Normen
AsylG 2005 §11 Abs1
AsylG 2005 §2 Abs1 Z17
AsylG 2005 §3 Abs1
EURallg
FlKonv Art1 AbschnA Z2
VwGG §42 Abs2 Z1
32011L0095 Status-RL Art10
32011L0095 Status-RL Art12 Abs2
32011L0095 Status-RL Art2 litn
32011L0095 Status-RL Art9 Abs2 litb
32011L0095 Status-RL Art9 Abs2 litc
32011L0095 Status-RL Art9 Abs2 lite
32011L0095 Status-RL Art9 Abs3
62013CJ0472 Shepherd VORAB
62019CJ0238 EZ / Bundesrepublik Deutschland VORAB
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2023180108.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein syrischer Staatsangehöriger, beantragte am 31. Oktober 2021 internationalen Schutz in Österreich. Seine Flucht begründete er in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) damit, er sei geflohen, als er erfahren habe, dass er zum Militär müsse. Er habe für den Fall der Rückkehr nach Syrien Angst, umgebracht zu werden.
2 Mit Bescheid vom 24. Oktober 2022 wies das BFA den Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab. Gleichzeitig gewährte es dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 Gegen die Abweisung des Asylbegehrens erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), in der er geltend machte, er befürchte, bei Rückkehr in den Heimatstaat von der syrischen Armee eingezogen und dazu gezwungen zu werden, an Kampfhandlungen teilzunehmen. Er laufe Gefahr, im Zusammenhang mit der Ableistung und der Verweigerung des Militärdienstes erheblichen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt zu sein. Er könne nur über Grenzübergänge, die in der Hand des syrischen Regimes seien, nach Syrien zurückkehren. Dabei drohe ihm, verhaftet und zum Militärdienst bei der syrischen Armee eingezogen zu werden, was er ablehne. Im Falle einer Weigerung würde er zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre.
4 In einer weiteren Stellungnahme vom 27. Jänner 2023 brachte der Revisionswerber vor, der Militärdienst in der syrischen Armee würde ihn dazu zwingen, an Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit teilzunehmen, da bekannt sei, dass alle Konfliktparteien im syrischen Bürgerkrieg derartige Handlungen bereits begangen hätten. Außerdem ergänzte er sein Vorbringen dahingehend, dass ihm als einem aus dem kurdischen Gebiet stammenden 24‑jährigen gesunden jungen Mann bei Rückkehr in seinen Heimatort Zwangsrekrutierung durch die kurdischen Streitkräfte oder andere Gruppierungen drohe und ihm wegen der Flucht vor Rekrutierung von allen Konfliktparteien eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt werde.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG diese Beschwerde als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
6 Begründend führte das BVwG aus, der 24‑jährige Revisionswerber stamme aus einem Ort im Gouvernement Deir ez‑Zor in Syrien, das unter kurdischer Kontrolle stehe. Eine Zugriffsmöglichkeit der syrischen Behörden auf ihn sei zwar nicht völlig ausgeschlossen, verglichen mit Gebieten unter Kontrolle der syrischen Regierung aber stark eingeschränkt, und es bestünden keine Hinweise darauf, dass Rekrutierungen dort auch tatsächlich durchgeführt würden. Es erscheine nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass die syrischen Behörden ihre ‑ in seinem Herkunftsgebiet stark eingeschränkten ‑ Zugriffsmöglichkeiten gerade dafür verwenden würden, den Revisionswerber zum Wehrdienst einzuziehen. Deshalb bestehe für ihn nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, zum Wehrdienst der syrischen Armee rekrutiert zu werden oder von kurdischen Kräften eingezogen zu werden. Vor dem Hintergrund der Feststellungen zur Lage in Syrien könne daher nicht erkannt werden, dass dem Revisionswerber insofern im Herkunftsstaat eine asylrelevante Verfolgung drohe. Soweit der Revisionswerber vorgebracht habe, dass er nur über Grenzübergänge, die in der Hand des syrischen Regimes lägen, nach Syrien zurückkehren könne und dabei Gefahr liefe, von syrischen Behörden festgenommen zu werden, sei auf die jüngste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach es bei der Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gegeben seien, auf die Erreichbarkeit der Herkunftsregion nicht ankomme (Hinweis auf VwGH 3.1.2023, Ra 2022/01/0328, mwN).
7 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, das BVwG habe nicht ausgeschlossen, dass der Revisionswerber auch in seiner Heimatregion von der syrischen Armee rekrutiert werden könne. Es vermeine aber, dass dieses Risiko nicht maßgeblich wahrscheinlich sei, obwohl es auch dort nach den Länderfeststellungen staatliche Behörden mit Zuständigkeit zur Rekrutierung gebe. Das Erkenntnis weise daher Begründungsmängel auf, die relevant seien, weil der Revisionswerber bei Rekrutierung durch die syrische Armee gezwungen wäre, an Kriegsverbrechen teilzunehmen. Noch eklatanter sei der Begründungsmangel im Hinblick auf die drohende Zwangsrekrutierung durch kurdische Kräfte, weil der 24‑jährige Revisionswerber bei seiner Rückkehr zweifellos verpflichtet wäre, seinen Wehrdienst für die kurdischen Streitkräfte abzuleisten.
8 Abgesehen davon unterlaufe dem BVwG eine grob unrichtige rechtliche Würdigung, wenn es ausführe, dass es auf die Erreichbarkeit des Herkunftsortes bei der Prüfung der asylrelevanten Verfolgung nicht ankomme. In allen relevanten Rechtsgrundlagen beziehe sich die Asylgewährung auf einen bestimmten Herkunftsstaat und nicht eingeschränkt auf eine bestimmte Region dieses Herkunftsstaates. Es sei nicht nachvollziehbar, dass in einem Fall, in dem die asylrelevante Bedrohung vom Herkunftsstaat selbst ausgehe und tatsächlich für den weitaus größten Teil des Staatsgebiets des Herkunftsstaates gegeben sei, die Asylgewährung verweigert werden könne. Dem Revisionswerber drohe bei Rückkehr nach Syrien jedenfalls asylrelevante Gefahr. Das BVwG hätte daher auch die Erreichbarkeit der Herkunftsregion zu prüfen gehabt und dementsprechende Feststellungen treffen müssen.
9 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
11 Die Revision ist schon im Hinblick auf die zuletzt aufgeworfene Rechtsfrage, zu der es einer Klarstellung der Rechtslage bedarf, zulässig. Sie ist auch begründet.
12 Das BVwG lehnte die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten mit der tragenden Begründung ab, dem Revisionswerber drohe in seiner Heimatregion ‑ trotz der für ihn bestehenden Wehrpflicht ‑ keine Einberufung durch die syrische Armee, weil die Militärbehörden dort nur eingeschränkten Zugriff auf ihn hätten und diesen ‑ wie beweiswürdigend näher ausgeführt wird ‑ nicht ausüben würden. Auch eine Rekrutierung durch die lokalen Machthaber sei nicht wahrscheinlich. Dem Vorbringen des Revisionswerbers, er würde schon bei der Rückkehr nach Syrien, also auf dem Weg in seine Heimatregion, von den Militärbehörden wegen seiner Wehrdienstverweigerung verhaftet und in weiterer Folge gefoltert werden, begegnet das BVwG mit dem Hinweis darauf, dass es nach der jüngsten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 3.1.2023, Ra 2022/01/0328, mwN) bei der Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gegeben seien, auf die Erreichbarkeit der Herkunftsregion nicht ankomme.
13 Diesen vom BVwG gezogenen Schlüssen aus der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes tritt die Revision im Ergebnis zu Recht entgegen, und zwar im Wesentlichen aus zwei Gründen:
14 Erstens ist gemäß § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) einem Fremden, der in Österreich einen (zulässigen) Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat (vgl. § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG 2005) Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht. Die für die Asylgewährung erforderliche Verfolgungsgefahr ist daher in Bezug auf den Herkunftsstaat des Asylwerbers oder der Asylwerberin zu prüfen (vgl. dazu etwa VwGH 2.2.2023, Ra 2022/18/0266, mwN). Auch Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK und die Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) stellen auf das Herkunftsland (vgl. etwa Art. 2 lit. n Statusrichtlinie) des Asylwerbers oder der Asylwerberin ab und prüfen die Asylberechtigung hinsichtlich dieses Landes. Eine Einschränkung der Prüfung der Gewährung von Asyl auf die Herkunftsregion des Asylwerbers oder der Asylwerberin innerhalb des Herkunftsstaates ist dieser Rechtslage nicht zu entnehmen.
15 Davon zu unterscheiden ist, dass bei der Prüfung der innerstaatlichen Fluchtalternative nach herrschender Judikatur zwischen der Heimatregion der schutzsuchenden Person und einem in Betracht kommenden verfolgungssicheren Landesteil differenziert wird (vgl. etwa VwGH 25.8.2022, Ra 2021/19/0442; VwGH 9.3.2023, Ra 2022/19/0317); auf das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 kommt es allerdings in einem Fall wie dem vorliegenden, bei dem eine Verfolgung in der Heimatregion verneint wird, nicht an (vgl. etwa VwGH 20.1.2021, Ra 2020/19/0445; VwGH 9.3.2023, Ra 2022/20/0235).
16 Zweitens kommt es nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für die Asylgewährung auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass die schutzsuchende Person in der Vergangenheit bereits verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend. Entscheidend ist vielmehr, dass der schutzsuchenden Person im Zeitpunkt der Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz (hier: durch das BVwG) im Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in der GFK bzw. in Art. 10 Statusrichtlinie genannten fünf Verfolgungsgründe drohen würde (vgl. etwa VwGH 3.5.2016, Ra 2015/18/0212; VwGH 7.3.2023, Ra 2022/18/0284, mwN).
17 Die Bedachtnahme auf diese beiden rechtlichen Grundsätze führt zu dem Ergebnis, dass das BVwG auch im vorliegenden Fall zu klären hatte, ob der Revisionswerber im Zeitpunkt seiner Entscheidung in seinem Herkunftsstaat mit asylrelevanter Verfolgung rechnen musste.
18 Das BVwG hat eine solche nur bezogen auf die Herkunftsregion verneint und sich mit der Behauptung des Revisionswerbers, schon beim Grenzübertritt von den syrischen Behörden aufgegriffen und verfolgt zu werden, nicht auseinandergesetzt. Damit hat es die erforderlichen Feststellungen zur abschließenden Klärung, ob dem Revisionswerber im Zeitpunkt seiner Entscheidung eine asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat droht, zu Unrecht unterlassen und insbesondere nicht geklärt, ob die Prozessbehauptung der Verfolgung beim Grenzübertritt in jedem Fall zutrifft.
19 Soweit sich das BVwG zur Untermauerung seiner Entscheidung ausschließlich auf Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofes stützt, mit denen Revisionen wegen Nichtvorliegens einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zurückgewiesen wurden, weil es „bei der Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gegeben sind, auf die Erreichbarkeit der Herkunftsregion nicht ankommt“, ist Folgendes zu erwidern:
20 In dem vom BVwG zitierten hg. Beschluss vom 3. Jänner 2023, Ra 2022/01/0328, nahm der Verwaltungsgerichtshof auf ein Revisionsvorbringen Bezug, wonach das verwaltungsgerichtliche Erkenntnis Feststellungsmängel zu den für die Einreise in den Herkunftsstaat erforderlichen Dokumenten des dortigen Revisionswerbers aufweise und führte wörtlich aus:
„Mit diesem Vorbringen wird eine Zulässigkeit der Revision schon deshalb nicht aufgezeigt, weil es bei Verneinung einer Verfolgung nach § 3 AsylG 2005 für die Klärung des Sachverhalts im Hinblick auf den Asylstatus auf die Erreichbarkeit der Herkunftsregion nicht ankommt (vgl. bereits VwGH 27.5.2015, Ra 2015/18/0041; vgl. auch VwGH 20.1.2021, Ra 2020/19/0445, mwN, wonach es bei Verneinung einer Verfolgung insbesondere in der Herkunftsregion auf das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative hinsichtlich der Entscheidung über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nicht ankommt).“
21 Ausgangspunkt dieser höchstgerichtlichen Judikatur war somit der hg. Beschluss vom 27. Mai 2015, Ra 2015/18/0041, dem ein Fall zugrunde lag, bei dem das BVwG einen verwaltungsbehördlichen Bescheid in Bezug auf den begehrten Status eines subsidiär Schutzberechtigten aufgehoben und an das BFA zurückverwiesen hatte, um ausreichend aktuelle Feststellungen zur Sicherheitslage, Rückkehrsituation und Erreichbarkeit der Herkunftsregion des dortigen Revisionswerbers zu treffen, während dem Asylbegehren nicht stattgegeben worden war. In der Revision an den Verwaltungsgerichtshof vertrat der Revisionswerber die Rechtsauffassung, die zum subsidiären Schutz konstatierten Ermittlungsmängel würden gleichermaßen auf die Beurteilung der Asylfrage „durchschlagen“. Der Verwaltungsgerichtshof hielt dazu fest, dass der Revisionswerber keine ihn konkret betreffende asylrelevante Verfolgung dargelegt habe und es bei diesem Ergebnis auf die vom BVwG (für die Entscheidung betreffend subsidiären Schutz) als erforderlich angesehene Ergänzung der Feststellungen zur Sicherheitslage, Rückkehrsituation und Erreichbarkeit der Herkunftsregion des Revisionswerbers für die Klärung des Sachverhalts im Hinblick auf den Asylstatus nicht ankomme. Anders gewendet wurde in diesem Fall hervorgehoben, dass die Prüfung der Zuerkennung des Asylstatus einerseits und des subsidiären Schutzstatus andererseits voneinander zu trennen sind. Wenn dem BVwG ergänzende Feststellungen u.a. zur Erreichbarkeit der Herkunftsregion unter dem Blickwinkel des § 8 AsylG 2005 erforderlich erschienen, musste dies ‑ entgegen dem dortigen Revisionsvorbringen ‑ nicht zwingend auf die Frage der Zuerkennung des Asylstatus „durchschlagen“, weil ‑ nach den Umständen des dortigen Falles ‑ eine asylrelevante Verfolgung des Revisionswerbers im Herkunftsstaat verneint werden konnte.
22 Im hg. Beschluss vom 20. Jänner 2021, Ra 2020/19/0445, bezog sich der Verwaltungsgerichtshof auf ein Revisionsvorbringen, das eine Zumutbarkeitsprüfung im Sinne des § 11 AsylG 2005 zugunsten des Revisionswerbers eingefordert hatte, und führte aus, dass eine solche bei Verneinung der Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK insbesondere auch in der Herkunftsregion des dortigen Revisionswerbers nicht stattzufinden habe.
23 Keinem dieser höchstgerichtlichen Beschlüsse lässt sich die Aussage entnehmen, dass eine (asylrelevante) Verfolgungsbehauptung im Herkunftsstaat, wie sie im gegenständlichen Fall erhoben wird (wonach der Revisionswerber beim Grenzübertritt Verfolgung durch die syrischen Behörden zu erwarten hätte, ehe er überhaupt in seine Herkunftsregion gelangen werde), ungeprüft bleiben dürfe.
24 Eine solche Aussage findet sich schließlich auch nicht im hg. Beschluss vom 3. Jänner 2023, Ra 2022/01/0328, zumal die in der dortigen Revision angesprochene Frage der erforderlichen Einreisedokumente von der im vorliegenden Fall entscheidungsrelevanten Rechtsfrage einer drohenden asylrelevanten Verfolgung bei bzw. nach Einreise in den Herkunftsstaat zu unterscheiden ist (vgl. ähnlich VwGH 9.3.2023, Ra 2022/20/0211, wo unter Bezugnahme auf VwGH 3.1.2023, Ra 2022/01/0328, die unterbliebene Prüfung der legalen Einreisemöglichkeit nicht beanstandet worden ist).
25 Die Rechtsansicht des BVwG, es komme auf die (behauptete) Verfolgung des Revisionswerbers aus asylrelevanten Gründen schon beim Grenzübertritt in den Herkunftsstaat nicht an, erweist sich daher als rechtlich unzutreffend, weshalb das angefochtene Erkenntnis keinen Bestand haben kann.
26 Im fortgesetzten Verfahren wird daher näher zu prüfen sein, ob die Behauptung des Revisionswerbers zutrifft, bei Rückkehr in den Herkunftsstaat (allenfalls schon beim Grenzübertritt) wegen seiner Wehrdienstverweigerung asylrelevante Verfolgung zu erfahren.
27 In diesem Zusammenhang weist der Verwaltungsgerichtshof darauf hin, dass die Asylgewährung an Wehrdienstverweigerer neben der Prüfung, ob die schutzsuchende Person bei Rückkehr in den Herkunftsstaat tatsächlich „Verfolgung“ im asylrechtlichen Sinne zu gewärtigen hätte, auch den Konnex dieser Verfolgungshandlung mit einem der fünf in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Konventionsgründe („Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“) erfordert, die in Art. 10 Statusrichtlinie näher umschrieben werden. In den Worten des Art. 9 Abs. 3 Statusrichtlinie muss eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 genannten Gründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen bestehen.
28 Als Verfolgungshandlungen gegen Wehrdienstverweigerer kommen ‑ im Lichte des Unionsrechts ‑ insbesondere solche nach Art. 9 Abs. 2 lit b, c und e Statusrichtlinie in Betracht, also etwa eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung des Wehrdienstverweigerers (Art. 9 Abs. 2 lit. c) oder eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 fallen (Art. 9 Abs. 2 lit. e); Letzteres betrifft u.a. Fälle, in denen der Militärdienst die Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde, einschließlich solcher, in denen der Asylwerber nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde (EuGH 26.2.2015, C‑472/13 , Rs. Shepherd). Hätte der Wehrpflichtige seinen Militärdienst im Kontext eines allgemeinen Bürgerkriegs abzuleisten, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Statusrichtlinie durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist, so besteht nach den Ausführungen des EuGH eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem ‑ allenfalls noch nicht bekannten ‑ Einsatzgebiet dazu veranlasst sein würde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung der betreffenden Verbrechen teilzunehmen (EuGH 19.11.2020, C‑238/19 , Rs. EZ).
29 Selbst die Bejahung von Verfolgungshandlungen der geschilderten Art erübrigt es nicht, das Bestehen einer Verknüpfung zwischen (zumindest) einem der in Art. 10 Statusrichtlinie bzw. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Verfolgungsgründe und den Verfolgungshandlungen individuell zu prüfen.
30 Wie der EuGH bereits klargestellt hat, ist die Verweigerung des Militärdienstes in vielen Fällen Ausdruck politischer Überzeugungen (sei es, dass sie in der Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer Gewalt oder in der Opposition zur Politik oder den Methoden der Behörden des Herkunftslandes bestehen), religiöser Überzeugungen oder sie hat ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. In diesen Konstellationen können die Verfolgungshandlungen aufgrund der Verweigerung des Wehrdienstes den einschlägigen Verfolgungsgründen zugeordnet werden.
31 Die Verweigerung des Militärdienstes kann allerdings auch aus Gründen erfolgen, die in den Verfolgungsgründen von Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK bzw. Art. 10 Statusrichtlinie keine Deckung finden. Sie kann u.a. durch die Furcht begründet sein, sich den Gefahren auszusetzen, die die Ableistung des Militärdienstes im Kontext eines bewaffneten Konflikts mit sich bringt. Ginge man davon aus, dass die Verweigerung des Militärdienstes in jedem Fall mit einem der von der GFK vorgesehenen Verfolgungsgründe verknüpft ist, würde dies somit in Wirklichkeit darauf hinauslaufen, diesen Gründen weitere Verfolgungsgründe hinzuzufügen, was weder mit der GFK noch mit der Statusrichtlinie in Einklang stünde (EuGH Rs. EZ, Rn. 47 ff).
32 In diesem Sinne hat auch der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass die (bloße) Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrelevante Verfolgung darstellt, sondern nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen kann (VwGH 7.1.2021, Ra 2020/18/0491, mwN).
33 Neben Fällen, in denen die Wehrdienstverweigerung des oder der Betroffenen auf einem Verfolgungsgrund, wie etwa politischer Gesinnung oder religiöser Überzeugung beruht, kann nach der ständigen ‑ auf das hg. Erkenntnis vom 21. März 2002, 99/20/0401, zurückgehenden ‑ Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes einer Wehrdienstverweigerung bei entsprechenden Verfolgungshandlungen auch dann Asylrelevanz zukommen, wenn dem Betroffenen wegen seines Verhaltens vom Verfolger eine oppositionelle (politische oder religiöse) Gesinnung unterstellt wird.
34 In jedem Fall ist es also vor der Asylgewährung wegen behaupteter Wehrdienstverweigerung erforderlich, die drohenden Verfolgungshandlungen wegen dieses Verhaltens im Herkunftsstaat im Sinne des bisher Gesagten zu ermitteln und bejahendenfalls eine Verknüpfung zu einem der Verfolgungsgründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK bzw. Art. 10 Statusrichtlinie herzustellen.
35 Auch im Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie gilt, wie der EuGH bereits erkannt hat, nichts anderes. Allein deshalb, weil einem Wehrdienstverweigerer unter den Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie Bestrafung durch die Behörden seines Herkunftsstaates droht, kann die Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nicht als gegeben angesehen werden. Die Plausibilität der Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen ist nach Auffassung des EuGH von den zuständigen nationalen Behörden vielmehr in Anbetracht sämtlicher vom Asylwerber (oder der Asylwerberin) vorgetragenen Anhaltspunkte zu prüfen. Dabei spricht zwar eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. e Statusrichtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 Statusrichtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht. Dies entbindet die Asylbehörde bzw. das nachprüfende BVwG aber nicht von der erforderlichen Plausibilitätsprüfung (EuGH Rs. EZ vgl. dazu auch jüngst deutsches BVerwG, 19.1.2023, 1 C 22.21, u.a. Rn. 48 ff).
36 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
37 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 4. Juli 2023
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