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.3.2015, S. 3 f.).
45 Mittlerweile ist es dem syrischen Staat nach der im Zeitpunkt der Entscheidung bestehenden Erkenntnislage mit der militärischen Unterstützung der Russischen Föderation und der Islamischen Republik Iran gelungen, die Kontrolle über große Teile des Landes zurückzuerlangen. Die Kampfhandlungen beschränken sich auf die Provinzen Idlib, Teile Aleppos, Raqqas und Deir ez Zours (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Syrien, 17.10.2019, S. 13). Die syrische Regierung hat dementsprechend hinsichtlich des Militärdienstes verschiedene einer Normalisierung dienende Maßnahmen ergriffen.
46 So wurde am 9. Oktober 2018 das Präsidialdekret Nr. 18/2018 veröffentlicht. Danach sollen alle syrischen Männern, die desertiert sind oder sich dem Militärdienst entzogen haben, einer Amnestie unterfallen, wenn sie sich innerhalb einer Frist von vier Monaten (bei einem Wohnsitz in Syrien) oder von sechs Monaten (bei einem Wohnsitz außerhalb Syriens) zum Militärdienst melden. Der Erlass beseitigt allerdings nicht die Pflicht, den obligatorischen Militärdienst zu leisten. Kriminelle und Personen, die auf der Seite der bewaffneten Opposition gekämpft haben, sind von der Amnestie ausgenommen. Diese Amnestie ist mittlerweile ausgelaufen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Syrien, 17.10.2019, S. 45).
47 Zur Umsetzung des Präsidialdekrets Nr. 18/2018 hat das Verteidigungsministerium am 28. Oktober 2018 ein Rundschreiben an das Innenministerium sowie an die Militärpolizei geleitet, wonach die Festnahme militärdienstflüchtiger Reservisten untersagt ist und für den aktiven Dienst vorgesehenen Reservisten nicht mehr eingezogen werden sollen (Ministerie van Buitenlandse Zaken, Country of Origin Information Report Syria - The security situation, July 2019, S. 67 f).
48 Im Dezember 2018 wurden die Reservisten aus der SAA entlassen, die mehr als fünf Jahre Dienst geleistet hatten. Zusätzlich musterte die syrische Regierung im Januar 2019 Reservisten aus und befreite Militärdienstentzieher von der Dienstpflicht, die vor dem Jahr 1977 geboren wurden. Gemäß der amtlichen Nachrichtenagentur der syrischen Regierung wurden zum 15. Februar 2019 alle Militärdienstentzieher und Reservisten aus der Dienstpflicht entlassen, die vor dem Jahr 1981 geboren wurden (vgl. The Danish Immigration Service, Syria: Issues Regarding Military Service, Oktober 2019, S. 11 f.).
49 Am 15. September 2019 erging das Präsidialdekret Nr. 20/2019, das unter anderem die Amnestie für Desertion und Militärdienstentziehung vom 9. Oktober 2018 erneuerte, wobei aber wiederum bestimmte gegen den Staat gerichtete Straftaten ausgenommen blieben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 20.11.2019, S. 12; The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, May 2020, S. 35).
50 Nunmehr gewährt das Präsidialdekret Nr. 6/2020 vom 22. März 2020 Militärdienstentziehern und Deserteuren eine Amnestie, die sich innerhalb einer Frist von drei Monaten (Wohnsitz in Syrien) oder sechs Monaten (Auslandswohnsitz) den syrischen Behörden stellen (vgl. Auswärtiges Amt, Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 19.5.2020, S. 5; UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR´s Country Guidance on Syria, 7.5.2020, S. 12 Fn. 44). Die Pflicht den Militärdienst abzuleisten bleibt wie schon bei den vorangegangenen Amnestien bestehen, ebenso umfasst die Amnestie nicht bestimmte gegen den Staat gerichtete Straftaten.
51 Es liegen nach wie vor keine konkreten Hinweise dafür vor, dass die syrischen staatlichen Stellen die genannten Amnestie-Erlasse regelhaft nicht beachtet haben oder nicht beachten werden.
52 Der Dänische Einwanderungsdienst hat zur Umsetzung der Amnestien im ersten Quartal des Jahres 2020 verschiedene Auskunftspersonen befragt. Elizabeth Tsurkov (Fellow am Foreign Policy Research Institute) bekundete, dass Männer, die sich auf die Amnestie beriefen, nicht bestraft, aber eingezogen würden. Alle syrischen Männer, die entweder durch Vermittlung der Hisbollah oder auf andere organisierte Weise aus dem Libanon zurückgekehrt seien, hätten die Amnestie beansprucht. Sie seien bei der Rückkehr nicht bestraft, jedoch zum Militärdienst eingezogen worden (Interview am 6.2.2020). Suhail Al-Ghazi (unabhängiger Forscher) informierte wie folgt: Einige Flüchtlinge hätten von den vom Präsidenten erlassenen Amnestien Gebrauch gemacht. Sie seien angewiesen worden, sich innerhalb von drei Monaten nach Erlass der Amnestie an ein örtliches Wehrpflicht-Direktorat zu wenden, damit sie ohne eine Strafe eingezogen werden konnten. Diese Männer hätten sechs Monate lang an militärischen Ausbildungskursen teilgenommen und seien später wie normale Wehrpflichtige auf andere Militärstützpunkte und -einrichtungen verlegt worden (Interview am 19.2.2020). Dem Mitarbeiter einer in Syrien tätigen humanitären Organisation zufolge hätten sich viele Militärdienstentzieher selbst gestellt, weil sie erkannt hätten, dass sie den Militärdienst nicht dadurch vermeiden können, indem sie sich vor den Behörden verstecken. Sie seien sogleich zum Militärdienst geschickt worden, ohne, wie in der Amnestie versprochen, bestraft zu werden (Interview am 21.2.2020). Navar Shaban (Militärexperte am Omran Center for Strategic Studies) bekundete allgemein, dass die syrische Regierung die Amnestien beachtet habe (Interview am 18.2.2020). Darin fügt sich ein, dass Gregory Waters (geschäftsführender Herausgeber bei International Review) keine Information dazu hatte, dass die syrische Regierung die neueste Amnestie vom September 2019 nicht beachtet (Interview am 30.1.2020). Sara Kayyali (Human Rights Watch) verwies zwar unter Berufung auf Gespräche mit zurückkehrenden Syrern darauf, dass keine der seit dem Jahr 2016 veröffentlichten Amnestien beachtet worden seien. Allerdings gab sie letztlich einschränkend an, ihr sei bekannt, dass bei der Rückkehr nach Syrien (nur) einige der Syrer, die von der Amnestie Gebrauch gemacht haben, verhaftet worden seien (Interview am 5.2.2020). Ohne Konkretes anzuführen, sprach die syrische Journalistin Asaad Hanna davon, dass sie von Deserteuren aus der Provinz Latakia gehört habe, welche die Amnestie genutzt hätten, aber dennoch für einige Monate inhaftiert gewesen seien (Interview am 18.2.2020 - vgl. zum Ganzen The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, Mai 2020, S. 46 ff.).
53 Für eine Mäßigung im Umgang mit Militärdienstentziehern spricht auch die Auskunft eines in Damaskus ansässigen Rechtsanwalts gegenüber dem Dänischen Einwanderungsdienst. Er wies darauf hin, dass seit dem Oktober 2018 etliche Syrer, die wegen des Militärdienstes in den Libanon geflohen seien, nach Syrien zurückgekehrt seien. Es sei auch für Militärdienstentzieher und Deserteure, die Syrien illegal verlassen haben, mindestens vier Jahre im Ausland geblieben sind und aufgrund des Erlasses Nr. 18/2018 einen Straferlass erhalten haben, möglich durch Zahlung der Freistellungsgebühr von 8.000 $ vom Militärdienst befreit zu werden. Ebenso bekundete Rami Abdurrahman, Direktor der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, ihm seien persönlich mehrere Syrer bekannt, die nach einer Begnadigung gemäß des Erlasses 18/2018 aufgrund der Freistellungsgebühr vom Militärdienst befreit worden seien (vgl. Danish Refugee Council/The Danish Immigration Service, Syria - Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, Februar 2019, S. 30 f.).
54 Die Quellenlage zur Umsetzung vorangegangener Amnestien, die (auch) zugunsten von Militärdienstentziehern erlassen wurden, rechtfertigt angesichts der lediglich allgemeinen Feststellungen nicht die Schlussfolgerung, dass die seit Oktober 2018 ergangenen Amnestieerlasse für die syrischen staatlichen Stellen bedeutungslos sind.
55 So führt der UNHCR Folgendes aus: „Seit 2011 hat der syrische Präsident al-Assad für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen, Wehrdienstentzieher und Deserteure eine Serie von Amnestien erlassen, die Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst melden. Am 17. Februar 2016 veröffentlichte der Präsident das Gesetzesdekret Nr. 8, mit dem Deserteure innerhalb und außerhalb von Syrien sowie Wehrdienstentzieher und Reservisten eine Amnestie erhalten. Weder über die Umsetzung dieser Dekrete noch darüber, wie viele Wehrdienstentzieher seit 2011 in den Genuss dieser Amnestien kamen, liegen Informationen und genaue Zahlen vor. Menschenrechtsorganisationen und Beobachter haben diese Amnestien wiederholt als intransparent und unzureichend kritisiert. Ihrer Ansicht nach profitierten nicht die vorgeblich angesprochenen Personengruppen von ihnen“ (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien vom April 2017, S. 27 f.).
56 Zwar verweist der UNHCR nunmehr darauf, das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte habe Berichte von Rückkehrern erhalten, die verhaftet worden seien, nachdem sie im Hinblick auf das Amnestiedekret vom September 2019 nach Syrien zurückgekehrt sein (vgl. UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application Of UNHCR´s Country Guidance on Syria, 7. Mai 2020, S. 12). Allerdings ist das auch unter Berücksichtigung der übrigen Erkenntnisse wiederum zu allgemein gehalten, um die Bewertung zu rechtfertigen, die seit September 2018 ergangenen Amnestiedekrete würden regelhaft nicht umgesetzt.
57 Die Schweizer Flüchtlingshilfe befasst sich in ihrer Auskunft „Syrien: Umsetzung der Amnestien“ vom 14. April 2014 im Wesentlichen mit der Generalamnestie vom 9. Juni 2014 (Erlass Nr. 22/2014), die erstmals ausdrücklich auch Personen berücksichtigte, die unter dem Anti-Terrorismusgesetz des Jahres 2012 angeklagt oder verurteilt worden sind. Konkrete Erkenntnisse zur Anwendung dieser Amnestie auf Militärdienstpflichtige oder Deserteure lassen sich dieser Auskunft nicht entnehmen.
58 2.3.3 Bei einer zusammenfassenden Bewertung dieser Erkenntnislage fehlt es zur Überzeugung des Senats an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass Rückkehrer im militärdienstpflichtigen Alter (Militärdienstpflichtige, Reservisten) allein deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle bzw. regimefeindliche Gesinnung Verfolgungshandlungen syrischer Sicherheitskräfte zu befürchten haben, weil sie sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben (vgl. auch VGH BW, U.v. 27.3.2019 - A 4 S 335.19; U.v. 23.10.2018 - A 3 S 791.18; OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 - OVG 3 B 27.17; OVG Hamburg, U.v. 11.1.2018 - 1 Bf 81/17.A; NdsOVG, B.v. 16.7.2020 - 2 LB 39.20; OVG NRW, U.v. 13.3.2020 - 14 A 2778/18.A; OVG RhPf, U.v. 24.1.2018 - 1 A 10714/17.OVG; OVG Saarl, U.v. 26.4.2018 - 1 A 543.17; SächsOVG, U.v. 21.8.2019 - 5 A 644/18.A; OVG SH, U.v. 7.3.2019 - 2 LB 29.18 und U.v. 10.7.2019 - 5 LB 23/19; a.A. HessVGH, U.v. 26.7.2018 - 3 A 809/18.A; ThürOVG, U.v. 15.6.2018 - 3 KO 155.18; OVG MV, U.v. 21.3.2018 - 2 L 238.13 - alle juris).“
Anzumerken ist, dass sich der VGH Bayern neben zahlreichen anderen Quellen, die ebenso überwiegend in aktualisierter Form diesem Verfahren als Länderberichte zu Grunde liegen, sich auch maßgeblich auf das Länderinformationsblatt der (Österreichischen) Staatendokumentation stützt. In sehr ähnlicher Weise judiziert der VGH Hessen u.a. in seinem vom BVerwG in seinem Urteil v. 19.01.2023, Zl. 1 C 22.21 referenzierten Urteil vom 23.08.2021, Zl. 8 A 1992/18.A, dem folgende Leitsätze zu entnehmen sind:
„1. Syrischen Staatsangehörigen droht bei einer Rückkehr in ihr Heimatland nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung allein wegen ihrer (illegalen) Ausreise, der Stellung eines Asylantrags und eines mehrjährigen Aufenthaltes im Ausland.
2. Gleiches gilt für Personen, die sich durch die Flucht ins Ausland dem Wehrdienst entzogen haben (sog. einfache Wehrdienstentzieher). Ihnen drohen etwaige Verfolgungshandlungen bereits nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Unabhängig davon würden derartige Handlungen nicht an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund anknüpfen. Die vom Europäischen Gerichtshof in Bezug auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) der Richtlinie 2011/95/EU aufgestellte "starke Vermutung" einer Verknüpfung zwischen (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund ist in Bezug auf Syrien aktuell widerlegt.“
Begründend führt der VGH Hessen dazu im Detail zum Leitsatz 2 ab Rn. 66 wie folgt aus:
„(3) Selbst die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungshandlung wegen der Entziehung vom Wehrdienst unterstellt, würde diese nicht an einen Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG anknüpfen. Insoweit kommt weder eine Anknüpfung an die politische Überzeugung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG (a) noch an die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG (b) in Betracht.
(a) Nach der Rechtsprechung des 3. Senats des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs drohten einem nach Syrien zurückkehrenden Wehrpflichtigen, der sich dem Wehrdienst entzogen hat, desertiert ist oder den Wehrdienst nicht angetreten hat, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Maßnahmen, die nach ihrer objektiven Gerichtetheit an den in § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG genannten Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung anknüpfen (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 26. Juli 2018 - 3 A 403/18.A - juris Rn. 16 ff.; Urteil vom 21. Dezember 2018 - 3 A 2267/18.A - juris Rn. 22 ff.).
Der erkennende Senat geht dagegen mit der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung unter Auswertung der vorliegenden Erkenntnisquellen davon aus, dass der syrische Staat einfache Wehrdienstentzieher nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als politische Oppositionelle oder Regimegegner ansieht (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 - juris Rn. 96 ff.; Bay. VGH, Urteil vom 23. Juni 2021 - 21 B 19.33586 - BeckRS 2021, 22540, Rn. 37 ff.; Niedersächs. OVG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 - juris Rn. 58 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A - juris Rn. 104 ff.; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 26. September 2019 - 5 LB 38/19 - juris Rn. 67 ff.; Sächs. OVG, Urteil vom 21. August 2019 - 5 A 50/17.A - juris Rn. 53 ff.; OVG Saarland, Urteil vom 14. November 2018 - 1 A 609/17 - juris Rn. 53 ff.; Hamburgisches OVG, Urteil vom 11. Januar 2018 - 1 Bf 81/17.A - juris Rn. 131 ff.; a.A. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 - OVG 3 B 68.18 - juris Rn. 85 ff.; Urteil vom 28. Mai 2021 - OVG 3 B 42.18 - juris Rn. 20 f.; Thüringer OVG, Urteil vom 15. Juni 2018 - 3 KO 155/18 - juris Rn. 69 ff.). Die vom Europäischen Gerichtshof in Bezug auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2011/95/EU aufgestellte "starke Vermutung" einer Verknüpfung zwischen (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund ist somit aktuell widerlegt.
Gegen die Annahme, dass der syrische Staat einfachen Wehrdienstentziehern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine oppositionelle Gesinnung zuschreibt, spricht zunächst die bereits zuvor dargelegte Gesamtsituation in Syrien. Wehrdienstentziehung ist nicht mehr mit einer Gefährdung der Existenz des Regimes gleichzusetzen, sondern erschöpft sich derzeit in der schlichten Vorenthaltung der geforderten militärischen Dienstleistung. Zudem dürfte es sich bei einem großen Teil der mehreren Millionen Menschen, die seit Ausbruch des Bürgerkriegs aus Syrien geflohen sind, um Männer im wehrpflichtigen Alter handeln (vgl. VGH-Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 - juris Rn. 40, wonach sich unter den bis Juli 2018 in das Ausland geflüchteten syrischen Staatsangehörigen ca. 33 % männliche Personen im Alten zwischen 18 und 59 Jahren befunden hätten). Nachdem die Annahme, dass der syrische Staat sämtliche ins Ausland geflohene Syrer als Regimegegner ansieht, lebensfremd ist und Äußerungen offizieller Stellen darauf hindeuten, dass dem syrischen Regime bewusst ist, dass der Großteil der ins Ausland geflüchteten Syrer wegen der allgemeinen Bürgerkriegssituation ausgereist ist (siehe unter II. 2. a), ist nicht erkennbar, dass für die große Gruppe syrischer Männer im wehrpflichtigen Alter auch vor dem Hintergrund des jedenfalls für das Handeln der syrischen Sicherheitsorgane kennzeichnenden Freund-Feind-Schemas etwas anderes gelten sollte.
Darüber hinaus ist auch die Möglichkeit, sich vom Wehrdienst freizukaufen, zu berücksichtigen. Männliche syrische Staatsangehörige im wehrpflichtigen Alter, die im Ausland leben, können sich durch die Zahlung eines bestimmten Betrages, der u.a. von der Dauer ihres Auslandsaufenthalts abhängig ist, von der Pflicht zur Ableistung des Wehrdienstes befreien. Da die syrische Regierung ausländische Devisen benötigt, hat sie das entsprechende Verfahren vereinfacht. Im Zuge der Zahlung der Ausnahmegebühr hat der Betroffene ein Verfahren zur Klärung seines Status durchzuführen. Nach Abschluss des Verfahrens werden die Namen der Betroffenen von den Fahndungslisten gelöscht. Die Freikaufsmöglichkeit wird in der Praxis auch tatsächlich umgesetzt (vgl. ausführlich The Danish Immigration Service, Syria, Military Service, Mai 2020, S. 22 ff.; Finnish Immigration Service,Syria: Fact-finding mission to Beirut and Damascus, Syrian pro-government armed groups and issues related to freedom of movement, reconcilation processes and return to original place of residence in areas controlled by the Syrian government, 14. Dezember 2018, S. 11 ff.; speziell zum Verfahren zur Klärung des Status vgl. The Danish Immigration Service, Syria, Security clearance and status settlement for returnees, Dezember 2020, S. 7 ff.). Die Möglichkeit, sich vom Wehrdienst freizukaufen und auch ihre tatsächliche Umsetzung zeigen, dass der syrische Staat Wehrdienstentzieher nicht als Regimegegner ansieht. Rückkehrende Wehrdienstpflichtige werden von ihm vielmehr entweder als Rekruten oder als Beschaffer ausländischer Devisen nutzbar gemacht.
Ferner sind die Amnestieregelungen des syrischen Staates in Rechnung zu stellen. Seit 2011 hat der syrische Präsident für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen, Wehrdienstverweigerer und Deserteure eine Reihe von Amnestien erlassen, die Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst melden. Am 15. September 2019 erließ das syrische Regime das Präsidialdekret Nr. 20/2019, welches als "Generalamnestie" angekündigt wurde und unter anderem die Amnestie für Desertion und Wehrdienstverweigerung vom 9. Oktober 2018 bestätigte, laut welcher Deserteuren und Wehrdienstverweigerern im In- und Ausland Straffreiheit gewährt werden soll, ausgenommen "Kriminelle", sowie Personen, die auf Seite der bewaffneten Opposition gekämpft haben. Auch die Amnestie vom September 2019 hob die allgemeine Wehrpflicht nicht auf und schloss trotz des Titels "Generalamnestie" - ähnlich wie die vorherige "Generalamnestie" von 2014 - genau die Verbrechen explizit aus, die angeblich oppositionellen Syrern bei ihrer politischen Verfolgung in Syrien immer wieder vorgeworfen werden ("Aufrufe gegen den Staat"), darunter viele der Anti-Terror-Gesetzgebung von 2012. Im Zuge der COVID-19-Pandemie erließ die syrische Regierung im März 2020 eine erneute "Generalamnestie", welche auch Vergehen wie Wehrdienstverweigerung, regierungsfeindliche Aktivitäten im Internet und manche terroristische Handlungen umfasste. Desertion wurde auch von der Amnestie abgedeckt, wobei sich im Land befindliche Syrer innerhalb von drei Monaten und im Ausland aufhältige Syrer innerhalb von sechs Monaten stellen mussten. Viele der Verbrechen, die insbesondere oppositionellen Syrern vorgeworfen werden, blieben weiterhin ausgeschlossen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, 18. Dezember 2020, S. 51 m.w.N.). Zwar ist über die Umsetzung und den Umfang der Amnestien für Wehrdienstverweigerer und Deserteure nur sehr wenig bekannt. Die Amnestien werden vielfach als intransparent und unzureichend kritisiert, sowie als bisher wirkungslos und als ein Propagandainstrument der Regierung. Andererseits berichteten Quellen auch, dass die syrische Regierung Amnestien nun eher als früher respektiere und es Männer gebe, die von den Amnestie Gebrauch gemacht hätten und nicht bestraft, sondern nur zum Wehrdienst eingezogen worden seien (vgl. The Danish Immigration Service, Syria, Military Service, Mai 2020, S. 35 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, 30. Juni 2021, S. 56). Erst jüngst erließ Präsident Assad kurz vor den syrischen Präsidentschaftswahlen Ende Mai 2021 mit Gesetzesdekret Nr. 13/2021 erneut eine Generalamnestie, die für Verbrechen, die vor diesem Datum begangen wurden, gilt. Dabei handelt es sich bereits um die 18. Amnestie seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im Frühjahr 2011. Das Dekret betrifft unterschiedliche Straftaten, darunter solche in Zusammenhang mit der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung von 2012, aber nicht jene "terroristische" Straftaten, die Tote zur Folge hatten. Durch das Dekret werden Strafen gänzlich oder teilweise erlassen, oder auch Haftstrafen durch eine Strafzahlung ersetzt. Zwar wird Wehrdienstverweigerung wohl nicht vom Dekret umfasst (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, 30. Juni 2021, S. 56). Allerdings gibt es nicht ansatzweise Anhaltpunkte dafür, dass dies Ausdruck eines geänderten Umgangs mit Wehrdienstverweigerern ist oder generell mit Personen, die sich einer Militärstrafe schuldig gemacht haben. Insoweit wird vom Dekret bezeichnenderweise die Straftat der Desertion erfasst, also eine Militärstraftat, die deutlich härter bestraft wird als Wehrdienstentziehung.
Die Möglichkeit des Freikaufs von der Wehrdienstpflicht und die Amnestieregelungen verdeutlichen den unterschiedlichen Umgang des syrischen Staates mit aus Syrien geflüchteten Personen, denen lediglich die Entziehung vom Wehrdienst vorgeworfen werden kann, einerseits und Personen, die vom syrischen Staat tatsächlich als Oppositionelle oder Regimegegner angesehen werden, andererseits. Während einfachen Wehrdienstentziehern eine Rückkehrperspektive angeboten wird, die zumindest formal, aber auch in der Praxis - mit den aufgezeigten Einschränkungen - besteht, werden vom syrischen Regime als Oppositionelle oder Regimegegner eingestufte Personen mit aller Konsequenz und extremer Härte verfolgt. Statt der Möglichkeit, sich freizukaufen oder von einer Amnestieregelung Gebrauch zu machen, droht dieser Personengruppe nach der einhelligen Erkenntnislage systematische Verfolgung, Inhaftierung, Folter und Tod (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2020), 4. Dezember 2020, S. 12 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, 30. Juni 2021, S. 43 ff.; UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic - Update VI, März 2021, S. 99 ff.; EASO, Syria, Targeting of individuals, März 2020, S. 13 ff.). Dies belegt, dass das syrische Regime einfachen Wehrdienstentziehern gerade keine oppositionelle oder regimekritische Einstellung zuschreibt (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 - juris Rn. 102).
Zusammenfassend kommt daher auch der VGH Hessen unter Verweis auf noch als aktuell anzusehende Länderinformationen und unter ebenso maßgeblichem Verweis auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamtes i.d.F. vom Juni 2021 zum Ergebnis, dass männlichen wehrpflichtigen Syrern, die Syrien aufgrund der Befürchtung der Einziehung zum Wehr- bzw. Reservedienst verlassen haben, nicht automatisch – d.h. nicht bezüglich jedes Einzelfalls – von der syrischen Regierung eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird. So wie der VGH Bayern kommen der VGH Hessen und zahlreiche andere deutsche Oberverwaltungsgerichte (vgl. die Zitate oben) regelmäßig zum Ergebnis, dass es bei männlichen Syrern, die sich im wehrpflichtigen Alter befinden und Syrien aus Angst vor einer Einziehung zum Grundwehrdienst bei der SAA verlassen haben, an einem plausiblen und glaubwürdigen Konnex zwischen der befürchteten Verfolgungshandlung des Art. 9 Abs. 2 lit. e) StatusRL und dem Verfolgungsgrund der (zumindest unterstellen) politischen Gesinnung des Art. 10 Abs. 1 lit. e) StatusRL fehlt und somit diesen Personen – ohne Hinzutreten weiterer konkrete Umstände – keine Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.
Für das BVwG haben sich die deutschen Gerichte eben im Sinne der Erwägungen des EuGHs in der Rechtssache Migracijos departamentas und E.Z. auf Grundlage entsprechender Informationen zu allgemeinen Lage in Syrien mit möglichen Handlungen gegen einen Wehrdienstverweigerer (Wehrdienstentzieher) in ihrem Gesamtkontext umfangreich auseinandergesetzt.
3.4.2.2.2. Zusammengefasst auf das Wesentliche verneinten die deutschen Oberverwaltungsgerichte bzw. Landesverwaltungsgerichtshöfe in Fällen wie dem hier Gegenständlichen weitestgehend einhellig die Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund einer (wenn auch nur unterstellten) politischen Gesinnung, weil keine Existenzgefährdung der syrischen Regierung durch die Wehrdienstverweigerung und den Bürgerkrieg mehr zu erwarten sei. Zusätzlich gebe es grundsätzliche – wenn auch nicht immer lückenlos eingehaltene – Amnestieregelungen für Wehrdienstverweigerer bzw. -entzieher, die von der syrischen Regierung mehrfach erlassen bzw. erneuert wurden, was im Kontext der Informationen zum Herkunftsstaat Syrien ein klares und starkes Indiz gegen die allgemeine Unterstellung einer oppositionellen (politischen) Gesinnung an Wehrdienstverweigerer bzw. -entzieher durch die syrische Regierung sei. Letztlich zeige auch die von der syrischen Regierung eröffnete Möglichkeit der Entrichtung einer Befreiungsgebühr vom Wehrdienst, als Alternative zur Verweigerung desselben, dass ohne Hinzutritt weiterer konkreter Umstände nicht von einer automatischen Einstufung eines Wehrdienstentziehers als Oppositioneller durch das syrische Regime auszugehen sei.
3.4.2.2.3. Dieser Subsumption bzw. rechtlichen Beurteilung schließt sich das BVwG unter Einbeziehung der aktuell vorliegenden Länderberichte an:
Auf Basis der in dieser Rsp. deutscher Verwaltungsgerichte herangezogenen Länderberichte kann das BVwG auch bei Vergleich mit den aktuellen Fassungen dieser Erkenntnisquellen nicht erkennen, dass ggst. eine andere Betrachtungsweise als jene, die der Rsp. der deutschen Oberverwaltungsgerichte bzw. Landesverwaltungsgerichtshöfe fast ausschließlich zu Grunde liegen, angezeigt wäre: Aus dem aktuellen Länderinformationsblatt Syrien der Staatendokumentation i.d.F. Juli 2023 geht insbesondere aus dessen Kapitel 9 „Wehrdienst und Rekrutierungen“ und dem Unterkapitel 9.4. „Wehrdienstverweigerung / Desertion“ keine maßgeblich andere Lageinformation hervor, als aus jener Version des LIB, die u.a. auch von den deutschen Obergerichten als Erkenntnisquelle genutzt wurde. Die auf Seite 132 des aktuellen LIB unter der Überschrift „Haltung des Regimes gegenüber Wehrdienstverweigerern“ dokumentierten Informationen stützen weiterhin die plausible Annahme, dass es hinsichtlich Wehrdienstverweigerern nicht grundsätzlich zu einer Zuschreibung einer oppositionellen Gesinnung durch die syrische Regierung bei der Setzung von Strafverfolgungs- oder Bestrafungshandlungen wegen eines verweigerten Wehrdiensts kommt (Hervorhebungen durch das BVwG):
„Der Syrien-Experte Fabrice Balanche sieht die Haltung des Regimes Wehrdienstverweigerern gegenüber als zweischneidig, weil es einerseits mit potenziell illoyalen Soldaten, die die Armee schwächen, nichts anfangen kann, und sie daher besser außer Landes sehen will, andererseits werden sie inoffiziell als Verräter sehen, da sie sich ins Ausland gerettet haben, statt „ihr Land zu verteidigen“. Wehrdienstverweigerung wird aber nicht unbedingt als oppositionsnahe gesehen. Das syrische Regime ist sich der Tatsache bewusst, dass viele junge Männer nach dem Studium das Land verlassen haben, einfach um nicht zu sterben. Daher wurde die Möglichkeit geschaffen, sich frei zu kaufen, damit die Regierung zumindest Geld in dieser Situation einnehmen kann. Hinzu kommen Ressentiments der in Syrien verbliebenen Bevölkerung gegenüber Wehrdienstverweigerern, die das Land verlassen haben und sich damit „gerettet“ haben, während die verbliebenen jungen Männer im Krieg ihr Leben riskiert bzw. verloren haben (Balanche 13.12.2021).“
Auch Balanche nimmt also in Zusammenhang mit seiner Beurteilung der Haltung der syrischen Regierung zur Wehrdienstverweigerung Bezug auf die allgemein bestehende Möglichkeit des Freikaufs Bezug. Dabei bedeutet auch die von Khaddour vertretene Sichtweise der Illoyalität – wenngleich auch unklar bleibt, aus welchen Handlungen der syrischen Regierung bzw. deren Behörden er dies ableitet – angesichts der oben dargelegten Umstände auch noch nicht, davon auszugehen, dass eine Strafverfolgungshandlung (oder Bestrafung) grundsätzlich wegen einer unterstellten oppositionellen Gesinnung erfolgt. Üngör wiederum stellt nur mögliche Handlungen wegen einer Dienstverweigerung dar – er führt jedoch nichts dahingehend aus, wie die Sanktionen der syrischen Regierung bzw. deren Behörden zu sehen sind.
Auch die im Unterkapitel „9.3 Amnestien im Allgemeinen und im Zusammenhang mit folgendem Militärdienst“ enthaltenen Informationen zeigen, dass es keinen unmittelbaren Konnex zwischen der Zuschreibung einer oppositionellen Gesinnung und der Wehrdienstverweigerung gibt (LIB S. 128f):
„Einer Quelle zufolge respektiert die syrische Regierung Amnestien nun eher als früher (DIS 5.2020). Durch verschiedene Amnestien für Deserteure und Wehrdienstverweigerer werden Strafen zwar zumindest stellenweise erlassen, der zwangsweise Einzug in den Militärdienst wurde durch die Amnestien jedoch nicht beendet und wird unverändert fortgesetzt (AA 29.3.2023; vgl. USDOS 20.3.2023, NMFA 5.2022, MED 10.2021).
Am 25.1.2022 erließ Präsident Assad mit Gesetzesdekret Nr. 3/2022 eine Generalamnestie für„interne“ und „externe Desertion“, die vor diesem Datum begangen wurde (SANA 25.1.2022). Die Amnestie umfasst Straftaten nach Artikel 100 („interne Desertion“) und 101 („externe Desertion“) des Militärstrafgesetzbuchs (Gesetzesdekret Nr. 61 von 1950) (SO 27.1.2022; vgl. SNHR 16.11.2022), schließt jedoch die Artikel 102 („Flucht zum Feind, Flucht vor dem Feind“) und 103 („Flucht durch Verschwörung und Flucht in Kriegszeiten“) aus (SO 27.1.2022). Die Amnestie ist an die Bedingung geknüpft, dass sich Deserteure, die in Syriens leben, innerhalb von drei Monaten, und Deserteure, die außerhalb Syriens leben, innerhalb von vier Monaten den Behörden stellen (SNHR 16.11.2022).“
Weiters ist hervorzuheben, dass die Ausführung in früheren Versionen des LIB (u.a. Version 8 vom Dez. 2022) in diesem Unterkapitel 9.4 „Berichten zufolge betrachtet die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen (STDOK 8.2017).“ in der nunmehr aktuellen Version 9 des LIB nicht mehr enthalten ist (vgl. Punkt II.1.3.1 der Feststellungen). Zu ergänzen ist, dass das zuvor Gesagte umso mehr für Reservedienstverweigerer gilt, da diese ihren Grundwehrdienst bei der SAA bereits geleistet haben, weshalb das syrische Regime hier umso weniger Gründe hat, von einer illoyalen bzw. oppositionellen Haltung auszugehen.
Auch aus den sonst in der deutschen Rsp. referenzierten und noch als aktuell anzusehenden Berichten des DIS, Syria, Military Service vom Mai 2020, (S. 22 ff) sowie der aktuellen EUAA Country Guidance Syria vom Februar 2023, dort im Kapitel „4.2. Persons who evaded or deserted military service“ auf Seite 68f ergeben sich keine Hinweise, die zu einem anderen Schluss führen könnten. Zwar führt die EUAA zur Verknüpfung einer zu prognostizierenden begründeten Furcht vor Verfolgung wegen einer Wehrdienstentziehung aus, dass die (verfügbaren) Informationen es indizieren („indicate“) könnten, dass solche Verfolgungshandlungen sehr wahrscheinlich („highly likely“) wegen einer unterstellten politischen Gesinnung erfolgen würden. Mit Ausnahme des Verweises auf das Urteil des EuGHs in der Rechtssache EZ/Deutschland ist der Guidance eine nähere Begründung für diese Beurteilung nicht zu entnehmen.
Weiters zeigen die in der Country Guidance der EUAA unter Verweis auf den Bericht der EUAA „Syria: Targeting of Individuals“ vom Sept. 2022 (dort Kapitel 2.7) dokumentierten Informationen, dass das Wehrdienstverweigerung vom syrischen Regime zwar jedenfalls als Akt der Illoyalität aufgefasst wird und Wehrdienstverweigerer bzw. -entzieher grundsätzlich mit einer schlechten Behandlung durch syrische Behörden rechnen müssen, diesen Personen nach der Einschätzung der überwiegenden Anzahl befragter Experten aber nunmehr nicht per-se eine oppositionelle Gesinnung von der syrischen Regierung unterstellt werde (a.a.O. S 46f).
Der UNHCR kommt in seinen Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, in ihrer aktuellen sechsten Fassung v. März 2021 nach Darlegung der Länderinformationslage zwar zum Schluss, dass Wehrdienstentzieher u.U. internationalen Flüchtlingsschutz, wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung benötigen würden. Der UNHCR verweist dabei aber wiederum als maßgebliche Begründung für diese Schlussfolgerung in FN 623 auf das Urteil des EuGHs in der Rechtssache EZ/Deutschland. Wie bereits oben erörtert enthält dieses Urteil jedoch gerade keine – abschließende – Beurteilung hinsichtlich der Verknüpfung zum Asylgrund der politischen Gesinnung. Ansonsten hebt UNHCR nur die - besondere - Situation jener Wehrdienstentzieher hervor, die aufgrund anderer, zusätzlicher Umstände als jener der Wehrdienstentziehung jedenfalls als Gegner der syrischen Regierung aufgefasst werden. Somit ist auch die in Kapitel III.A auf S. 102 der UNHCR Erwägungen erfolgte Erwähnung von „Wehrdienstentziehern“ ebenso in diesem Licht zu sehen, wonach die Wehrdienstentziehung allein für sich ohne Hinzutreten weiterer Umstände oder regierungsfeindlicher Aktivitäten nicht zur Zuschreibung einer oppositionellen Gesinnung durch das syrische Regime ausreicht.
Wie die deutschen VGH bzw. OVG auch betonen, ist in diesem Zusammenhang auf die in Punkt II.3.4.1 ausführlich erörterte legale Möglichkeit für wehrpflichtige Syrer, eine Befreiungsgebühr vom Wehrdienst zu bezahlen, zu verweisen, die unterstreicht, dass das syrische Regime dem „üblichen“ Wehrdienstverweigerer bzw. -entzieher durch Ausreise und Aufenthalt im Ausland im Allgemeinen keine oppositionelle Gesinnung unterstellt. Angesichts des in den Länderinformationen umfangreich dokumentierten extrem harten, brutalen und unerbittlichen Vorgehens des syrischen Regimes ggü. Personen die von ihm als tatsächlich oppositionell angesehen werden, scheint es nicht nachvollziehbar, dass das syrische Regime diese Möglichkeit einem Personenkreis einräumen sollte, wenn es diesen für oppositionell gesinnt hält.
3.4.2.2.4. Zusammengefasst ergibt sich daher für das BVwG unter Stützung auf die aktuellsten, oben referenzierten Länderinformationen zu Syrien in Hinblick auf die vom EuGH in seinem Urteil v. 02.01.2023, Rs. C-280/21 beschriebene – jedenfalls einzelfallbezogen vorzunehmende – Plausibilitätsprüfung hinsichtlich der Verknüpfung der Verfolgungshandlungen des Art. 9 mit den Verfolgungsgründen iSd Art. 10 StatusRL, auch unter Einbeziehung der vom Beschwerdeführer im ggst. Verfahren gemachten Angaben, kein anderes Bild des ggst. konkret zu beurteilenden Falles als jenes, dass den zitierten Entscheidungen deutscher VGH bzw. OVG zu Grunde liegt. Das BVwG erkennt somit – so wie dt. OVG bzw. VGH – keinen Konnex zwischen den drohenden Verfolgungshandlungen des Art. 9 Abs. 2 lit. b) bzw. e) StatusRL und dem Verfolgungsgrund einer von der syrischen Regierung unterstellten politischen Überzeugung iSd Art. 10 Abs. 1 lit. e) StatusRL. Der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, dass – auch ohne explizites Vorbringen des Beschwerdeführers – das BVwG auch sonst nach den getroffenen Feststellungen zur Lage in Syrien keine Hinweise auf die Realisierung eines anderen aus Art. 10 Abs. 1 Status RL iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK entspringenden Verfolgungsgründe, insbesondere jenen der Religion oder der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, sieht.
3.4.3. Aus dem in den Punkten II.3.4.1 und II.3.4.2. ausgeführten Gründen war dem Beschwerdeführer daher der Status eines Asylberechtigten nicht zuzuerkennen und keine Flüchtlingseigenschaft festzustellen; seine darauf gerichtete Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides war daher gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG i.V.m. § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abzuweisen.
Zu B): Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei den aufgeworfenen erheblichen Rechtsfragen auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und des Gerichtshofs der Europäischen Union stützen. Die maßgebliche bzw. bezughabende vorliegende Rechtsprechung des VwGH bzw. EuGH zur Frage der Durchführung und den konkreten Determinanten der asylrechtlichen Plausibilitätsprüfung des Konnexes zwischen Verfolgungshandlungen und Verfolgungsgründen i.S.d. StatusRL i.V.m. der GFK als auch zur Frage der notwendigen Alternativlosigkeit der Wehrdienstverweigerung wurde bei den rechtlichen Erwägungen umfangreich wiedergegeben. Die konkrete, die Umstände des Einzelfalls ins Kalkül ziehende Durchführung dieser Plausibilitätsprüfung sowie auch die fallbezogene Analyse des Bestehens und der Nutzbarkeit einer Alternative zur Verweigerung des Wehrdienstes anhand der aus der höchst- bzw. unionsgerichtlichen Rechtsprechung gewonnen Leitlinien, stellt als Einzelfallbeurteilung keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung dar.
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