BVwG W196 2254113-1

BVwGW196 2254113-16.12.2022

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9 Abs2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:W196.2254113.1.00

 

Spruch:

 

W196 2250805-1/22E

W196 2252303-1/47E

W196 2254113-1/10E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. SAHLING als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1) XXXX , geb. XXXX , 2) XXXX , geb. XXXX und 3) XXXX , geb. XXXX , alle Staatsangehörigkeit Russische Föderation, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 1) vom 13.12.2021, Zl. 770590406-211754054, 2) vom 25.01.2022, Zl. 780066107-211541441 und 3) 09.03.2022, Zl.1095086509-211907748 nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 04.04.2022 am 22.06.2022 und am 21.07.2022 zu Recht:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen mit der Maßgabe, dass XXXX betreffend Spruchpunkt VII. zu lauten hat: „Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 FPG wird ein auf die Dauer von 5 (fünf) Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.“

B)

Die Revision ist jeweils gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

 

Entscheidungsgründe:

Verfahrensgang:

 

Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers. Die Drittbeschwerdeführerin ist deren Mutter bzw. Großmutter. Die beschwerdeführenden Parteien sind alle Staatsangehörige der Russischen Föderation, sie gehören der tschetschenischen Volksgruppe an und sie bekennen sich zum moslemischen Glauben.

 

1. Die Erstbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihrem früheren Ehemann ( XXXX ) und ihren beiden älteren Söhnen ( XXXX ) nach Österreich ein und stellte am 28.06.2007 einen Antrag auf internationalen Schutz. Ihr jüngster Sohn, der Zweitbeschwerdeführer, wurde am 21.11.2007 in Österreich geboren.

 

2. Mit Bescheid des damaligen Bundesasylamtes (BBA) vom 17.09.2008 wurde der Erstbeschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Es wurde festgestellt, dass sie an multipler Sklerose leide und dauerhafter ärztlicher Betreuung bedürfe. Auf Basis allgemeiner Feststellungen zur damaligen aktuellen Versorgungslage in der Russischen Föderation kam das Bundesasylamt zum Schluss, dass für sie nach einem Abbruch der Behandlung ihrer Krankheit in Österreich eine ausreichende (ärztliche) Versorgung in ihrem Heimatstaat nicht sichergestellt sei.

Den obgenannten Familienmitgliedern, so auch dem Zweitbeschwerdeführer, wurde mit Bescheiden vom selben Tag der subsidiäre Schutzstatus unter Anwendung der Bestimmungen über das asylrechtliche Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 zuerkannt. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 18.04.2016 wurde schließlich auch der erst im November 2015 nach Österreich einreisenden Drittbeschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigten aufgrund der Pflegebedürftigkeit ihrer kranken Tochter gewährt.

Die den beschwerdeführenden Parteien erteilten befristeten Aufenthaltsberechtigungen wurden in der Folge wiederholt verlängert; hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin zuletzt 2018 gültig bis 17.09.2020.

3. Aus Anlass zahlreicher Strafanzeigen gegen den Zweitbeschwerdeführer wurde gegen diesen am 18.10.2021 ein Aberkennungsverfahren eingeleitet.

Am 20.11.2021 und am 10.12.2021 wurden sodann auch gegen die Erst- und die Drittbeschwerdeführerin Verfahren zur Aberkennung ihres Schutzstatus eingeleitet.

4. Mit den gegenständlichen Bescheiden des BFA 1) vom 13.12.2021, Zl. 770590406/211754054, 2) vom 25.01.2022, Zl. 780066107/211541441 und 3) vom 09.03.2022, Zl.1095086509-211907748 wurde den beschwerdeführenden Parteien (den Zweit- und die Drittbeschwerdeführer/in betreffend, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung) jeweils der ihnen zuerkannte Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin ihr Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte vom 12.11.2021 gemäß § Abs. 4 AsylG abgewiesen bzw. hinsichtlich den Zweit- und die Drittbeschwerdeführer/in die ihnen erteilten befristeten Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihnen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005, erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen (Spruchpunkt VI.). Gegen den Zweitbeschwerdeführer wurde zudem gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG ein auf die Dauer von vier Jahren und sechs Monaten befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Die Aberkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten wurde im Wesentlichen damit begründet, dass sich das BVwG bereits im Erkenntnis vom 15.11.2021, W226 2233016-2/8E, das Aberkennungsverfahren, den XXXX betreffend, mit der Möglichkeit der Aberkennung des Schutzstatus wegen Lageänderung hinsichtlich dessen Mutter, der Erstbeschwerdeführerin, auseinandergesetzt habe; und sich das BFA diesen Erwägungen anschließe. Im Wesentlichen sei dabei erwogen worden, dass eine akute lebensbedrohliche Krankheit der Erstbeschwerdeführerin, welche eine Überstellung in den Herkunftsstaat verbieten würde, nicht (mehr) vorliege und dass ihre medizinische Versorgung in der Russischen Föderation gewährleistet sei. Der Erstbeschwerdeführerin sei es, mit nur mehr einem nicht-selbsterhaltungsfähigen Sohn, unter Zuhilfenahme des Sozialversicherungssystems in Russland sowie gegebenenfalls (finanzieller) Unterstützung ihrer Familienangehörigen, nunmehr möglich, sich im Herkunftsland behandeln zu lassen und dort, ohne in eine existenzbedrohende bzw. aussichtslose Lage zu geraten, zu leben.

Hinsichtlich den/der Zweit- und die Drittbeschwerdeführer/in wurde weiters ausgeführt, dass diese zu keiner Zeit Opfer von Verfolgungshandlungen geworden seien und ihnen ausschließlich aufgrund der Erkrankung der Mutter bzw. Tochter subsidiär Schutz zuerkannt worden sei. Weder ihren Angaben, noch dem aktuellen Länderinformationsblatt könnten substantiierte Hinweise entnommen werden, dass ihnen in ihrem Herkunftsstaat eine schutzrelevante Gefährdungslage drohe. Dass der Zweitbeschwerdeführer anders als sein Bruder, XXXX , noch nicht volljährig sei, werde zwar nicht übersehen, jedoch angesichts der familiären Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat und der Möglichkeit, dort staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen zu können, als nicht hinderlich für seine Abschiebung erachtet. Zum gegen den Zweitbeschwerdeführer verhängten Einreiseverbot wurde letztlich ausgeführt, dass er wegen fehlender rechtskräftiger Verurteilungen mangels Strafmündigkeit zwar keine der demonstrativ aufgezählten Ziffern des § 53 Abs. 2 FPG erfülle, angesichts der Vielzahl an erheblichen Rechtsverstößen und dem sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbild von ihm jedoch unzweifelhaft eine Gefährdung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgehe und daher sein Aufenthalt den in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderlaufe.

5. Dagegen erhoben die beschwerdeführenden Parteien durch ihre Rechtsvertretung am 11.01.2022 bzw. am 25.02.2022 bzw. am 09.03.2022 vollumfänglich Beschwerden an das BVwG.

Moniert wurde, dass sich die belangte Behörde in den angefochtenen Bescheiden vor allem auf die Ausführungen des BVwG im Erkenntnis vom 15.11.2021, W226 2233016-2/8E, das Aberkennungsverfahren den XXXX betreffend beziehe, ohne eigenständige Ermittlungen hinsichtlich des gesundheitlichen Zustandes der Erstbeschwerdeführerin, sowie ihrer Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsland durgeführt zu haben. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass sie im Falle der Abschiebung Gefahr laufe, Verletzungen ihrer durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte zu erleiden. Abgesehen davon dürfe ein rechtskräftig entschiedener Sachverhalt auch nicht grundlos neuerlich untersucht und anders entschieden werden. Das Bundesamt hätte sohin darzulegen gehabt, inwiefern sich die Situation der Erstbeschwerdeführerin bezogen auf die Gründe, die 2018 zur weiteren Verlängerung ihrer befristeten Aufenthaltsberechtigung geführt haben, verändert haben und inwiefern diese Änderungen dazu geführt haben, dass die Voraussetzungen für ihre Schutzzuerkennung nun nicht mehr gegeben sind. Mit Hinblick auf die behördlichen Länderinformationen zur Lage im Herkunftsland, welche in den letzten Jahren keine maßgebliche und nachhaltige Verbesserung der Sicherheits- und Versorgungslage erkennen lassen, und aufgrund der persönlichen Umstände der Erstbeschwerdeführerin, welche sich mittlerweile sogar in Pflegestufe 7 befinde, seien keine solchen Änderungen eingetreten, die eine Anwendung des § 9 Abs 1 AsylG 2005 bedingen würden. Zu beachten sei ferner, dass sich die Sicherheits- und Versorgungslage in der Russischen Föderation, aufgrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und der damit einhergehenden Sanktionen gegen Russland weiter verschlechtert habe, sowie der Umstand, dass sowohl die Erstbeschwerdeführerin als auch die übrigen beschwerdeführenden Parteien – entgegen den diesbezüglichen Ausführungen der Behörde - nicht auf (familiäre) Unterstützung im Herkunftsland zählen könnten. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten seien, alle beschwerdeführenden Parteien betreffend, sohin auch weiterhin gegeben. Schließlich würden die beschwerdeführenden Parteien in Österreich auch ein aufrechtes Privat- und Familienleben, schützenswert im Sinne des Art 8 EMRK führen, und es hätte die Behörde hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers das Kindeswohl entsprechend zu berücksichtigen gehabt. In Bezug auf seine strafrechtlichen Auffälligkeiten liege außerdem Änderungswille vor.

6. Die Beschwerdevorlage der Erstbeschwerdeführerin langte am 20.01.20222 beim BVwG ein; die des Zweitbeschwerdeführers am 03.03.2022.

7. Am 04.04.2022 wurde eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG durchgeführt und dabei die Drittbeschwerdeführerin als Zeugin befragt. Die Erst- und der Zweitbeschwerdeführer/in blieben von dieser entschuldigt fern; letztgenannter aufgrund einer strafgerichtlichen Verhandlung.

8. Am 19.04.2022 langte auch die Beschwerdevorlage betreffend die Drittbeschwerdeführerin beim BVwG ein. Daraufhin wurde am 22.06.2022 erneut eine mündliche Beschwerdeverhandlung anberaumt, anlässlich welcher die Drittbeschwerdeführerin (nunmehr) in ihrer Stellung als Partei befragt wurde.

9. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 29.06.2022, HV 29/2002y, wurde der Zweitbeschwerdeführer unter anderem wegen des Verbrechens des Raubes zu einer 18-monatigen Freiheitsstrafe, davon zwölf Monate bedingt nachgesehen, unter der Setzung einer dreijährigen Probezeit, rechtskräftig verurteilt.

10. Am 21.07.2022 wurde abermals eine mündliche Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG durchgeführt. Zu dieser erschienen der Zweitbeschwerdeführer in Begleitung seines älteren Bruders XXXX als seine gesetzlichen Vertretung, seine Rechtsvertretung sowie die belangte Behörde. Als Zeugin wurde die Großmutter (väterlicherseits), XXXX , einvernommen.

11. Am 26.07.2022 langte zur mündlichen Beschwerdeverhandlung des Zweitbeschwerdeführers eine Stellungnahme ein, worin unter anderem vorgebracht wurde, dass mit Verweis auf VwGH vom 23.09.2019, Ra 2019/19/0059, bei der Aberkennung des subsidiären Schutzstatus wegen Lageänderung in Bezug auf den Zweitbeschwerdeführer, die Beurteilung des Schutzbedarfes seiner Bezugsperson – der Mutter – maßgeblich sei, die Behörde hierzu aber überhaupt keine Ermittlungen angestellt habe. Insbesondere wären keine Ermittlungen dahingehend getroffen worden, ob es hinsichtlich der letztmaligen Verlängerung des Aufenthaltsrechts zu einer maßgeblichen Verbesserung der für sie erforderlichen medizinischen Versorgung in der Russischen Föderation gekommen sei.

11. Daraufhin wurde am 08.08.2022 seitens des BVwG eine Anfrage an die Staatendokumentation hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten für an multipler Sklerose erkrankter Personen in der Russischen Föderation gestellt; sowie zu den dortigen Beschaffungsmöglichkeiten betreffend die von der Erstbeschwerdeführerin eingenommenen Medikamente.

12. Am 25.08.2022 wurde der Zweitbeschwerdeführer vom Landesgericht XXXX rechtskräftig wegen des Verbrechens der Erpressung zu einer zusätzlichen Freiheitsstrafe in der Dauer drei Monaten, bedingt nachgesehen unter Setzung einer dreijährigen Probezeit, verurteilt.

13. Am 28.10.2022 erteilte die Staatendokumentation (nach Beantwortung von Rückfragen) eine Auskunft zur in Punkt 11. angeführten Fragestellung.

14. Am 01.11.2022 langte beim BVwG eine Anzeigeerstattung seitens der LPD XXXX ein, wonach der Zweitbeschwerdeführer gemäß § XXXX LandessicherheitsG wegen Anstandsverletzung angezeigt worden sei.

Am 01.12.2022 langte ferner eine Anklageerhebung seitens der Staatsanwaltschaft XXXX ein, der zufolge der Zweitbeschwerdeführer einen tätlichen Angriff auf einen Beamten nach § 270 Abs. 1 StGB begangen haben soll.

I. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Identitäten und den persönlichen Verhältnissen der beschwerdeführenden Parteien:

1.1.1. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers. Die Drittbeschwerdeführerin ist deren Mutter bzw. Großmutter. Ihre Identitäten stehen fest. Die beschwerdeführenden Parteien sind alle Staatsangehörige der Russischen Föderation, sie gehören der tschetschenischen Volksgruppe an und sie bekennen sich zum moslemischen Glauben.

Die Erst- und die Drittbeschwerdeführerin stammen jeweils aus Tschetschenien. Der minderjährige Zweitbeschwerdeführer wurde am 21.11.2007 in Österreich geboren.

1.1.2. Die zum Entscheidungszeitpunkt XXXX jährige Erstbeschwerdeführerin leidet an einer sekundär progredienten Form der Multiplen Sklerose, EDSS 9.0, bei welcher es zu einer kontinuierlichen funktionellen Verschlechterung kommt. Sie ist seit über zwei Jahren rollstuhlpflichtig bzw. bettlägerig, auf ständige Betreuung angewiesen und befindet sich in Pflegestufe 7. Aktuell wird sie von ihrer Mutter, der Drittbeschwerdeführerin, gepflegt. Die Erstbeschwerdeführerin nimmt folgende Medikamente: Lioresal, Reparil, Effektil, Novalgin.

Der minderjährige Zweit- und die Drittbeschwerdeführer/in sind jeweils gesund.

1.1.3. Mit Bescheid des BBA vom 17.09.2008 wurde der Erstbeschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigten gewährt. Das Bundesasylamt begründete seine Entscheidung damit, dass die Erstbeschwerdeführerin an Multipler Sklerose leide und dauerhafter ärztlicher Betreuung bedürfe. Auf Basis allgemeiner Feststellungen zur aktuellen Versorgungslage in der Russischen Föderation sei eine ausreichende ärztliche Versorgung dort nicht sichergestellt und die menschenwürdige Existenz ebenso gefährdet wie die Versorgung ihrer Kinder.

Ihren Familienmitgliedern, so auch dem Zweitbeschwerdeführer, wurde mit Bescheiden vom selben Tag der subsidiäre Schutzstatus unter Anwendung der Bestimmungen über das asylrechtliche Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 zuerkannt. Mit Bescheid des BFA vom 18.04.2016 wurde auch der erst im November 2015 nach Österreich einreisenden Drittbeschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigten aufgrund der Pflegebedürftigkeit ihrer kranken Tochter gewährt.

Die den beschwerdeführenden Parteien erteilten befristeten Aufenthaltsberechtigungen wurden in der Folge wiederholt verlängert; hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin zuletzt 2018 gültig bis 17.09.2020.

1.2. Zu ihrer (individuellen) Lage im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat:

1.2.1. Die medizinische Behandlung von an Multipler Sklerose erkrankter Personen ist in der Russischen Föderation (mittlerweile) sichergestellt. In der Hauptstadt Moskau stehen hierfür etwa folgende Behandlungen und Fachärzte zur Verfügung:

 stationäre sowie ambulante Behandlungen durch einen Neurologen und Physiotherapeuten in der öffentlichen Einrichtung „Research Center of Neurology“;

 eine Rehabilitationsklinik mit 24/7 Betreuung (z.B. für zerebrovaskuläre Unfälle) in der öffentlichen Einrichtung „Nationales medizinisch-chirurgisches Zentrum namens N.I. Pirogow“;

 Tagespflege für Körperbehinderte in der öffentlichen Einrichtung „Rehabilitationszentrum der Stadt Moskau“;

 häusliche Pflege durch eine Krankenschwester in der privaten Einrichtung „Moskauer Patronatsdienst“;

 ein Rollstuhl kann mit einer gültigen Überweisung des behandelnden Arztes von der öffentlichen Einrichtung „Ressourcenzentrum für Menschen mit Behinderungen“ kostenlos ausgeliehen werden;

 stationäre sowie ambulante Behandlungen durch einen Internisten in der Einrichtung privaten „Städtisches Klinikum namens S. P. Botkin“ ;

 Dauerharnkatheter wie Foley-Katheter in der privaten Kette von Sozialapotheken namens „Stolitschki“;

 MRT-Aufnahme in der öffentlichen Einrichtung „Erstes Stadtkrankenhaus namens N. I. Pirogow“;

Zudem sind auch die für die individuelle Behandlung der Erstbeschwerdeführerin erforderlichen Wirkstoffe (jedenfalls) in Moskau verfügbar. In der Russischen Föderation herrscht Bewegungsfreiheit.

1.2.2. Sonstige Gründe, derentwegen die beschwerdeführenden Parteien im Fall ihrer Rückkehr in die Russische Föderation in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wären, liegen keine vor. Der minderjährige Zweitbeschwerdeführer befürchtet im Falle seiner Rückkehr auch nicht die Einziehung in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

1.2.3. Alle beschwerdeführenden Parteien sind von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen. Die beschwerdeführenden Parteien verfügen in der Russischen Föderation auch über ein familiäres Netz:

Im Herkunftsland befindet sich (wieder) der frühere Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bzw. der Vater des Zweitbeschwerdeführers. Sein Schutzstatus wurde vom BFA bereits im Jahr 2016 rechtskräftig aberkannt. Nachdem er sich in der Folge illegal im Bundesgebiet aufgehalten hatte, wurde er am 15.07.2021 abgeschoben.

Darüber hinaus leben, neben entfernten Verwandten (Cousinen und Cousins), in der Heimat noch die volljährigen Geschwister der Erstbeschwerdeführerin bzw. eine weitere Tochter und ein Sohn der Drittbeschwerdeführerin sowie deren Familienangehörige. Die Schwester der Erstbeschwerdeführerin bzw. die Tochter der Drittbeschwerdeführerin lebt in Tschetschenien mit ihrem Ehemann in einem kleinen Haus und wird von diesem versorgt. Der Bruder bzw. Sohn ist Boxer und sichert seinen Lebensunterhalt durch die Aufnahme von Gelegenheitsjobs. Es ist nicht feststellbar, dass die in der Heimat aufhältigen Familienangehörigen armutsgefährdet sind oder ihrerseits an schweren, akut lebensbedrohlichen Erkrankungen leiden würden. Es besteht Kontakt.

Die Russische Föderation verfügt über ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem. Die soziale Absicherung ist über Pensionen, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen (beispielsweise Kriegsveteranen, Menschen mit Beeinträchtigungen, Veteranen der Arbeit) und Mutterschaftsbeihilfen organisiert.

Es droht den beschwerdeführenden Parteien im Falle der Rückkehr folglich nicht, in eine ihre Existenz gefährdende Notlage zu geraten.

1.3. Zu ihren privaten- und familiären Anknüpfungspunkten zu Österreich:

1.3.1. In Österreich befinden sich noch die beiden älteren Söhne der Erstbeschwerdeführerin bzw. die älteren Brüder des Zweitbeschwerdeführers. Der Schutzstatus von XXXX wurde (allerdings) schon mit Erkenntnis des BVwG vom 15.11.2021, W226 2233016-2/8E, rechtskräftig aberkannt. Er ist ausreisepflichtig und es wurde gegen ihn (aufgrund Straffälligkeit) ein mehrjähriges befristetes Einreiseverbot verhängt.

Auch der Schutzstatus des XXXX wurde bereits von der Behörde aberkannt und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung samt mehrjährigem Einreiseverbot erlassen. Nachdem der VwGH mit Entscheidung vom 09.11.2022, Ro 2021/14/0001-6, die zurückweisende Entscheidung des BVwG vom 23.10.2020, W237 2231460-1/7E, behoben hat, ist das ihn betreffende Aberkennungsverfahren aktuell wieder beim BVwG anhängig. Er ist aktuell der gesetzliche Vertreter des Zweitbeschwerdeführers.

Im Bundesgebiet lebt ferner XXXX , die Großmutter (väterlicherseits) des Zweitbeschwerdeführers, bei welcher dieser vorübergehend wohnte bzw. welche sich zeitweise auch um dessen Obsorge kümmerte.

1.3.2. Die Erstbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihrem früheren Ehemann und ihren beiden älteren Söhnen spätestens am 28.06.2007 nach Österreich ein und stellte an eben diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher ihr hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde (siehe 1.1.3.). Ihr Gesundheitszustand hat sich im Zuge ihres Aufenthalts stetig verschlechtert; integrative Schritte wurden (daher) keine gesetzt.

Ihr jüngster Sohn, der Zweitbeschwerdeführer, wurde am 21.11.2007 in Österreich geboren. Er ist hier aufgewachsen und bis zu seiner Verhaftung im März 2022 in die Schule gegangen. Er besuchte zuletzt die dritte Klasse der Sozialpädagogischen Mittelschule XXXX , er spricht gut Deutsch. Dem Zweitbeschwerdeführer wurde in Zusammenhang mit seinen strafgerichtlichen Verurteilungen (siehe hierzu sogleich) ein Bewährungshelfer zur Seite gestellt. Er nahm die persönlichen Termine der Bewährungshilfe vor seiner Inhaftierung wahr und wurde in der Justizanstalt regelmäßig besucht. Der Zweitbeschwerdeführer wurde im Juli 2022 wieder aus der Haft entlassen. Derzeit lebt er mit seiner Mutter, der Großmutter (mütterlicherseits) und XXXX im gemeinsamen Haushalt.

Die Drittbeschwerdeführerin hält sich seit November 2015 in Österreich auf, um ihre Tochter, die Erstbeschwerdeführerin, zu betreuen. Sie verfügt über keine Deutschkenntnisse und es ist nicht bekannt, dass sie zu in Österreich aufhältigen Personen, welche nicht zum Familienkreis gehören, Kontakte pflegt.

Die beschwerdeführenden Parteien leben von der Grundversorgung.

Die Erst- und die Drittbeschwerdeführerin sind in Österreich unbescholten.

1.3.3. Der Zweitbeschwerdeführer ist im Bundesgebiet mehrfach straffällig in Erscheinung getreten:

Bereits vor seinem vierzehnten Lebensjahr hat er zahlreiche Rechtsverstöße begangen, weswegen gegen ihn nachfolgende Anzeigen erstattet wurden. Da der Zweitbeschwerdeführer zum damaligen Zeitpunkt noch nicht strafmündig war, konnte er hierfür jedoch nicht belangt werden bzw. kam es zu keinen Verurteilungen.

Mit Meldung der PI XXXX vom 13.06.2019, wurde er wegen eines Diebstahls gem. § 127 StGB vom 10.05.2019 zur Anzeige gebracht.

Mit Abschlussbericht der PI XXXX vom 08.02.2020, wurde der Zweitbeschwerdeführer zur Anzeige gebracht, weil er am 23.12.2019 durch gegenseitiges Schubsen mit XXXX in XXXX , ein Mädchen fahrlässig am Körper verletzt hat. Der Zweitbeschwerdeführer zeigte sich dazu geständig.

Mit Abschlussbericht der PI XXXX vom 09.02.2021 wurde der Zweitbeschwerdeführer zur Anzeige gebracht, weil er mit Mittätern am 26.11.2020 in XXXX einen Warenautomat an einem E-Kiosk durch Rütteln beschädigte, um an die Waren zu gelangen, ohne diese zu bezahlen, wobei ein Schaden in der Höhe von EUR 3.000,- am Automat und der dahinterliegenden Wand entstand. Der Diebstahl war erfolgreich. Auch hierzu zeige sich der Zweitbeschwerdeführer im Wesentlichen geständig, behauptete jedoch, lediglich Aufpasser-dienste geleistet zu haben.

Mit Zwischenbericht des SPK XXXX vom 30.07.2021 und Abschlussbericht des SPK XXXX vom 17.09.2021 wurde er zur Anzeige gebracht, weil er am 08.05.2021 in XXXX an einem Angriff mehrerer teilnahm, wobei das Opfer Prellungen am Kopf sowie am Ellbogen erlitt. Der Zweitbeschwerdeführer verweigerte hierzu die Aussage.

Mit Berichterstattung der PI XXXX vom 08.10.2021 und Abschlussbericht der PI XXXX vom 27.10.2021 wurde der Zweitbeschwerdeführer zur Anzeige gebracht, weil er am 08.10.2021 im XXXX , ein Panzerglas für Smartphones im Wert von EUR 16,99 zu stehlen versuchte, wobei er während des Diebstahls eine verbotene Waffe, nämlich einen Schlagring, mit sich führte. Der Diebstahl scheiterte, weil der Zweitbeschwerdeführer vom Ladendetektiv betreten wurde. Der Zweitbeschwerdeführer zeigte sich beim Ersteinschreiten hinsichtlich des Ladendiebstahls geständig, behauptete jedoch der Schlagring gehöre nicht ihm, sondern dass er diesen einem unbekannten Angreifer abgenommen hätte.

Mit Abschlussbericht der PI XXXX vom 09.10.2021 wurde der Zweitbeschwerdeführer zur Anzeige gebracht, weil er am 01.08.2021 XXXX einem Opfer räuberisch EUR 11,70 Bargeld, ein Feuerzeug der Marke Clipper im Wert von EUR 2,- und eine Zigarettenpackung entwendet hat. Der Sachverhalt wurde vom Opfer so geschildert, dass am Tag der Tatbegehung sechs bis sieben Personen im Alter von 13 bis 15 Jahren auf ihn zugekommen sind, wobei der Zweitbeschwerdeführer dem Opfer die Hand gegeben, ihn begrüßt und zeitgleich in seine Hosentasche gegriffen hat. Das Opfer versuchte dies abzuwenden, indem es die Hand des Zweitbeschwerdeführers festhielt, wobei der Zweitbeschwerdeführer die Hand weggeschlagen und neuerlich in die Hosentasche gegriffen hat. Daraufhin entfernte er sich vom Opfer, kehrte jedoch zurück, um aus der Bauchtasche eine Zigarettenpackung zu entwenden. Das Opfer versuchte neuerlich, dies zu verhindern, der Zweitbeschwerdeführer versetzte ihm jedoch einen Stoß mit dem Ellbogen gegen den Brustbereich. Der Zweitbeschwerdeführer verantwortete sich zu diesem Vorfall lediglich damit, das Bargeld bereits zurückgegeben zu haben.

Mit Berichterstattung der PI XXXX vom 29.10.2021 wurde der Zweitbeschwerdeführer zur Anzeige gebracht, weil er zwischen 16.10.2021 und 26.10.2021 XXXX an einer Erpressung partizipiert hat, wobei ein direkter Zusammenhang mit einer Raubserie in XXXX hergestellt werden konnte. Der Berichterstattung ist zu entnehmen, dass am 16.10.2021 eine unbekannte Täterschaft zwei namentlich genannte Opfer mit den Worten „Ihr müssts EUR 200,--, 10 Gramm Gras und zwei Paar Nike-Schuhe auftreiben – sonst schicke ich euch Leute und die werden euch bis ins Koma schlagen!“ erpresst hat. Die Täterschaft gab den Opfern bis zum 20.10.2021 Zeit, um der Aufforderung nachzukommen. Am 20.10.2021 trat die Täterschaft mit den Opfern fernmündlich in Kontakt und kündigte ein Wiedersehen am 26.10.2021 an. Am 24.10.2021 kam es am XXXX zu einer Körperverletzung, wobei der Zweitbeschwerdeführer einem der Opfer eine Ohrfeige versetzte und es dazu nötigte, sich bei Ihnen und einer bislang unbekannten Person zu entschuldigen. Gleichzeitig wurde das zweite (weibliche) Opfer festgehalten und mit den Worten „Wenn du jetzt wegrennst, dann schlagen wir dich bis zum Koma – wir werden zu dir heimfahren und deine Familie abstechen.“ genötigt. Am 26.10.2021 kam es schließlich zur angekündigten Körperverletzung am Bahnhof Seekirchen, wobei der Zweitbeschwerdeführer beiden Opfern mehrere Faustschläge gegen den Gesichtsbereich sowie Fußtritte gegen den Rumpf versetzte.

Mit Abschlussbericht der PI XXXX vom 29.10.2021 wurde der Zweitbeschwerdeführer zur Anzeige gebracht, weil er am 04.07.2021 XXXX ein Plakat von einem Plakatständer gerissen und anschließend angezündet hat. Er zeigte sich nicht geständig.

Mit Abschlussbericht der PI XXXX vom 13.01.2022 wurde der Zweitbeschwerdeführer zur Anzeige gebracht, weil er am 16.10.2021 XXXX die Kopfhörer inkl. Ladehülle der Marke „Apple – Air Pod Pro“ im Wert von EUR 249,89 aus der Tasche seines Opfers gestohlen haben soll. Zwar leugnete er die Tat und verlief auch eine Durchsuchung der Tasche und der Oberbekleidung negativ, jedoch konnten die Kopfhörer geortet und in seinem unmittelbaren Nahbereich aufgefunden werden.

In zahlreichen polizeilichen Schriftstücken wurde ferner von der führenden Teilnahme des Zweitbeschwerdeführers an einer Raubserie XXXX berichtet. Im Wesentlichen wird ihm dabei zur Last gelegt, dass er im Zeitraum zwischen 03.10.2021 und 24.10.2021 im Bezirk XXXX an einer Vielzahl an Raubstraftaten zum Nachteil einer Opfermehrheit führend beteiligt war bzw. teils als Einzeltäter auftrat, wobei er und seine Mittäter durch besondere Brutalität und Rücksichtslosigkeit auffielen, erhebliche physische Gewalt gegen Ihre Opfer ausübten und diese auch mit dem Tod – teilweise unterstützt durch einen Schlagring – bedrohten bzw. durch Ohrfeigen und dergleichen erniedrigten. Teilweise wurden Bargeld und Wertgegenstände unmittelbar abgenötigt, teilweise wurden Opfer, welche kein Bargeld mit sich führten, gezwungen, Geld bei Bankomaten abzuheben und dem Zweitbeschwerdeführer in weiterer Folge auszuhändigen. Den Opfern wurden „Konsequenzen“ angedroht, falls diese sich an die Polizei wenden sollten.

Nach Erreichen der Strafmündigkeit wurde der Zweitbeschwerdeführer sodann erstmals mit Urteil des Landedesgericht XXXX vom 29.06.2022, HV 29/2002y, wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB, des Verbrechens des Rubes nach den §§ 15 Abs. 1, 142 Abs. 1 StGB, des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB, des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB, des Vergehens der Körperverletzung nach den §§ 15 Abs. 1, 83 Abs. 1 StGB, des Vergehens nach § 50 Abs. 1 Z 3 WaffenG und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB unter Anwendung der §§ 28 Abs. 1 StGB und 5 Z 4 JGG (Jungendstraftat) nach § 142 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 18 (achtzehn) Monaten rechtskräftig verurteilt; wobei der Vollzug eines Teils der verhängten Strafe im Ausmaß von zwölf Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass

A. am 14.03.2022 auf der Zugfahrt von XXXX 1. der Zweitbeschwerdeführer und XXXX im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter XXXX durch wiederholtes Stoßen und Festhalten am Aussteigen aus einem Zug gehindert und dadurch einen anderen mit Gewalt zu einer Unterlassung genötigt haben; 2. der Zweitbeschwerdeführer und genannter Mittäter im bewussten und gewollten Zusammenwirken dadurch, dass sie XXXX wiederholt auf einen Spielplatz im Zug schubsten und festhielten, XXXX den XXXX aufforderte, ihm dessen Jacke zu geben, ansonsten er Schläge bekommen, er ihn am Hauptbahnhof bis zur Unterhose ausziehen und alle seine Klamotten nehmen werde, der Zweitbeschwerdeführer zeitgleich vom genannten Opfer forderte, diesen sehr fest am Gürtel packte und versuchte diesem Geld wegzunehmen, wobei er dem Opfer sodann eine Ohrfeige ins Gesicht versetzte, als er von diesem kein Geld bekam, sohin mit Gewalt und durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben (§ 89 StGB) einem anderen eine fremde bewegliche Sache mit Vorsatz weggenommen oder abgenötigt haben, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wobei die Tat beim Versuch geblieben ist;

B. am 17.03.2022 in XXXX der Zweitbeschwerdeführer und XXXX im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter XXXX durch das Versetzen von Schlägen und Tritten, sohin mit Gewalt, eine fremde bewegliche Sache, nämlich Airpods und eine Tasche, mit dem Vorsatz weggenommen oder abgenötigt haben, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wobei die Tat in Bezug auf die Tasche beim Versuch geblieben ist;

C. am 09. Februar 2022 in XXXX der Zweitbeschwerdeführer den XXXX durch einen Tritt in dessen Genitalbereich, einen Kopfstoß gegen dessen Nase und zwei Schläge mit der flachen Hand in dessen Gesicht in Form von starken Schmerzen im Genitalbereich und einer Rötung und/oder Gesichtsprellung am Körper verletzt hat;

D. am 26. Februar 2022 in XXXX der Zweitbeschwerdeführer nachangeführte Personen mit einem Elektroschocker (Taser) am Körper verletzt oder an der Gesundheit geschädigt hat, und zwar 1. XXXX , wobei es beim Versuch geblieben ist, und 2. XXXX , wobei dieser für zumindest 15 Minuten Schmerzen hatte;

E. am 26. Februar 2022 in XXXX der Zweitbeschwerdeführer dadurch, dass er an diesem Tag einen Elektroschocker, sohin eine Waffe, mit sich führte ebendiese besaß, obwohl ihm dies gemäß § 12 WaffG verboten war;

F. am 06. März 2022 in XXXX der Zweitbeschwerdeführer dadurch, dass er XXXX bedrohlich ansah und sodann einen Bekannten aufforderte „gib mir ein Messer“, einen anderen mit zumindest einer Körperverletzung gefährlich bedrohte, um ihn in Furcht und Unruhe zu versetzen.

Mit Urteil des Landesgericht XXXX vom 25.08.2022, HV 62/2022a, wurde der Zweitbeschwerdeführer ferner wegen des Verbrechens der Erpressung nach den §§ 144 Abs. 1 und 15 Abs. 1 StGB unter Anwendung des § 5 Z 4 JGG nach § 144 Abs. 1 StGB zu einer (bedingt nachgesehenen) zusätzlichen Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten verurteilt.

Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der Zweitbeschwerdeführer XXXX mit Vorsatz sich durch das Verhalten des Genötigten unrechtmäßig zu bereichern, durch gefährliche Drohung mit einer Verletzung am Körper, zu einer Handlung genötigt hat, die diesen oder einen anderen am Vermögen geschädigt hat bzw schädigen sollte, nämlich zur Bezahlung von „Schutzgeld“ in Höhe von EUR 300,00 pro Monat, und zwar 1.am 26. Februar 2022 in XXXX durch die Äußerung, sein Opfer müsse ihm jeden Monat EUR 300,00 geben, sonst passiere ihm etwas, wobei es in Bezug auf EUR 200,00 beim Versuch geblieben ist; 2.am 02. März 2022 in XXXX durch die Äußerung gegenüber XXXX , dem Vater des zuvor genannten Opfers, seine Gruppe werde seinen Sohn im Falle einer Schlägerei nur dann beschützen, wenn dieser das Schutzgeld bezahle, womit er sinngemäß die Verwicklung ebendieses in eine Schlägerei mit dem Zweitbeschwerdeführer und seiner Gruppe und damit zumindest eine Verletzung am Körper angedroht hat.

Bei der Strafzumessung zu den angeführten Urteilen wurde der bisher ordentliche Lebenswandel, das weitreichende Geständnis, der Umstand, dass es zum Teil beim Versuch geblieben ist und die teilweise Schadensgutmachung durch Sicherstellung der Airpods als mildernd gewichtet. Erschwerend wertete das Straflandesgericht demgegenüber das Zusammentreffen von dreier Verbrechen mit sechs Vergehen, die Tatbegehung trotz Anhängigkeit eines Verfahrens; sowie die führende Rolle des Zweitbeschwerdeführers bei den Raubfakten.

Schließlich liegen den Zweitbeschwerdeführer betreffend auch folgende verwaltungsstrafrechtliche Verurteilungen vor:

Mit Strafverfügung der XXXX vom 20.12.2021, GZ VStV/921302199186/2021, wurde gegen ihn eine Geldstrafe in der Höhe von EUR 200,- verhängt, weil er am 10.12.2021 XXXX mit Böllern schoss, obwohl er keine entsprechende Bewilligung besaß und er dadurch §§ 40 Abs 1, 29 Abs 1 PyroTG verletzt hat.

Mit Strafverfügung der XXXX vom 18.03.2022, Zl. VStV/922300513615/2022, wurde er zudem nach § XXXX Landessicherheitsgesetz bestraft, weil er Polizisten vor mehreren Personen mit dem Schimpfwort „Es Pisser“ bedachte und angab, „ich scheiße auf die österreichischen Gesetze“.

Am 02.11.2022 erstattete die XXXX gegen den Zweitbeschwerdeführer (erneut) Anzeige gemäß § XXXX Landessicherheitsgesetz; da er am 31.10.2022 (Halloweennacht) durch den Gebrauch von Schimpfwörtern an einem allgemein zugänglichen Ort den öffentlichen Anstand verletzt haben soll.

Zuletzt wurde gegen ihn am 29.11.2022 seitens der Staatsanwaltschaft XXXX eine Anklage nach § 270 Abs 1 StGB erhoben; da er am 26.11.2022 XXXX dadurch, dass er XXXX einen starken Stoß mit einer seiner Handfläche gegen die linke Brust versetzte, wodurch genannte Person aus dem Gleichgewicht gebracht und einen Meter nach hinten versetzt wurde, einen Beamten während einer Amtshandlung tätlich angegriffen haben soll.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:

„Auszüge aus den Länderinformation der Staatendokumentation zur Russischen Föderation, Version 10 (Letzte Änderung: 12.09.2022)

Die vorliegende Länderinformation zur Russischen Föderation verwendet die beiden gängigen Länderbezeichnungen Russland (Rossija) und Russische Föderation (Rossijskaja Federazija) synonym. Präziser wäre die Übersetzung Russländische Föderation, welche allerdings weniger gebräuchlich ist.

Da es sich bei den Nordkaukasus-Republiken (z. B. Tschetschenien, Dagestan) um Subjekte (Gebietseinheiten) der Russischen Föderation handelt, werden diese nicht mehr im Rahmen eigenständiger Länderinformationen abgehandelt, sondern in die vorliegende Länderinformation zur Russischen Föderation integriert. Wo es Unterschiede gibt, wurden Unterkapitel zu den einzelnen Subjekten oder (in zusammenfassender Form) zum Nordkaukasus geschaffen. Zu Inguschetien werden – auch nach Absprache mit dem BVwG – keine Informationen mehr in die vorliegende Länderinformation übernommen, weil die Anzahl der Asylwerber zu gering ist. Sollten Informationen zu Inguschetien benötigt werden, ist eine konkrete Anfrage an die Staatendokumentation zu stellen.

Hinweis zu COVID-19:

Zur aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Webseiten, deren Zahlen täglich aktualisiert werden, zu kontaktieren:

https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports (WHO)

https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 (Johns-Hopkins-Universität)

 Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. § 3 Abs. 4a AsylG

Letzte Änderung: 12.09.2022

Bei der Erstellung der vorliegenden Länderinformation wurde die im § 3 Abs. 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse „wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind“, berücksichtigt. Hierbei wurden die vorliegende Länderinformation mit vorhergehenden Länderinformationen abgeglichen und auf relevante, im o. g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.

Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer - durch Qualitätssicherung abgesicherten - Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation) zur betroffenen Thematik.

(…)

 COVID-19-Situation

Letzte Änderung: 01.09.2022

In Teilen der Russischen Föderation bestehen aufgrund der Regionalisierung von COVID-19-Schutzmaßnahmen noch Einschränkungen (AA 5.8.2022; vgl. RAD 15.2.2021). Die Hygienemaßnahmen wurden großteils zurückgenommen (WKO 25.7.2022). Für öffentlich zugängliche Räume ist das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes empfohlen (AA 5.8.2022; vgl. RFE/RL 1.7.2022). In Einzelfällen bestehen noch Zugangsvoraussetzungen (mit QR-Code) für Restaurants oder Hotels (AA 5.8.2022). Es müssen keine verpflichtenden Temperaturmessungen oder COVID-Tests am Arbeitsplatz mehr durchgeführt werden. Auch die teilweise Fernarbeitspflicht ist beendet (WKO 25.7.2022).

Zu den Impfstoffen, welche in der Russischen Föderation entwickelt wurden und dort eingesetzt werden, zählen: Gam-COVID-Vac (Sputnik V), EpiVacCorona, Sputnik Light, EpiVacCorona-N, Covivac, Salnavac, Konwasel und Ad5-nCoV (CWRR o.D.b). Vollständig geimpft sind 89.423.801 Personen (CWRR 12.8.2022). COVID-Impfungen sind ab einem Alter von 12 Jahren möglich (RFE/RL 9.2.2022; vgl. CWRR o.D.a) und für russische Staatsbürger kostenlos (Iswestija 1.7.2022; vgl. ÖB 30.6.2021). Für die Einreise nach Russland wird grundsätzlich ein COVID-19-Testergebnis (PCR) benötigt. Russische Staatsbürger, die mit einem in Russland zugelassenen Impfstoff geimpft sind, sowie genesene russische Staatsbürger dürfen ohne PCR-Test und Quarantäne nach Russland einreisen. Impfnachweise dürfen max. 12 Monate alt sein und Genesungsnachweise max. 6 Monate (WKO 25.7.2022). Der europäische Impfnachweis wird nicht anerkannt (AA 5.8.2022).

Moskau:

In der Hauptstadt Moskau sowie im Moskauer Gebiet wurden die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Maske auf öffentlichen Plätzen sowie die Abstandsregelungen abgeschafft (Russland-Analysen 11.4.2022).

Tschetschenien:

In Tschetschenien wurden alle COVID-Beschränkungen aufgehoben (Ria.ru 11.3.2022).

Dagestan:

Das Tragen einer Maske wird empfohlen. An öffentlichen Orten gilt Maskenpflicht für Personen über 60 Jahren, chronisch Kranke und Ungeimpfte. Es wird empfohlen, die Teilnehmeranzahl bei Veranstaltungen in geschlossenen Räumen auf 500 Personen zu beschränken (KK 13.8.2022). Die Verpflichtung zur Durchführung einer Desinfektion besteht weiterhin (KK 7.6.2022). Insgesamt wurden in Dagestan bislang 1.576.793 Personen (50,19 % der Gesamtbevölkerung) geimpft (E-dag.ru 25.7.2022).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.8.2022): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536 , Zugriff 19.8.2022

 CWRR – COVID-19-Webseite der Regierung [Russland] (12.8.2022): Вакцинация от COVID-19 [COVID-19-Impfung], https://стопкоронавирус.рф/information/, Zugriff 19.8.2022

 CWRR – COVID-19-Webseite der Regierung [Russland] (o.D.a): Часто задаваемые вопросы [FAQ], https://стопкоронавирус.рф/faq/, Zugriff 19.8.2022

 CWRR – COVID-19-Webseite der Regierung [Russland] (o.D.b): Все о вакцинации против COVID-19 [Alles über die COVID-19-Impfung], https://вакцина.стопкоронавирус.рф/, Zugriff 19.8.2022

 E-dag.ru – 'Mein Dagestan' (Moj Dagestan) / Offizielle Webseite Dagestans [Russland] (25.7.2022): Информация о проведении вакцинации населения Республики Дагестан против COVID-19 [Information über COVID-19-Impfung der Bevölkerung der Republik Dagestan], https://mydagestan.e-dag.ru/vaccination-against-covid-19/ , Zugriff 25.7.2022

 Iswestija (1.7.2022): Минздрав продолжит оформлять сертификаты о вакцинации против COVID-19 [Gesundheitsministerium stellt weiterhin COVID-19-Impfzertifikate aus], https://iz.ru/1358412/2022-07-01/minzdrav-prodolzhit-oformliat-sertifikaty-o-vaktcinatcii-protiv-covid-19 , Zugriff 25.7.2022

 KK – Kaukasischer Knoten (13.8.2022): Дагестанские активисты усомнились в необходимости ужесточения антиковидных мер [Aktivisten aus Dagestan bezweifelten Notwendigkeit der Verschärfung von Anti-COVID-Maßnahmen], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/380112/ , Zugriff 29.8.2022

 KK – Kaukasischer Knoten (7.6.2022): Масочный режим отменен в Дагестане [Maskenpflicht in Dagestan gefallen], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/377927/ , Zugriff 25.7.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2021): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2021 (Stand 30.6.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.7.2022

 RAD – Russian Analytical Digest (Nr. 263) (15.2.2021): Mitigating the Social Consequences of the COVID-19 Pandemic: Russia’s Social Policy Response, https://css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/RAD263.pdf#page=12 , Zugriff 17.2.2022

 RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (1.7.2022): Russia Ends All Public Anti-COVID Restrictions, https://www.rferl.org/a/russia-ends-all-covid-restrictions/31924567.html , Zugriff 25.7.2022

 RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (9.2.2022): Russia’s Daily COVID-19 Infection Rate Hits Record Again, https://www.rferl.org/a/russia-covid-new-record/31694474.html , Zugriff 17.2.2022

 Ria.ru – RIA Nowosti (11.3.2022): В Чечне сняли все ограничения по коронавирусу [In Tschetschenien alle COVID-Beschränkungen aufgehoben], https://ria.ru/20220311/chechnya-1777599119.html , Zugriff 25.7.2022

 Russland-Analysen (Nr. 418) (11.4.2022): Chronik 14.-18.3.2022, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/418/RusslandAnalysen418.pdf , Zugriff 25.7.2022

 WKO – Wirtschaftskammer Österreich (25.7.2022): Coronavirus: Situation in Russland, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-info-russland.html , Zugriff 25.7.2022

 Politische Lage

Letzte Änderung: 06.10.2022

Russland ist eine Präsidialrepublik mit föderativem Staatsaufbau (AA 1.10.2021a). Das Regierungssystem Russlands wird als undemokratisch (autokratisch) bzw. autoritär eingestuft (BS 2022; vgl. Economist 9.2.2022, UG 3.2022, FH o.D., Russland-Analysen 1.10.2021a). Der in der Verfassung vorgesehenen Gewaltenteilung steht in der Praxis die alle Bereiche dominierende zentrale Rolle des Staatspräsidenten gegenüber. Dieser kann die Regierung entlassen und hat weitreichende Vollmachten in der Außen- und Sicherheitspolitik (AA 1.10.2021b). Der Staatspräsident ernennt (nach Bestätigung durch die Staatsduma) den Vorsitzenden der Regierung und entlässt ihn. Der Präsident leitet den Sicherheitsrat der Russischen Föderation und schlägt dem Föderationsrat die neuen Mitglieder der Höchstgerichte sowie anderer Gerichtshöfe vor. Der Präsident ernennt nach Beratung mit dem Föderationsrat den Generalstaatsanwalt und Staatsanwälte und entlässt sie. Darüber hinaus ernennt und entlässt er die Vertreter im Föderationsrat, bringt Gesetzesentwürfe ein, löst die Staatsduma auf und ruft den Kriegszustand aus (RI 4.7.2020). Seit dem Jahr 2000 wird das Präsidentenamt (mit einer Unterbrechung von 2008 bis 2012) von Wladimir Putin bekleidet (BS 2022). Der Präsident der Russischen Föderation wird für eine Amtszeit von 6 Jahren von den Bürgern direkt gewählt (RI 4.7.2020). Die letzte Präsidentschaftswahl fand am 18.3.2018 statt. Ein echter Wettbewerb fehlte. Auf kritische Stimmen wurde Druck ausgeübt (OSZE 6.6.2018). Putins einflussreicher Rivale Alexej Nawalnyj durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Nawalnyj war zuvor in einem als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden (FH 28.2.2022). Es wurden Transparenzmängel bei der Präsidentenwahl 2018 festgestellt (OSZE 6.6.2018). Die Geldquellen für Putins Wahlkampagne waren undurchsichtig (FH 28.2.2022). Auch kam es zu Unregelmäßigkeiten hinsichtlich der Einhaltung des Wahlgeheimnisses. Die Wahlbeteiligung lag laut der Zentralen Wahlkommission bei 67,47 %. Als Sieger der Präsidentenwahl 2018 ging Putin mit 76,69 % der abgegebenen Stimmen hervor (OSZE 6.6.2018). Regierungsvorsitzender sowie Stellvertreter des Staatsoberhaupts ist Michail Mischustin (AA 1.10.2021a).

Die Verfassung der Russischen Föderation wurde per Referendum am 12.12.1993 angenommen. Am 1.7.2020 fand eine Volksabstimmung über eine Verfassungsreform statt (RI 4.7.2020). Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65 % der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78 % für und mehr als 21 % gegen die Verfassungsänderungen (KAS 7.2020; vgl. BPB 2.7.2020). Die Verfassungsänderungen ermöglichen Putin, für zwei weitere Amtsperioden als Präsident zu kandidieren. Diese Regelung gilt nur für Putin und nicht für andere zukünftige Präsidenten (FH 28.2.2022). Unter anderem erhält durch die jüngste Verfassungsreform das russische Recht Vorrang vor internationalem Recht. Weitere Verfassungsänderungen betreffen beispielsweise Betonung traditioneller Familienwerte sowie die Definition Russlands als Sozialstaat. Dies verleiht der Verfassung einen sozial-konservativen Anstrich. Die Verfassungsreform und der Verlauf der Volksabstimmung sorgten in Russland und international für Kritik (KAS 7.2020; vgl. BPB 2.7.2020, RI 4.7.2020).

Der Einfluss des Zweikammerparlaments, bestehend aus der Staatsduma (Unterhaus) und dem Föderationsrat (Oberhaus), ist beschränkt (USDOS 12.4.2022; vgl. FH 28.2.2022, RI 4.7.2020). Die Mitglieder des Föderationsrates werden normalerweise für eine Amtszeit von 6 Jahren ernannt (mit Ausnahme der auf Lebenszeit ernannten Mitglieder). Zu den Kompetenzen des Föderationsrats gehören: Bestätigung des präsidentiellen Erlasses (Ukas) über die Verhängung des Ausnahmezustands und des Kriegszustands; Amtsenthebung des Präsidenten (RI 4.7.2020). Die 450 Mitglieder der Duma werden für eine Amtszeit von 5 Jahren direkt gewählt (USDOS 12.4.2022; vgl. FH 28.2.2022, RI 4.7.2020). Es gibt eine Fünfprozenthürde (OSZE 25.6.2021; vgl. Ria.ru 6.10.2021). Duma-Wahlen beruhen auf einem gemischten Wahlsystem. Die Hälfte der Duma-Mitglieder wird durch Verhältniswahlsystem (Parteilisten), die andere Hälfte durch Einerwahlkreise (Direktmandat) gewählt (FH 28.2.2022; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021a, KAS 21.9.2021). Die letzten Dumawahlen fanden im September 2021 statt und waren laut Wahlbeobachtern und unabhängigen Medien von beträchtlichen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet, darunter Stimmenkauf, Fälschung von Wahlprotokollen und Druck auf Wähler (FH 28.2.2022; vgl. SWP 14.10.2021, Russland-Analysen 1.10.2021a, KAS 21.9.2021). Im Allgemeinen ist Wahlbetrug weitverbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BS 2022). Laut der Zentralen Wahlkommission betrug die Wahlbeteiligung 52 % (FH 28.2.2022; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021a, Ria.ru 6.10.2021). Mit großem Vorsprung gewann die Regierungspartei Einiges Russland die Wahl, so das offizielle Wahlergebnis (FH 28.2.2022). Einiges Russland verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, welche erforderlich ist, um Verfassungsänderungen durchzusetzen. Vier weiteren Parteien gelang der Einzug ins Parlament, welche allesamt als kremltreue 'System-Opposition' bezeichnet werden (SWP 14.10.2021). Viele regimekritische Kandidaten waren von der Wahl ausgeschlossen worden (SWP 14.10.2021; vgl. Russland-Analysen 1.10.2021a). Anti-System-Oppositionsbewegungen wurden verboten bzw. zur Selbstauflösung gezwungen (KAS 21.9.2021). Aktuell sieht die Sitzverteilung der Parteien in der Staatsduma folgendermaßen aus (Duma o.D.):

 Einiges Russland (Edinaja Rossija): 325 Sitze (Parteivorsitzender Wladimir Wasilew)

 Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF): 57 Sitze (Parteivorsitzender Gennadij Sjuganow)

 sozialistische Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' (Sprawedliwaja Rossija - Patrioty - Sa Prawdu): 28 Sitze (Parteivorsitzender Sergej Mironow)

 Liberal-Demokratische Partei Russlands (LDPR): 23 Sitze (Parteivorsitzender Leonid Sluzkij)

 Neue Leute (Nowye Ljudi): 15 Sitze (Parteivorsitzender Aleksej Netschaew)

 2 Duma-Abgeordnete gehören keiner Fraktion an (Duma o.D.).

Die LDPR ist antiliberal-nationalistisch-rechtspopulistisch ausgerichtet (SWP 14.10.2021; vgl. KAS 21.9.2021). Die Partei Neue Leute wurde im Jahr 2020 gegründet und ist eine liberale Mitte-Rechts-Partei. Die Partei 'Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit' vertritt sozialpatriotische Inhalte (KAS 21.9.2021).

Die föderale Struktur der Russischen Föderation ist in der russischen Verfassung festgeschrieben. Der Status von Föderationssubjekten kann in beiderseitigem Einvernehmen zwischen der Russischen Föderation und dem betreffenden Föderationssubjekt im Einklang mit dem föderalen Verfassungsgesetz geändert werden (Art. 66 der Verfassung) (RI 4.7.2020). Russland besteht aus 83 Föderationssubjekten. Föderationssubjekte verfügen über eine eigene Legislative und Exekutive, sind aber weitgehend vom föderalen Zentrum abhängig (AA 1.10.2021b). Es besteht ein Trend der zunehmenden Zentralisierung des russischen Staates. Moskau sichert sich die Unterstützung der regionalen Eliten durch gezielte Zugeständnisse (ZOIS 3.11.2021). Im September 2021 fanden parallel zur Parlamentswahl regionale Wahlen statt. Die Bürger wählten Gouverneure von neun Subjekten sowie 39 Regionalparlamente (Russland-Analysen 1.10.2021b; vgl. Tass 20.9.2021).

Die 2014 erfolgte Annexion der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol durch Russland ist international nicht anerkannt (AA 1.10.2021b). Am 21.2.2022 wurden die nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete der ukrainischen Regionen Donezk und Lugansk von Putin als unabhängig anerkannt. Am 24.2.2022 startete Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine (EU-Rat 16.8.2022). Im September 2022 fanden in den beiden ukrainischen 'Volksrepubliken' Donezk und Lugansk sowie in den ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja 'Referenden' über den Beitritt zur Russischen Föderation statt. Laut den offiziellen Wahlergebnissen stimmten in der 'Volksrepublik' Donezk 99,23 % der Wähler für einen Beitritt, in der 'Volksrepublik' Lugansk 98,42 %, in Cherson 87,05 % und in Saporischschja 93,11 % (Lenta 27.9.2022). Die 'Referenden' in den vier von Russland besetzten ukrainischen Gebieten werden von den Vereinten Nationen als völkerrechtswidrig bezeichnet und international nicht anerkannt (UN 27.9.2022; vgl. Standard 30.9.2022). Die Abstimmung fand nicht nur in Wahllokalen statt, sondern prorussische De-facto-Behörden gingen außerdem mit den Wahlurnen und in Begleitung von Soldaten von Tür zu Tür (UN 27.9.2022). Die 'Stimmabgaben' erfolgten unter Zwang und unter Zeitdruck (Rat 28.9.2022). Demokratische Mindeststandards wurden nicht eingehalten (Standard 30.9.2022). Die 'Referenden' missachteten die ukrainische Verfassung sowie Gesetze und spiegeln nicht den Willen der Bevölkerung wider (UN 27.9.2022). Nach dem Ende der Scheinreferenden baten die Anführer der prorussischen Separatisten in den ukrainischen Regionen Lugansk und Cherson den russischen Präsidenten Putin um Annexion dieser Regionen (NDR/Tagesschau.de 28.9.2022). Am 29.9.2022 wurde die 'staatliche Souveränität' und 'Unabhängigkeit' der Regionen Cherson und Saporischschja von Putin per Erlass anerkannt (RI 30.9.2022a; vgl. RI 30.9.2022b). Im Kreml in Moskau fand am 30.9.2022 die Unterzeichnung der Verträge zum Russland-Beitritt der 'Volksrepubliken' Donezk und Lugansk sowie der Regionen Saporischschja und Cherson statt (Kremlin.ru 30.9.2022). Am 3. und 4.10.2022 stimmten die beiden russischen Parlamentskammern der Annexion zu (Tass 4.10.2022). International wird die Annexion dieser vier ukrainischen Gebiete nicht anerkannt (Standard 30.9.2022).

Russland begeht im Krieg gegen die Ukraine schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung (OHCHR 5.7.2022; vgl. HRW 21.4.2022). Als Reaktion auf diese Vorgänge verhängte die EU Sanktionen gegen Russland, nämlich: Wirtschaftssanktionen; Aussetzung der Visaerleichterungen für russische Diplomaten sowie andere russische Beamte und Geschäftsleute; Sanktionen gegen Mitglieder der Staatsduma, gegen Putin, den Außenminister Sergej Lawrow, gegen Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats und gegen weitere Personen (EU-Rat 16.8.2022). Sanktionen gegen Russland verhängten außerdem u. a. die USA, Kanada, Großbritannien, Japan (WZ 27.6.2022) und die Schweiz (SW 3.8.2022).

Quellen:

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 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (1.10.2021b): Russische Föderation: Politisches Porträt, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710 , Zugriff 5.8.2022

 BPB – Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (2.7.2020): Verfassungsreferendum in Russland, https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/312075/verfassungsreferendum-in-russland/ , Zugriff 5.8.2022

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 OSZE – Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (6.6.2018): Russian Federation: Presidential Election 18 March 2018 - ODIHR Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/files/f/documents/2/4/383577_0.pdf , Zugriff 5.8.2022

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 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (30.9.2022a): Указ Президента Российской Федерации от 29.09.2022 № 686 'О признании Херсонской области' [Erlass (Ukas) des Präsidenten der Russischen Föderation vom 29.09.2022, № 686, 'Über die Anerkennung der Region Cherson’], publication.pravo.gov.ru/File/GetFile/0001202209300002?type=pdf , Zugriff 3.10.2022

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 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (4.7.2020): Конституция Российской Федерации [Verfassung der Russischen Föderation], http://publication.pravo.gov.ru/File/GetFile/0001202007040001?type=pdf , Zugriff 13.7.2022

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 Tschetschenien

Letzte Änderung: 29.08.2022

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen (FR o.D.b). Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrov sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat ein Teil dieser Personen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, beim anderen Teil handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB 30.6.2021).

Kadyrov ist seit dem Jahr 2007 in Tschetschenien an der Macht (Dekoder 10.2.2022). Er kämpfte im ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996) aufseiten der Unabhängigkeitsbefürworter. Im zweiten Tschetschenienkrieg (1999-2009) wechselte Kadyrov die Seite (ORF 30.3.2022). In Tschetschenien gilt Kadyrov als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB 30.6.2021; vgl. AA 21.5.2021, FH 28.2.2022, RFE/RL 3.2.2022, HRW 9.2.2022). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt (ÖB 30.6.2021). Kadyrov bekundet jedoch immer wieder seine absolute Treue gegenüber dem Kreml (ÖB 30.6.2021; vgl. SZ 3.3.2022). Beobachter stufen Tschetschenien zunehmend als Staat im Staat ein, in dem das Moskauer Gewaltmonopol vielfach unwirksam ist (Dekoder 10.2.2022). Kadyrov besetzt hohe Posten in Tschetschenien mit Familienmitgliedern (KK 15.3.2022). Das Republikoberhaupt ist für die Regierungsbildung zuständig. Die Regierung ist dem Republikoberhaupt gegenüber rechenschaftspflichtig (FR o.D.b). Premierminister Tschetscheniens ist Muslim Chučiev (KR 9.5.2022). Tschetschenien ist von Moskau finanziell abhängig. Mehr als 80 % des Budgets stammen aus Zuwendungen (ORF 30.3.2022).

Die Gesetzgebung wird vom Parlament Tschetscheniens ausgeübt. Das Parlament besteht aus 41 Abgeordneten, welche mittels Verhältniswahl gewählt werden (FR o.D.b). Bei der Dumawahl im September 2021 gewann die Partei Einiges Russland in Tschetschenien 96,13 % der Stimmen. Die Partei "Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit" errang 0,93 %, die Kommunistische Partei (KPRF) 0,75 %, Neue Leute 0,24 %, und die Liberal-Demokratische Partei (LDPR) gewann 0,11 % der Stimmen. Die Wahlbeteiligung betrug 94,42 % (Russland-Analysen 1.10.2021c; vgl. Ria.ru 6.10.2021). Zeitgleich fand in Tschetschenien die Direktwahl des Republikoberhauptes statt (Ria.ru 21.9.2021; vgl. FR o.D.b). Dessen reguläre Amtszeit beträgt fünf Jahre (FR o.D.b). Kadyrov, welcher die Partei Einiges Russland präsentierte, gewann 99,7 % der Stimmen. Der Kandidat der Kommunistischen Partei errang 0,12 % und der Kandidat der Partei Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit 0,15 % (Ria.ru 21.9.2021). Vor allem im Nordkaukasus ist Wahlbetrug weitverbreitet (BS 2022).

Tschetschenische Sicherheitskräfte gehen rigoros gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige vor (ÖB 30.6.2021). Prekär ist auch die Lage von Regimekritikern und Oppositionspolitikern (AA 21.5.2021). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrov unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 28.2.2022; vgl. AA 21.5.2021, ER 3.6.2022). Solche Handlungen finden manchmal auch außerhalb Russlands statt. Kadyrov wird verdächtigt, die Ermordung von beispielsweise politischen Gegnern, welche im Exil leben, angeordnet zu haben (FH 28.2.2022). Kadyrov wurde von der Schweiz, Kanada, der EU und den USA mit Sanktionen belegt (KK 15.3.2022; vgl. OFAC 8.8.2022, EUR-Lex 25.7.2014).

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 BS – Bertelsmann Stiftung (2022): BTI (Bertelsmann Transformation Index) 2022 Country Report: Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069600/country_report_2022_RUS.pdf , Zugriff 25.7.2022

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 EUR-Lex (EU-Rechtsdatenbank) (25.7.2014): COUNCIL IMPLEMENTING REGULATION (EU) No 810/2014 of 25 July 2014 implementing Regulation (EU) No 269/2014 concerning restrictive measures in respect of actions undermining or threatening the territorial integrity, sovereignty and independence of Ukraine, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/GA/TXT/?uri=CELEX%3A32014R0810 , Zugriff 10.8.2022

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 KK – Kaukasischer Knoten (15.3.2022): Кадыров Рамзан Ахматович [Kadyrov Ramzan Achmatovič], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/85366 , Zugriff 10.8.2022

 KR – Kavkaz.Realii (9.5.2022): Премьер-министр Чечни уже месяц исполняет обязанности Кадырова [Premierminister Tschetscheniens vertritt seit bereits einem Monat Kadyrov], https://www.kavkazr.com/a/premjer-ministr-chechni-uzhe-mesyats-ispolnyaet-obyazannosti-kadyrova/31840824.html , Zugriff 10.8.2022

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 Ria.ru – RIA Novosti (6.10.2021): Итоги выборов в Госдуму — 2021 [Staatsduma-Wahlergebnisse 2021], https://ria.ru/20210919/vybory_gosduma-1749875690.html , Zugriff 5.8.2022

 Ria.ru – RIA Novosti (21.9.2021): Итоги выборов глав регионов России [Wahlergebnisse der regionalen Oberhäupter Russlands], https://ria.ru/20210919/vybory_gubernatorov-1749880926.html , Zugriff 9.8.2022

 Russland-Analysen (Nr. 407) (1.10.2021c): Sonntagsfrage und Ergebnis der Wahl zur Staatsduma 2021, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/407/RusslandAnalysen407.pdf , Zugriff 5.8.2022

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 Dagestan

Letzte Änderung: 29.08.2022

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 13.1.2020; vgl. FR o.D.a) und zählt zu den ärmeren Regionen Russlands (Standard 21.5.2022). Es herrscht Unsicherheit bei der Lebensmittelversorgung. Dagestan wird in beträchtlichem Ausmaß subventioniert (FPRI 15.6.2022). Die Republik am Kaspischen Meer ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten bessergestellt als Tschetschenien. Die Kontrolle der Zivilgesellschaft ist in Dagestan weniger ausgeprägt. Auch die Menschenrechtslage in Dagestan ist grundsätzlich besser als im benachbarten Tschetschenien, obwohl auch in Dagestan mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einhergehen, darunter Entführungen und Verschwindenlassen (AA 21.5.2021).

Das Republikoberhaupt ist Sergej Melikow (FR o.D.a). Im Oktober 2020 wurde er zum stellvertretenden Oberhaupt der Republik ernannt, und im Oktober 2021 wurde er zum Republikoberhaupt gewählt (KK 14.10.2021). Das Oberhaupt Dagestans wird von den Abgeordneten der Volksversammlung für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Die Gesetzgebung liegt in den Händen der Volksversammlung Dagestans. Diese besteht aus 90 Abgeordneten, welche durch Verhältniswahlrecht für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt werden (FR o.D.a). Bei der Dumawahl im September 2021 gewann die Partei Einiges Russland in Dagestan 81,18 % der Stimmen. Die Kommunistische Partei (KPRF) errang 6,2 %, die Partei Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit 5,56 %, die Liberal-Demokratische Partei (LDPR) 2,49 %, und Neue Leute gewann 0,78 %. Die Wahlbeteiligung betrug 76,11 % (Russland-Analysen 1.10.2021c; vgl. Ria.ru 6.10.2021). Im Allgemeinen ist Wahlbetrug weitverbreitet, was insbesondere im Nordkaukasus deutlich wird (BS 2022). Der Regierungsvorsitzende wird vom Republikoberhaupt mit Zustimmung der Volksversammlung ernannt (FR o.D.a). Am 17.2.2022 trat der Regierungsvorsitzende Dagestans, Abdulpatach Amirchanow, zurück. Sein Nachfolger ist Abdulmuslim Abdulmuslimow (KK 21.2.2022; vgl. Russland-Analysen 22.2.2022).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053304/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_21.05.2021.pdf , Zugriff 13.7.2022

 ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (13.1.2020): ecoi.net-Themendossier zur Russischen Föderation: Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022550.html , Zugriff 9.8.2022

 BS – Bertelsmann Stiftung (2022): BTI (Bertelsmann Transformation Index) 2022 Country Report: Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069600/country_report_2022_RUS.pdf , Zugriff 25.7.2022

 FPRI – Foreign Policy Research Institute (15.6.2022): The Shifting Political Hierarchy in the North Caucasus, https://www.fpri.org/article/2022/06/the-shifting-political-hierarchy-in-the-north-caucasus/ , Zugriff 10.8.2022

 FR – Föderationsrat [Russland] (o.D.a): Республика Дагестан [Republik Dagestan], http://council.gov.ru/structure/regions/DA/ , Zugriff 10.8.2022

 KK – Kaukasischer Knoten (21.2.2022): Кавказ за неделю: обзор главных событий с 14 по 20 февраля 2022 года [Die Woche im Kaukasus: Überblick über wesentliche Ereignisse vom 14. bis 20. Februar 2022], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/373400/ , Zugriff 10.8.2022

 KK – Kaukasischer Knoten (14.10.2021): Меликов Сергей Алимович [Melikow Sergej Alimowitsch], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/242445 , Zugriff 10.8.2022

 Ria.ru – RIA Nowosti (6.10.2021): Итоги выборов в Госдуму — 2021 [Staatsduma-Wahlergebnisse 2021], https://ria.ru/20210919/vybory_gosduma-1749875690.html , Zugriff 5.8.2022

 Russland-Analysen (Nr. 414) (22.2.2022): CHRONIK 01. – 20. Februar 2022, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/414/RusslandAnalysen414.pdf , Zugriff 10.8.2022

 Russland-Analysen (Nr. 407) (1.10.2021c): Sonntagsfrage und Ergebnis der Wahl zur Staatsduma 2021, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/407/RusslandAnalysen407.pdf , Zugriff 5.8.2022

 Standard, Der (21.5.2022): Wer für Putin in den Krieg zieht: Russische Soldaten stammen oft aus ärmeren Landesteilen, https://www.derstandard.at/story/2000135922562/wer-fuer-putin-in-den-krieg-zieht-russische-soldaten-stammen , Zugriff 10.8.2022

 Sicherheitslage

Letzte Änderung: 01.09.2022

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern gezeigt haben, kann es in Russland (auch außerhalb der Kaukasus-Region) zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 5.8.2022). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Metro, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 4.5.2022).

Für die Russische Föderation stellen Terrorismusbekämpfung und der Umgang mit extremistischen islamischen Gruppen (darunter Gruppen mit Verbindung zum sogenannten Islamischen Staat (IS) sowie Kämpfer, die aus Syrien zurückkehren) eine Priorität dar (USDOS 16.12.2021). Seit November 2020 wurden wegen angeblicher Zugehörigkeit zu Hizb ut-Tahrir mindestens acht Personen verurteilt und mehrere Dutzend Personen festgenommen. Hizb ut-Tahrir ist eine islamistische Bewegung, welche gewaltlos ein Kalifat errichten will. Russland hat Hizb ut-Tahrir aufgrund von Terrorismusvorwürfen im Jahr 2003 verboten (HRW 13.1.2022). Gemäß dem aktuellen Globalen Terrorismus-Index (2022), welcher die Einwirkung von Terrorismus je nach Land misst, belegt Russland den 44. Rang von insgesamt 93 Rängen. Dies bedeutet, Russland befindet sich auf mittlerem Niveau, was den Einfluss von Terrorismus betrifft (IEP 3.2022). Russland ist ein Mitglied des Globalen Forums zur Terrorismusbekämpfung (Global Counterterrorism Forum) (USDOS 16.12.2021; vgl. GCTF o.D.).

Am 24.2.2022 begann Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine (Rat 16.8.2022). In russischen Regionen nahe der Ukraine kam es in letzter Zeit zu mehreren Vorfällen, darunter größere Brände in Belgorod und bei einem Öldepot in Brjansk im April 2022 (Gov.uk 25.8.2022). In fünf russischen Regionen nahe der Ukraine (Rostow, Krasnodar, Saratow, Woronesch und Wolgograd) wurde der Notstand ausgerufen (AA 5.8.2022). In der russischen Region Kursk, welche an die Ukraine grenzt, werden mehrere grenzüberschreitende Artilleriebeschüsse von ukrainischer und russischer Seite sowie Sabotageakte gegen Infrastruktureinrichtungen gemeldet. Die Situation in Kursk wird zunehmend volatil (ACLED 18.8.2022). Das Kriegsrecht wurde in Russland bislang nicht ausgerufen (MT 8.6.2022). Stattdessen spricht Russland von einer 'Spezialoperation' in der Ukraine (Presse 11.8.2022). Die folgenden zwei Karten stellen sicherheitsrelevante Ereignisse innerhalb Russlands im Zeitraum 24.2.-12.8.2022 dar, wobei hier zwei Kategorien angezeigt werden: Kampfhandlungen (schwarz) und Explosionen/Ferngewalt (rot).

ACLED o.D.ACLED o.D.

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (5.8.2022): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederationsicherheit/201536 , Zugriff 11.8.2022

 ACLED – Armed Conflict Location & Event Data Project (18.8.2022): Regional Overview: Europe, Caucasus, and Central Asia 6-12 August 2022, https://acleddata.com/2022/08/18/regional-overview-europe-caucasus-and-central-asia-6-12-august-2022/ , Zugriff 18.8.2022

 ACLED – Armed Conflict Location & Event Data Project (o.D.): Events Overview: Russia 24.2.-12.8.2022, https://acleddata.com/2022/08/18/regional-overview-europe-caucasus-and-central-asia-6-12-august-2022/ , Zugriff 1.9.2022

 EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (4.5.2022): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html , Zugriff 11.8.2022

 GCTF – Global Counterterrorism Forum (o.D.): GCTF Members, https://www.thegctf.org/Who-we-are/Structure/Members , Zugriff 11.8.2022

 Gov.uk – Webseite der Regierung [Vereinigtes Königreich] (25.8.2022): Foreign travel advice Russia, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/russia , Zugriff 26.8.2022

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html , Zugriff 3.8.2022

 IEP – Institute for Economics & Peace (3.2022): Global Terrorism Index 2022: Measuring the Impact of Terrorism, https://www.economicsandpeace.org/wp-content/uploads/2022/03/GTI-2022-web-09062022.pdf , Zugriff 11.8.2022

 MT – Moscow Times (8.6.2022): Russia's Interior Ministry Creates New Department to Enforce Martial Law, https://www.themoscowtimes.com/2022/06/08/russias-interior-ministry-creates-new-department-to-enforce-martial-law-a77932 , Zugriff 12.8.2022

 Presse, Die (11.8.2022): Angriff auf der Krim: Ein schmerzhafter Schlag für Russland, https://www.diepresse.com/6176299/angriff-auf-der-krim-ein-schmerzhafter-schlag-fuer-russland , Zugriff 12.8.2022

 Rat – Europäischer Rat (16.8.2022): Russische Invasion in die Ukraine: Reaktion der EU, https://www.consilium.europa.eu/de/policies/eu-response-ukraine-invasion/ , Zugriff 23.8.2022

 USDOS – US Department of State [USA] (16.12.2021): Country Report on Terrorism 2020 - Chapter 1 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2065361.html , Zugriff 11.8.2022

 Nordkaukasus

Letzte Änderung: 01.09.2022

Die Sicherheitslage im Nordkaukasus hat sich verbessert, wenngleich dies nicht mit einer nachhaltigen Stabilisierung gleichzusetzen ist (ÖB 30.6.2021; vgl. Gov.uk 25.8.2022, RUSI 30.7.2021). Im Allgemeinen ist die Sicherheitslage im Nordkaukasus schwer einzuschätzen (ER 3.6.2022). Niederschwellige militante terroristische Aktivitäten sowie vermehrte Anti-Terror-Aktivitäten und Bemühungen um eine politische Konsolidierung sind feststellbar (OSAC 8.2.2021). Ein Risikomoment für die volatile Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten Islamischen Staates (IS), der mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat (ÖB 30.6.2021). Das Kaukasus-Emirat und außerdem der Kongress der Völker Itschkerijas und Dagestans gehören zu denjenigen Organisationen, welche von der Russischen Föderation als Terrororganisationen eingestuft werden (NAK o.D.a). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus deutlich zurückgegangen ist (ÖB 30.6.2021). Gemäß dem Online-Medienportal 'Kaukasischer Knoten' fielen zwischen Juli 2021 und Juli 2022 insgesamt 12 Personen dem bewaffneten Konflikt im Nordkaukasus zum Opfer. Vier dieser Personen wurden in Dagestan getötet, zwei in Karatschai-Tscherkessien, fünf in Kabardino-Balkarien und eine Person in Tschetschenien (KK 4.8.2022; vgl. KK 6.7.2022, KK 5.4.2022, KK 4.1.2022, KK 11.10.2021). Terroranschläge ziehen staatlicherseits u.a. kollektive Bestrafungsformen nach sich. Dies bedeutet, Familienangehörige werden für die Taten ihrer Verwandten zur Verantwortung gezogen (RUSI 30.7.2021) und müssen gemäß gesetzlichen Vorgaben Schadenersatz leisten (USDOS 12.4.2022).

Die tschetschenischen Sicherheitskräfte handeln außerhalb der russischen Verfassung und Gesetzgebung (Dekoder 10.2.2022) und gehen rigoros gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige vor (ÖB 30.6.2021). Tschetschenische Strafverfolgungsorgane werfen vermeintlichen Salafisten und Wahhabiten unbegründet terroristische Machenschaften vor und erzwingen Geständnisse durch Folter (USCIRF 10.2021). Regelmäßig wird aus Tschetschenien über Sabotage- und Terrorakte gegen Militär und Ordnungskräfte, über Feuergefechte mit Mitgliedern bewaffneter Gruppen, Entführungen von sowie Druck auf Familienangehörige von Mitgliedern illegaler bewaffneter Formationen berichtet. In verschiedenen Teilen der Republik Tschetschenien werden in regelmäßigen Abständen Anti-Terror-Operationen durchgeführt (KK 10.7.2021). Tschetschenische Behörden wenden kollektive Bestrafungsformen bei Familienangehörigen vermeintlicher Terroristen regelmäßig an, beispielsweise indem Familienangehörige dazu gezwungen werden, die Republik zu verlassen (USDOS 12.4.2022). In Tschetschenien gibt es eine Anti-Terrorismus-Kommission, deren Vorsitzender das Republikoberhaupt Kadyrow ist (NAK o.D.c). Im September 2018 wurde ein Grenzziehungsabkommen zwischen Tschetschenien und der Nachbarrepublik Inguschetien unterzeichnet, was in Inguschetien zu Massenprotesten der Bevölkerung führte und in der Gegenwart noch für gewisse Spannungen zwischen den beiden Republiken sorgt (KK 15.11.2021).

In Dagestan sind bei Verhaftungen von Verdächtigen im Zuge der Terrorbekämpfung mitunter auch Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der instabilen sozioökonomischen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung (ÖB 30.6.2021). In Dagestan nimmt der Widerstand immer mehr die Form von Sabotageakten und von Partisanen-Aktivitäten an (KK 18.5.2022). Es gibt in Dagestan eine Anti-Terrorismus-Kommission, welche vom Republikoberhaupt Melikow geleitet wird (NAK o.D.b).

Quellen:

 Dekoder (10.2.2022): Warum Ramsan Kadyrow (fast) alles darf, https://www.dekoder.org/de/article/ramsan-kadyrow-kritiker , Zugriff 9.8.2022

 ER – Europarat / Parliamentary Assembly (3.6.2022): The continuing need to restore human rights and the rule of law in the North Caucasus region, https://pace.coe.int/en/files/30064/html?__cf_chl_tk=N0MvfyHujStO1y2i5De4AjF5sOdH0kwzw1IPrh2B99Q-1660131174-0-gaNycGzNCpE , Zugriff 10.8.2022

 Gov.uk – Webseite der Regierung [Vereinigtes Königreich] (25.8.2022): Foreign travel advice Russia, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/russia , Zugriff 26.8.2022

 KK – Kaukasischer Knoten (4.8.2022): В июле 2022 года жертв вооруженного конфликта на Северном Кавказе зафиксировано не было [Im Juli 2022 keine Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/379820/ , Zugriff 29.8.2022

 KK – Kaukasischer Knoten (6.7.2022): В ходе вооруженного конфликта на Северном Кавказе во II квартале 2022 года убито 2 человека [Im 2. Quartal 2022 wurden durch den bewaffneten Konflikt im Nordkaukasus 2 Personen getötet], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/378859/ , Zugriff 18.8.2022

 KK – Kaukasischer Knoten (18.5.2022): Дагестан: хроника террора (1996-2022 годы) [Dagestan: Chronik des Terrors (1996-2022)], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/73122/ , Zugriff 18.8.2022

 KK – Kaukasischer Knoten (5.4.2022): В I квартале 2022 года в ходе вооруженного конфликта на Северном Кавказе жертв не зафиксировано [Im 1. Quartal 2022 keine Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/374864/ , Zugriff 18.8.2022

 KK – Kaukasischer Knoten (4.1.2022): В ходе вооруженного конфликта на Северном Кавказе в IV квартале 2021 года убито 2 человека [Im 4. Quartal 2021 wurden durch den bewaffneten Konflikt im Nordkaukasus 2 Personen getötet], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/371915/ , Zugriff 18.8.2022

 KK – Kaukasischer Knoten (15.11.2021): Угрозы Кадырова отнять землю возмутили ингушских пользователей сети [Drohungen Kadyrows, sich Land anzueignen, riefen bei Inguscheten online Empörung hervor], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/370165/ , Zugriff 19.8.2022

 KK – Kaukasischer Knoten (11.10.2021): В III квартале 2021 года жертвами вооруженного конфликта на Северном Кавказе стали восемь человек [Im 3. Quartal 2021 wurden acht Personen Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/368960/ , Zugriff 18.8.2022

 KK – Kaukasischer Knoten (10.7.2021): Чечня после КТО: диверсии, теракты, похищения [Tschetschenien nach der Anti-Terror-Operation: Sabotagen, Terroranschläge, Entführungen], https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/155726/ , Zugriff 18.8.2022

 NAK – Nationales Anti-Terrorismus-Komitee [Russland] (o.D.a): Террористические и экстремистские организации и материалы [Terror- und extremistische Organisationen und Materialien], http://nac.gov.ru/terroristicheskie-i-ekstremistskie-organizacii-i-materialy.html , Zugriff 18.8.2022

 NAK – Nationales Anti-Terrorismus-Komitee [Russland] (o.D.b): Республика Дагестан [Republik Dagestan], http://nac.gov.ru/subekty-federacii/respublika-dagestan.html , Zugriff 18.8.2022

 NAK – Nationales Anti-Terrorismus-Komitee [Russland] (o.D.c): Чеченская Республика [Republik Tschetschenien], http://nac.gov.ru/subekty-federacii/chechenskaya-respublika.html , Zugriff 18.8.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2021): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2021 (Stand 30.6.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.7.2022

 OSAC – Overseas Security Advisory Council / Bureau of Diplomatic Security / U.S. Department of State [USA] (8.2.2021): Russia Country Security Report, https://www.osac.gov/Content/Report/f312a926-0723-427a-947f-1c391b3776e8 , Zugriff 11.8.2022

 RUSI – Royal United Services Institute (30.7.2021): Identifying an Integration Model for the North Caucasus (RUSI Newsbrief, VOLUME 41, ISSUE 6), https://rusi.org/explore-our-research/publications/rusi-newsbrief/identifying-integration-model-north-caucasus , Zugriff 18.8.2022

 USCIRF – US Commission on International Religious Freedom [USA] (10.2021): Issue Update Russia: Religious Freedom Violations in the Republic of Chechnya, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069579/2021+Chechnya+Issue+Update.pdf , Zugriff 18.8.2022

 USDOS – US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071123.html , Zugriff 20.7.2022

 Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 21.04.2022

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte für Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsperson, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 6.2021). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 3.3.2021). Auch Korruption ist im Justizsystem ein Problem (EASO 3.2017, BTI 2020).

Das russische Justizsystem ist institutionell abhängig von den Untersuchungsbeamten, die häufig die Urteile bestimmen. Politisch wichtige Fälle werden vom Kreml überwacht, und Richter haben nicht genug Autonomie, um den Ausgang zu bestimmen (ÖB Moskau 6.2021). Die Personalkommission des Präsidenten und die Vorsitzenden des Gerichts kontrollieren die Ernennung und Wiederernennung der Richter des Landes, die eher aus dem Justizsystem befördert werden, als unabhängige Erfahrungen als Anwälte zu sammeln. Änderungen der Verfassung, die im Jahr 2020 verabschiedet wurden, geben dem Präsidenten die Befugnis, mit Unterstützung des Föderationsrates, Richter am Verfassungsgericht und am Obersten Gerichtshof zu entfernen, was die ohnehin mangelnde Unabhängigkeit der Justiz weiter schädigt (FH 3.3.2021).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs- und Kassationsverfahren geschaffen wurden sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto 'Schuldvermutung' im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter etc.). Anwälte im Menschenrechtsbereich beklagen ungleiche Spielregeln in Gerichtsverfahren und steigenden Druck gegen die Anwälte selbst (ÖB Moskau 6.2021).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das zur Untergrabung der Souveränität Russlands missbraucht werde (ÖB Moskau 6.2021). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021, USDOS 11.3.2020). Im Juli 2020 wurde diese Rechtsposition auch in der Verfassung verankert und dem russischen Verfassungsgerichtshof das Recht eingeräumt, Urteile zwischenstaatlicher Organe nicht umzusetzen, wenn diese in ihrer Auslegung der Bestimmungen zwischenstaatlicher Verträge nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Weiters wurde mit der Verfassungsänderung, die am 4.7.2020 in Kraft trat, das Recht des Föderationsrats, Richter des Verfassungsgerichtshofs auf Vorschlag des Präsidenten zu entlassen, verankert (ÖB Moskau 6.2021). Die Venedig-Kommission des Europarates gab eine Stellungnahme zu den damaligen Entwürfen für Verfassungsänderungen ab. Die Kommission bekräftigte ihre Ansicht, dass die Befugnis des Verfassungsgerichts, ein Urteil des EGMR für nicht vollstreckbar zu erklären, den Verpflichtungen Russlands aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht (HRW 13.1.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Mit Ende 2020 waren beim EGMR 13.650 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2020 wurde die Russische Föderation in 173 Fällen wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (ÖB Moskau 6.2021).

Wegen Russlands Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 hatte der Europarat Russlands Mitgliedschaft zunächst suspendiert. Russland gab kurz darauf seinen Austritt aus dem Europarat nach 26 Jahren Mitgliedschaft bekannt und kam damit einem Beschluss der übrigen Mitgliedsstaaten zuvor. Nach dem endgültigen Ausschluss Russlands aus dem Europarat hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) alle Verfahren gegen Russland vorerst ausgesetzt. Nach Angaben des Gerichts vom Jänner 2022 wurden 24 % der rund 70.000 beim EGMR anhängigen Verfahren von Russen und Russinnen angestrengt. Russland gehört nun nicht länger zu den Unterzeichnerstaaten der EMRK, und seine Bürger können sich nicht mehr an den EGMR wenden (ORF.at 17.3.2022).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer nicht genehmigten friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020). Im Juli 2017 trat eine weitere neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der 'Absicht' angenommen haben, die 'Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen'. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann. Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die vonseiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 2.2.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 23.3.2021

 AI - Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 23.3.2021

 AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 23.3.2021

 BTI - Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report – Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf , Zugriff 17.5.2021

 EASO - European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 23.3.2021

 FH - Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 23.3.2021

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 23.3.2021

 ORF.at (17.3.2022): EGMR setzt Verfahren gegen Russland aus, https://orf.at/stories/3253923/ , Zugriff 20.4.2022

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 29.9.2021

 US DOS - United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 23.3.2021

 Tschetschenien und Dagestan

Letzte Änderung: 02.03.2022

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetschenien und Dagestan. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Die Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art 'alternative Justiz'. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für die Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 2.2.2021). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechtssysteme einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien 'Ramsan sagt' lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben. Er kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 6.2021). Nach wie vor gibt es Clans, die Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 6.2020). Ein neueres Beispiel betrifft die Familie eines ehemaligen Richters am Obersten Gerichtshof in Tschetschenien. Kadyrow hat die Familie zu 'Terroristen' erklärt, da die beiden Söhne als Verаntwortliche hinter einem regimekritischen Telegram-Kanal vermutet werden (Snob 10.2.2022).

Die föderalen Behörden haben nur begrenzte Möglichkeiten, politische Entscheidungen in Tschetschenien zu treffen, wo das tschetschenische Republiksoberhaupt Ramsan Kadyrow im Gegenzug für das Halten der Republik in der Russischen Föderation unkontrollierte Macht erlangt hat (FH 3.3.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht laut Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Es gibt ein Gesetz, welches die Verwandten von Terroristen verpflichtet für Schäden zu haften, die bei Angriffen entstanden sind. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (US DOS 11.3.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 6.2021). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 2.2.2021), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 6.2021) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinschaft und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan überworfen haben. Kadyrow äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Elena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021). Dissens und Kritik werden in Tschetschenien weiterhin rücksichtslos unterdrückt (HRW 13.1.2022).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige werden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 1990er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 2.2.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 8.4.2021

 CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-website-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX , Zugriff 8.4.2021

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 8.4.2021

 EASO – European Asylum Support Office [EU] (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), https://www.ecoi.net/en/file/local/1154982/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf , Zugriff 8.4.2021

 EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, https://www.ecoi.net/en/file/local/1394622/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 8.4.2021

 FH - Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 8.4.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html , Zugriff 3.2.2022

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 8.4.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 29.9.2021

 ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

 Snob (10.2.2022): Warum Ramsan Kadyrow (fast) alles darf, https://www.dekoder.org/de/article/ramsan-kadyrow-kritiker , Zugriff 21.2.2022

 SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf , Zugriff 8.4.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 8.4.2021

 Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 01.09.2022

Das Innenministerium, der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee, die Generalstaatsanwaltschaft und die Nationalgarde sind für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Staatssicherheit, Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung, Korruptionsbekämpfung sowie Bekämpfung des organisierten Verbrechens befasst. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist für Verbrechensbekämpfung zuständig. Die Nationalgarde unterstützt den Grenzwachdienst des FSB bei der Grenzsicherung, ist für Waffenkontrolle sowie den Schutz der öffentlichen Ordnung verantwortlich, bekämpft Terrorismus und das organisierte Verbrechen und bewacht wichtige staatliche Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (USDOS 12.4.2022). Koordiniert werden die Maßnahmen im Bereich Terrorismusbekämpfung vom Nationalen Anti-Terrorismus-Komitee (USDOS 16.12.2021). Zivilbehörden halten im Allgemeinen eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Gegen Beamte, die missbräuchliche Handlungen setzen und in Korruption verwickelt sind, werden selten strafrechtliche Schritte unternommen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führt (USDOS 12.4.2022). Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt (AA 21.5.2021).

Die Polizei wendet häufig übermäßige Gewalt an (FH 28.2.2022). Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen 'fremdländischen' Aussehens oft Opfer von Misshandlungen durch Mitarbeiter der Polizei und der Untersuchungsbehörden (AA 21.5.2021). Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht (ÖB 30.6.2021).

Laut gesetzlichen Vorgaben dürfen Verdächtige für die Dauer von maximal 48 Stunden ohne gerichtliche Genehmigung inhaftiert werden - vorausgesetzt, es gibt Beweise oder Zeugen. Anderenfalls ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete werden von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Inhaftierten muss die Möglichkeit gegeben werden, Angehörige telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt ordnet die Geheimhaltung der Inhaftierung an. Verhaftete müssen von der Polizei innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor haben sie das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu sehen. Spätestens 12 Stunden nach der Festnahme muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Polizei muss Festgenommene nach 48 Stunden gegen Kaution freilassen - es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, die Inhaftierungsdauer auszudehnen. Zuvor (mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haftdauer) muss die Polizei einen diesbezüglichen Antrag eingereicht haben. Im Allgemeinen werden von den Behörden die rechtlichen Beschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus. Angeklagte und deren Rechtsvertreter müssen bei der Gerichtsverhandlung persönlich oder über einen Videolink anwesend sein (USDOS 12.4.2022).

Die Zivilbehörden auf nationaler Ebene üben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien aus. Diese sind nur dem Republikoberhaupt Kadyrow gegenüber rechenschaftspflichtig (USDOS 12.4.2022; vgl. ÖB 30.6.2021). Mit den sogenannten Kadyrowzy verfügt Kadyrow über eine persönliche Armee (FPRI 15.6.2022). Bei den Kadyrowzy handelt es sich formal um Einheiten der tschetschenischen Nationalgarde, deren zahlenmäßige Stärke geheim ist. Russische Quellen nennen Zahlen zwischen 10.000 und 18.000 Soldaten (Heise 9.7.2022). Die tschetschenische Sondereinheit der Kadyrowzy existierte bereits unter Kadyrows Vater, der sich im Tschetschenienkrieg ab 1999 auf die Seite Russlands gegen die Separatisten gestellt hatte und im Jahr 2004 getötet worden war. Seit der Machtübernahme Kadyrows im Jahr 2007 werden die Kadyrowzy von Menschenrechtsorganisationen für zahlreiche Morde politischer Gegner sowie für Folter verantwortlich gemacht (Euronews 20.3.2022). Die Kadyrowzy kommen im Ukraine-Krieg zum Einsatz (Heise 9.7.2022). Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor dem langen Arm des Regimes von Republikoberhaupt Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind nach Aussagen von NGOs etwa auch in Moskau präsent. Sie berichten von Einzelfällen aus Tschetschenien, in denen entweder die Familien der Betroffenen oder tschetschenische Behörden (welche Zugriff auf russlandweite Informationssysteme haben) Flüchtende in andere Landesteile verfolgen, sowie von LGBTI-Personen, die gegen ihren Willen von anderen russischen Regionen nach Tschetschenien zurückgeholt worden sind (AA 21.5.2021).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053304/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_21.05.2021.pdf , Zugriff 13.7.2022

 Euronews (20.3.2022): 'Psychopath Kadyrow': Was machen die Kämpfer aus Tschetschenien in der Ukraine?, https://de.euronews.com/2022/03/20/psychopath-kadyrow-was-machen-die-kampfer-aus-tschetschenien-in-der-ukraine , Zugriff 10.8.2022

 FH – Freedom House (28.2.2022): Freedom in the World 2022 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2068627.html , Zugriff 3.8.2022

 FPRI – Foreign Policy Research Institute (15.6.2022): The Shifting Political Hierarchy in the North Caucasus, https://www.fpri.org/article/2022/06/the-shifting-political-hierarchy-in-the-north-caucasus/ , Zugriff 10.8.2022

 Heise (9.7.2022): Ukraine-Krieg: Wer will 'nach Berlin durchmarschieren'?, https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Krieg-Wer-will-nach-Berlin-durchmarschieren-7167389.html , Zugriff 10.8.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2021): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2021 (Stand 30.6.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.7.2022

 USDOS – US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071123.html , Zugriff 20.7.2022

 USDOS – US Department of State [USA] (16.12.2021): Country Report on Terrorism 2020 - Chapter 1 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2065361.html , Zugriff 11.8.2022

 Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 29.08.2022

Folter, Gewalt sowie unmenschliche bzw. grausame oder erniedrigende Behandlung und Strafen sind in Russland auf Basis des Art. 21 der Verfassung verboten (RI 4.7.2020). Die Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe wurde von Russland 1987 ratifiziert. Das Zusatzprotokoll hat Russland nicht unterzeichnet (OHCHR o.D.). Die Zufügung körperlicher oder seelischer Schmerzen durch systematische Gewaltanwendung wird gemäß § 117 Strafgesetzbuch mit Freiheitsbeschränkung von max. 3 Jahren oder Zwangsarbeit von max. 3 Jahren oder Freiheitsentzug von max. 3 Jahren bestraft. Wird dieselbe Tat beispielsweise von mehreren Personen begangen, ist das Opfer eine minderjährige Person, kommt Folter zur Anwendung oder wird die Tat aus politischen, ideologischen, religiösen usw. Motiven begangen, hat dies Freiheitsentzug von 3 - 7 Jahren zur Folge (RI 25.3.2022). Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der inneren Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein (ÖB 30.6.2021). Gemäß zahlreichen Berichten erzwingen Sicherheitsbeamte Geständnisse gewaltsam, durch Folter und Missbrauchshandlungen (USDOS 12.4.2022). Folter und andere Misshandlungen in Haftanstalten sind weitverbreitet und werden selten geahndet (AI 29.3.2022; vgl. USDOS 12.4.2022). Es kommt zu Todesfällen aufgrund von Folter. Gemäß Berichten kommt es außerdem vor, dass Journalisten und Aktivisten, welche über Folterfälle berichten, von Behörden strafrechtlich verfolgt werden (USDOS 12.4.2022). Betroffene, welche vor Gericht Foltervorwürfe erheben, werden zunehmend unter Druck gesetzt, beispielsweise durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 21.5.2021).

Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen. Diese richtet sich gegen Zivilisten, islamistische Aufständische, Bedienstete von Behörden usw. (FH 28.2.2022). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet das tschetschenische Republikoberhaupt Kadyrow unterschiedliche Formen von Gewalt an, wie beispielsweise Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 28.2.2022; vgl. AA 21.5.2021). Solche Handlungen finden manchmal auch außerhalb Russlands statt (FH 28.2.2022).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053304/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_21.05.2021.pdf , Zugriff 13.7.2022

 AI – Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Russland 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070266.html , Zugriff 28.7.2022

 FH – Freedom House (28.2.2022): Freedom in the World 2022 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2068627.html , Zugriff 3.8.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2021): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2021 (Stand 30.6.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.7.2022

 OHCHR – Office of the High Commissioner for Human Rights [UN] (o.D.): Russian Federation: Status of Ratification – Interactive Dashboard, https://indicators.ohchr.org/ , Zugriff 26.7.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (25.3.2022): Уголовный кодекс Российской Федерации [Strafgesetzbuch der Russischen Föderation] (Nr. 63-ФЗ), http://pravo.gov.ru/proxy/ips/?docbody&nd=102041891 , Zugriff 20.7.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (4.7.2020): Конституция Российской Федерации [Verfassung der Russischen Föderation], http://publication.pravo.gov.ru/File/GetFile/0001202007040001?type=pdf , Zugriff 13.7.2022

 USDOS – US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071123.html , Zugriff 20.7.2022

 Korruption

Letzte Änderung: 16.11.2021

Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen, genauso wie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).

Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet, und ein zunehmender Mangel an Rechenschaftspflicht ermöglicht es Bürokraten, ungestraft Straftaten zu begehen. Analysten bezeichnen das politische System als Kleptokratie, in der die regierende Elite das öffentliche Vermögen plündert (FH 3.3.2021). Obwohl das Gesetz Strafen für Behördenkorruption vorsieht, bestätigt die Regierung, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wird und viele Beamte in korrupte Praktiken involviert sind (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017, BTI 2020). Korruption ist sowohl in der Exekutive als auch in der Legislative und Judikative auf allen hierarchischen Ebenen weit verbreitet (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017, BTI 2020). Die meisten Bemühungen zur Korruptionsbekämpfung sind oft nur symbolischer Natur. Korruptionsvorwürfe der politischen Elite gelten als Instrumente in Machtkämpfen (BTI 2020). Zu den Formen von Korruption zählen die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Behördenkorruption ist zudem auch in anderen Bereichen weiterhin verbreitet: im Bildungswesen, beim Militärdienst, im Gesundheitswesen, im Handel, beim Wohnungswesen, bei Pensionen und Sozialhilfe, im Gesetzesvollzug und im Justizwesen (USDOS 11.3.2020).

Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny dokumentiert regelmäßig Korruptionsfälle auf höchster politischer Ebene, ohne dass die staatlichen Strukturen darauf reagieren (BTI 2020). Eines der zentralen Themen der Modernisierungsagenda ist die Bekämpfung der Korruption und des Rechtsnihilismus. Im Zeichen des Rechtsstaats durchgeführte Reformen, wie die Einsetzung eines Richterrats, um die Selbstverwaltung der Richter zu fördern, die Verabschiedung neuer Prozessordnungen und die deutliche Erhöhung der Gehälter hatten jedoch wenig Wirkung auf die Abhängigkeit der Justiz von Weisungen der Exekutive und die dort herrschende Korruption. Im Februar 2012 erfolgte der Beitritt Russlands zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung. 2020 nimmt Russland im Ranking des Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International den 129. Platz von 179 ein (GIZ 1.2021a).

Korruption ist auch in Tschetschenien nach wie vor weit verbreitet. Öffentliche Bedienstete müssen einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrows Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrows und der ihm nahestehenden Gruppen diene. So bezeichnete die Zeitung 'Kommersant' den Fonds als eine der intransparentesten NGOs des Landes (ÖB Moskau 6.2021). Die Situation in Tschetschenien zeichnet sich dadurch aus, dass korrupte Praktiken erstens stärker verbreitet sind und zweitens offener ablaufen als im restlichen Russland (SEM 15.7.2016).

Dagestan ist eine der ärmsten Regionen Russlands, bis zu 70% des Budgets stammen aus Subventionen aus Moskau. Auch in Dagestan ist die Gesellschaft in Clans aufgebaut. Nirgendwo sonst in Russland ist der Clan so stark wie in Dagestan, weshalb systemische Korruption in dieser Republik nicht überrascht (WI 25.2.2018). Das staatliche Justizwesen ist in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt (AA 2.2.2021). Zum ersten Mal in der Geschichte der Russischen Föderation wurden Anfang 2018 der Premierminister Dagestans, seine Stellvertreter und der ehemalige Bildungsminister wegen schwerer Korruptionsvorwürfe festgenommen und sofort nach Moskau ausgeflogen. Alle vier standen im Verdacht, Haushaltsmittel aus Sozialprogrammen in großem Umfang veruntreut zu haben (WI 25.2.2018). Wladimir Wassilews Ernennung [zum Republiksoberhaupt von 2018-2020] bekräftigt die Bedeutung von Dagestan für den russischen Staat und die Tatsache, dass Putin nicht länger bereit ist, die von den Subventionen abgezogenen Mittel zu ignorieren (PONARS Eurasia 11.2018). Der Nachfolger Wassilews ist Sergej Melikow. Dieser war davor Vertreter der Region Stawropol im Föderationsrat (BPB 26.10.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 16.3.2021

 BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (26.10.2020): Chronik: 28. September – 10. Oktober 2020, https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/317747/chronik-28-september-10-oktober-2020 , Zugriff 16.3.2021

 BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report – Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf , Zugriff 16.3.2021

 EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 16.3.2021

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 16.3.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 16.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 29.9.2021

 PONARS Eurasia (11.2018): The Kremlin’s New Man in Dagestan. Corruption Supplants Security as Moscow's Chief Concern, PONARS Eurasia Policy Memo No. 549, https://www.researchgate.net/publication/337674069_The_Kremlin%27s_New_Man_in_Dagestan_Corruption_Supplants_Security_as_Moscow%27s_Chief_Concern , Zugriff 16.3.2021

 SEM – Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (15.7.2016): Focus Russland. Korruption im Alltag, insbesondere in Tschetschenien, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/europa-gus/rus/RUS-korruption-d.pdf , Zugriff 16.3.2021

 USDOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 16.3.2021

 WI – Warsaw Institute (25.2.2019): Federal clean-up in Dagestan, https://warsawinstitute.org/federal-clean-dagestan/ , Zugriff 16.3.2021

 NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Letzte Änderung: 21.04.2022

Der russische Staat wünscht sich, dass NGOs vor allem im sozialen Bereich tätig sind. Das Engagement in Bezug auf andere, politische Aktivitäten, wird mit Misstrauen betrachtet (BTI 2020). Somit geraten NGOs zunehmend unter Druck. Auf Basis des sog. NGO-Gesetzes aus 2012 werden russische NGOs, die politisch aktiv sind und aus dem Ausland Finanzmittel erhalten, in ein vom Justizministerium geführtes Register 'ausländischer Agenten' eingetragen, was mit verstärkten Berichts- und Kennzeichnungspflichten und bürokratischer Kontrolle der Tätigkeit der NGO einhergeht (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021, FH 3.3.2021, BTI 2020). Die Bezeichnung als 'Agent' provoziert unter der russischen Bevölkerung eine negative Konnotation mit den Tätigkeiten dieser NGOs im Sinne von Spionagetätigkeiten (ÖB Moskau 6.2021; vgl. FH 3.3.2021). Organisationen, die sich nicht eintragen lassen, haben mit hohen Geldstrafen zu rechnen bzw. können aufgelöst werden. 2016 wurde die NGO Agora, eine Vereinigung von Menschenrechtsanwälten, als erste Organisation aufgrund von Nichtbefolgung des NGO-Gesetzes aufgelöst (ÖB Moskau 6.2020). Mit 1. März 2021 trat eine Verschärfung des Strafgesetzes in Kraft, wonach eine 'mutwillige Umgehung' der Verpflichtungen einer 'NGO, welche die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllt', mit Strafen von 300.000 Rubel (ca. 3.310 Euro) bis zu Haftstrafen von zwei bis fünf Jahren geahndet werden kann (ÖB Moskau 6.2021). Die international bekannte NGO Memorial ist aktuell mit Geldstrafen in Höhe von 6,1 Mio Rubel (ca. 68.000 Euro) wegen fehlender Kennzeichnungen u.a. auf Social-Media-Kanälen konfrontiert (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AI 16.4.2020, HRW 13.1.2021). Ende Dezember 2021 hat das Oberste Gericht in Moskau entschieden, Memorial aufzulösen (Tagesschau.de 28.12.2021). Die Staatsanwaltschaft begründete ihre Schließungspläne mit mehrfachen Verstößen gegen das umstrittene Gesetz zu 'ausländischen Agenten' (Standard Online 25.11.2021). Das Oberste Gericht folgte dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Die NGO Memorial habe in ihren Publikationen auf den Hinweis verzichtet, dass sie als 'ausländischer Agent' eingestuft wird (Arte.tv 29.12.2021). Memorial wurde in der Vergangenheit aus denselben Gründen bereits mehrfach zu teils hohen Geldstrafen verurteilt (Standard Online 25.11.2021). Mit Ende 2020 waren beim Justizministerium 75 NGOs als ausländische Agenten registriert (FH 3.3.2021). Ende 2019 wurde zudem die gesetzliche Möglichkeit geschaffen, auch natürliche Personen als 'ausländische Agenten' zu listen, sofern diese Medieninhalte von solchen verbreiten oder erarbeiten und dafür Geld erhalten (AA 2.2.2021; vgl. Standard Online 3.12.2019).

Um eine Alternative zu ausländischer Finanzierung russischer NGOs zu schaffen, werden seit 2017 sogenannte präsidentielle Subventionen vergeben, größtenteils an NGOs mit patriotischer bzw. sozialer Ausrichtung; in einigen Fällen erhielten auch als 'ausländische Agenten' deklarierte Einrichtungen staatliche Zuwendungen. Die Kehrseite der staatlichen Unterstützung ist, dass die Empfänger sich im Gegenzug einer intensiven behördlichen Kontrolle ihrer Geschäftstätigkeit unterwerfen müssen (ÖB Moskau 6.2021). In einem Bereich hat der Staat Interesse an Zusammenarbeit und Beratung gezeigt, insbesondere in ländlichen Regionen: Wenn Aktivitäten auf Sozialpolitik ausgerichtet sind, nicht auf politisches Engagement (BTI 2020).

Im Mai 2015 wurde ein Gesetz angenommen, um die Tätigkeit von ausländischen oder internationalen Nichtregierungsorganisationen, die eine Bedrohung für die verfassungsmäßigen Grundlagen, für die Verteidigungsfähigkeit des Landes oder die Sicherheit des Staates darstellen, auf dem Territorium der Russischen Föderation für unerwünscht zu erklären (ÖB Moskau 6.2021; vgl. BTI 2020, FH 3.3.2021). Die Klassifizierung als unerwünschte Organisation zieht ein Verbot der Gründung bzw. die Liquidierung bereits bestehender Strukturen der ausländischen NGO in Russland nach sich, sowie ein Verbot der Verteilung von Informationsmaterialien bzw. der Durchführung von Projekten. Weiters ist es russischen Banken verboten, Finanzoperationen durchzuführen, wenn ein Kunde als unerwünschte NGO eingestuft wurde (ÖB Moskau 6.2021). Die Verbote betreffen nicht nur die NGO selbst, sondern auch Personen, die sich an ihrer Tätigkeit beteiligen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. FH 3.3.2021). Das Gesetz sieht Geldstrafen sowie bei wiederholter Verletzung auch Freiheitsstrafen von mehreren Jahren vor (ÖB Moskau 6.2021). Mit Ende 2020 gelten 29 ausländische NGOs als unerwünschte Organisationen, da sie die nationale Sicherheit gefährden würden. Die Bezeichnung gibt den Behörden die Möglichkeit, eine Bandbreite an Sanktionen gegen diese Gruppierungen zu verhängen (FH 3.3.2021). Russland verschärft im Zuge des Ukrainekriegs die Repression und schloss Anfang April 2022 15 ausländische NGOs. Betroffen sind neben Amnesty International und Human Rights Watch unter anderem alle politischen Stiftungen aus Deutschland. Zu den Gründen der Verbote wurde auf unbestimmte „Gesetzesverstöße“ verwiesen (FAZ 10.4.2022).

Die Gesetzeslage zu NGOs hat sich in den vergangenen Jahren signifikant verändert, mit dem Ergebnis, dass derzeit unpolitische bzw. Pro-Regierungs-NGOs, die etwa im sozialen Bereich tätig sind, eher unterstützt werden und im Gegensatz dazu kritische NGOs, Medien und Einzelpersonen, vor allem jene, die sich öffentlich kritisch zu Themen wie Menschenrechte, Umweltschutz und dergleichen äußern, mit Einschränkungen und Repression konfrontiert sind (ÖB Moskau 6.2021). In Dagestan können NGOs tätig werden, sich mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen treffen, vor Ort recherchieren und sogar Verfahren gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte wegen Foltervorwürfen anstrengen. Die NGO 'Komitee zur Verhinderung von Folter' arbeitet mit den Sicherheitsbehörden in Dagestan im Rahmen des Strafvollzugs zusammen (AA 2.2.2021). Gemeinnützige Stiftungen sind in Dagestan der am weitesten entwickelte Teil der Zivilgesellschaft. Dies sind die stärksten, stabilsten und zahlreichsten NGOs in der Republik und umfassen Stiftungen wie 'Hope and Pure Heart'. Diese Organisationen sind äußerst professionell, verfügen über gut entwickelte IT-Plattformen und verwenden eine gemeinsam nutzbare Datenbank aller Bedürftigen in Dagestan, Tschetschenien und Inguschetien. Die Zielgruppen ihrer Aktivitäten sind alleinerziehende Mütter, Waisen und Senioren, die alleine leben. Da sie sich nicht mit politischen und bürgerrechtlichen Themen befassen, passt ihre Tätigkeit in den aktuellen politischen Kontext und die konservative Wertebasis und wird von den Behörden nicht kontrolliert. Dagestan hat die am weitesten entwickelte, vielfältigste und unabhängigste Zivilgesellschaft der drei nordkaukasischen Republiken (Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan). Dagestan unterliegt nicht der erhöhten staatlichen Kontrolle und dem Druck Tschetscheniens oder dem Konservativismus und der traditionellen Lebensweise Inguschetiens. Stattdessen gibt es viele verschiedene Gruppen, die sich aktiv für ihre zivilgesellschaftlichen Positionen einsetzen. Dagestan ist auch die erste Region, die die Umwelt aktiv auf die öffentliche Tagesordnung setzt. Aufgrund regelmäßiger Machtwechsel auf Republiks- und lokaler Ebene hat sich in Dagestan kein ausschließliches Zentrum gebildet, das Unterdrückung und Kontrolle über NGOs und Basisinitiativen ausüben würde (CSIS 1.2020).

Unbestrafte und nicht untersuchte, grobe Menschenrechtsverletzungen und Druck auf Menschenrechtsorganisationen haben die Möglichkeiten für die Zivilgesellschaft in Tschetschenien stark eingeschränkt. Trotzdem konnten viele lokale NGOs dem Druck standhalten und sich an die neuen Regeln anpassen. Die Popularität von gemeinnützigen Aktivitäten und sozialen Projekten zur Unterstützung von einkommensschwachen und schutzbedürftigen Gruppen wächst, ebenso die Anzahl sozialer Initiativen für Kinder und Jugendliche. Auch das Thema Menschen mit Beeinträchtigungen wird de-stigmatisiert. Ein weiterer wichtiger positiver Trend ist, dass immer mehr junge Menschen an Freiwilligenarbeit interessiert sind. Die Reduzierung der Auslandsfinanzierung (nach Angaben des Justizministeriums erhalten derzeit nur 16 NGOs in Tschetschenien Geld aus dem Ausland) wird teilweise durch das Programm der Präsidentenzuschüsse kompensiert, von dem mehrere lokale NGOs profitieren. Insbesondere die Abteilungen für öffentliche Angelegenheiten und religiöse Organisationen arbeiten im Rahmen des Zuschussprogramms des Präsidenten eng zusammen (CSIS 1.2020).

Die NGO Memorial zählte Ende 2020 349 Menschen als politische (61) oder religiöse Gefangene (288). Darunter waren Teilnehmer der Moskauer Wahlproteste 2019, Menschenrechtsaktivisten und Anwälte ethnischer Minderheiten (FH 3.3.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation,https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 12.4.2021

 AI - Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html , Zugriff 12.4.2021

 Arte.tv (29.12.2021): Russische Justiz ordnet Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial an, https://www.arte.tv/de/afp/neuigkeiten/russische-justiz-ordnet-aufloesung-der-menschenrechtsorganisation-memorial , Zugriff 29.12.2021

 BTI - Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report – Russia, https://bti-project.org/de/berichte/country-dashboard-RUS.html , Zugriff 12.4.2021

 CSIS - Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX , Zugriff 12.4.2021

 FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (10.4.2022): Russland schließt weitere NGOs und Stiftungen, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ukraine-krieg-russland-schliesst-weitere-ngos-und-stiftungen-17949529.html , Zugriff 20.4.2022

 FH - Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 12.4.2021

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 12.4.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 29.9.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 12.4.2021

 Standard Online (25.11.2021): Russlands wichtigste Menschenrechts-NGO steht vor der Schließung, https://www.derstandard.at/story/2000131442463/russische-ngo-steht-vor-der-schliessung , Zugriff 29.12.2021

 Standard Online (3.12.2019): Putin billigt Gesetz zu Journalisten als 'ausländische Agenten', https://apps.derstandard.at/privacywall/story/2000111799282/putin-billigt-gesetz-zu-journalisten-als-auslaendische-agenten , Zugriff 12.4.2021

 Tagesschau.de (28.12.2021): Empörung über Auflösung von Memorial, https://www.tagesschau.de/ausland/russland/memorial-russland-aufloesung-103.html , Zugriff 29.12.2021

 Ombudsperson

Letzte Änderung: 28.05.2021

Für die Russische Föderation gibt es wie für jedes der Föderationssubjekte einen Menschenrechtsbeauftragten [Ombudsperson]. Die Amtsinhaberin Tatjana Moskalkowa (seit 2016), ehemalige Generalmajorin der Polizei, geht nicht ausreichend gegen die wichtigsten Fälle der Verletzung von Menschenrechten, insbesondere den Missbrauch staatlicher Macht, vor. In ihrem Jahresbericht vom April 2020 gibt sie gleichwohl an, dass die meisten Beschwerden das Verhalten von Polizei und Justiz betreffen. Andere wichtige Beschwerdegründe waren die Nicht-Genehmigung von Versammlungen und – mit großem Abstand – die Behandlung von Häftlingen (AA 2.2.2021). Die Effektivität der regionalen Ombudspersonen variiert erheblich, und lokale Behörden unterminieren manchmal die Unabhängigkeit (US DOS 11.3.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 26.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 26.3.2021

 Wehrdienst und Rekrutierungen

Letzte Änderung: 09.11.2022

Gemäß § 22 des föderalen Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Militärdienst' werden alle männlichen russischen Staatsangehörigen im Alter zwischen 18 und 27 Jahren zur Stellung für den Pflichtdienst in der russischen Armee einberufen (RI 14.7.2022a). Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr. Der Präsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel bzw. rund 300.000 Rekruten. Über die regionale Aufteilung der Wehrpflichtigen entscheidet das Verteidigungsministerium, wobei die Anzahl der Wehrpflichtigen aus den jeweiligen Regionen stark variiert (ÖB 30.6.2021). Es gibt in Russland zweimal jährlich eine Stellung. Im Frühling 2022 wurden russlandweit 134.500 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen. Ein Jahr zuvor waren 134.650 Personen eingezogen worden (Spiegel 31.3.2022). Für Herbst 2022 wurden 120.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen (Kremlin.ru 30.9.2022). Nach der derzeitigen Gesetzeslage muss eine Einberufung dem Einzuberufenden persönlich gegen Unterschrift übergeben werden. Seit 2018 gibt es einen Gesetzesentwurf, wonach die persönliche Übernahme durch die Absendung eines eingeschriebenen Briefes ersetzt werden soll (ÖB 17.5.2022).

Ab einem Alter von 16 Jahren ist der freiwillige Besuch einer Militärschule möglich (EBCO 21.3.2022). Frauen dürfen freiwillig Militärdienst leisten (CIA 18.8.2022). Gemäß einem präsidentiellen Erlass vom 25.8.2022 wird ab 1.1.2023 die russische Armee auf einen Personalstand von 2.039.758 Bediensteten aufgestockt, davon 1.150.628 Militärbedienstete und der Rest Zivilpersonal wie Verwaltungsangestellte usw. (RI 25.8.2022; vgl. ORF 25.8.2022). Im Jahr 2021 betrugen die Militärausgaben 4,1 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) (SIPRI o.D.). Gemäß der Verfassung ist der Präsident der Russischen Föderation Oberbefehlshaber der Streitkräfte (RI 4.7.2020).

Neben dem Grundwehrdienst gibt es die Möglichkeit, freiwillig auf Basis eines Vertrags in der Armee zu dienen. Nachdem vermehrt vertraglich verpflichtete Soldaten herangezogen werden, sinkt die Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht für die russischen Streitkräfte (ÖB 30.6.2021). Seit mehreren Jahren sind Bemühungen im Gang, die Armee in Richtung eines Berufsheeres umzugestalten (ISW 5.3.2022; vgl. GS o.D.). Wie viele Zeit- bzw. Vertragssoldaten (Kontraktniki) es aktuell in Russland gibt, ist unklar. Für 2020 wurde deren Anzahl mit 400.000 angegeben. Damals plante man eine Aufstockung auf 500.000 Vertragssoldaten (BBC 14.4.2022). Bislang kamen als Vertragssoldaten russische Staatsbürger im Alter von 18-40 Jahren sowie Ausländer zwischen 18 und 30 Jahren infrage. Im Mai 2022 wurden diese Altersgrenzen fallengelassen (Duma 25.5.2022; vgl. NZZ 25.5.2022).

Staatsangehörige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Wehrdienst geeignet sind, werden als 'untauglich' von der Dienstpflicht befreit. Darüber hinaus kann ein Antrag auf Aufschub des Wehrdienstes gestellt werden, etwa durch Personen, welche ein Studium absolvieren oder einen nahen Verwandten pflegen müssen, oder durch Väter mehrerer Kinder. Die Ableistung des Grundwehrdienstes ist Voraussetzung für bestimmte (v. a. staatliche) berufliche Laufbahnen (ÖB 30.6.2021). Im Durchschnitt erhalten russische Wehrpflichtige ca. USD 25 [ca. EUR 25] pro Monat, wohingegen Vertragssoldaten ca. USD 1.100 [ca. EUR 1.094] erhalten (MT 23.5.2022). Gemäß gesetzlichen Vorgaben müssen Wehrpflichtige eine mindestens viermonatige Ausbildung absolviert haben, um zu Kampfeinsätzen im Ausland entsandt werden zu können. Jedoch zu Kriegszeiten oder im Falle der Ausrufung des Kriegsrechts ist es möglich, Wehrpflichtige früher heranzuziehen. Innerhalb Russlands dürfen Wehrpflichtige sofort (auch unausgebildet) herangezogen werden (ISW 30.10.2022).

Präsident Wladimir Putin verkündete mit 21.9.2022 eine Teilmobilmachung (RI 21.9.2022). Am 28.10.2022 vermeldete der Verteidigungsminister an Putin den Abschluss der Teilmobilmachung (Tass 28.10.2022), in deren Rahmen 300.000 Reservisten einberufen wurden (RG 21.9.2022). Als Reservist gilt jeder, der ein Militärbuch besitzt (auch Frauen) (ÖB 19.10.2022). Das Ende der Teilmobilmachung wurde vom Kreml bestätigt. Einen Erlass (Ukas) zur offiziellen Verkündung des Abschlusses der Teilmobilmachung erachtet der Kreml für unnötig (Tass 1.11.2022). Gemäß dem präsidentiellen Erlass (Ukas) vom 21.9.2022 werden mobilisierte Staatsbürger Vertragssoldaten gleichgestellt, auch hinsichtlich der Besoldung. Der Erlass enthält keine Angaben zur Anzahl der einberufenen Staatsbürger. [Anzumerken ist auch, dass der Punkt 7 des Erlasses nicht veröffentlicht wurde und dem 'Dienstgebrauch' dient. Sein Inhalt ist unbekannt. - Anm. der Staatendokumentation] Die Umsetzung der Mobilmachung oblag den Regionen. Ausgenommen von der Mobilmachung waren gemäß dem Erlass ältere Personen, Personen, die wegen ihres Gesundheitszustands als untauglich eingestuft werden, Personen, welche rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden (RI 21.9.2022), außerdem Mitarbeiter im Banken- und Mobilfunksektor, IT-Bereich sowie Mitarbeiter von Massenmedien (Kommersant 23.9.2022). Ein Einberufungsaufschub galt für Staatsbürger, welche im Verteidigungsindustriesektor arbeiten (RI 21.9.2022), und für Studierende (Kremlin.ru 24.9.2022). Folgende Personengruppen waren ebenfalls von der Mobilmachung ausgenommen: pflegende Angehörige; Betreuer von Personen mit bestimmten Beeinträchtigungen; kinderreiche Familien (mindestens vier Kinder unter 16); Personen, deren Mütter alleinerziehend sind und mindestens vier Kinder unter acht Jahren haben; pensionierte Veteranen, welche nicht mehr im Militärregister aufscheinen; und Personen, welche nicht in Russland leben und nicht im Militärregister aufscheinen (Meduza 22.9.2022). Der Kreml räumte Fehler bei der Umsetzung der Teilmobilmachung ein. So wurden Personen einberufen, welche eigentlich von der Mobilmachung ausgenommen waren, beispielsweise Krebskranke und Studierende (Kommersant 26.9.2022). Ethnische Minderheiten aus ärmeren Regionen waren überproportional von der Mobilmachung betroffen (Standard 28.9.2022; vgl. ISW 17.10.2022). Die Teilmobilmachung führte in Russland zu Protesten, Festnahmen (OWD-Info o.D.; vgl. Standard 22.9.2022) sowie zu einer Ausreisebewegung (WP 28.9.2022). Es wird berichtet, dass seit Verkündung der Teilmobilmachung Hunderttausende Männer Russland verlassen haben (DW 6.10.2022).

Es existieren widersprüchliche Aussagen hinsichtlich der Anzahl der russischen Wehrpflichtigen, welche in der Ukraine an Kampfhandlungen teilnehmen (ÖB 17.5.2022; vgl. CPTI 5.2022). Die russische Regierung hat die Entsendung Wehrpflichtiger zu Kampfeinsätzen in der Ukraine geleugnet. Es standen Behauptungen im Raum, einige Wehrpflichtige seien durch Unterzeichnung von Militärverträgen zur Teilnahme an Kampfeinsätzen gezwungen worden. Der Kreml gab später den Einsatz Wehrpflichtiger zu (EUAA 5.4.2022). Gemäß Berichten werden Wehrpflichtige unter Druck gesetzt, ihre Dienstzeit durch Freiwilligenverträge zu verlängern (RFE/RL 14.7.2022). In Tschetschenien laufen Rekrutierungskampagnen für den Ukraine-Krieg, und das tschetschenische Republiksoberhaupt Kadyrow droht Kampfunwilligen mit der 'Hölle' (KK 17.7.2022). Zu den Kämpfern in der Ukraine zählt die russische Söldner-Gruppe 'Wagner' (Deutschlandfunk 27.7.2022). Auch syrische Söldner wurden zur Unterstützung Russlands für den Kampf in der Ukraine rekrutiert (Rat 22.7.2022). Der Kriegs- und Ausnahmezustand wird durch präsidentiellen Erlass (Ukas) verhängt, was vom Föderationsrat bestätigt werden muss (RI 4.7.2020). Der russische Präsident Putin führte ab 20.10.2022 in den [zuvor völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen] Regionen Donezk, Lugansk, Saporischschja und Cherson das 'Kriegsrecht' ein (Kremlin.ru 19.10.2022).

Im Militärbereich ist Korruption weitverbreitet (USDOS 12.4.2022). 2015 wurden die Aufgaben der Militärpolizei erheblich erweitert. Seitdem zählt hierzu ausdrücklich die Bekämpfung der Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade sowie von Diebstählen innerhalb der Streitkräfte. Auch die sogenannte Dedowschtschina ('Herrschaft der Großväter') – ein System der Erniedrigung, Vergewaltigungen, der groben körperlichen Gewalt und Einschüchterungen sich ausgeliefert fühlender Rekruten durch dienstältere Mannschaften in Verbindung mit abgelegenen Standorten und kein Ausgang bzw. kaum Urlaub - dürfte eine maßgebliche Ursache sein (AA 28.9.2022). Es ist zu vermuten, dass es nach wie vor zu Delikten kommt, jedoch nicht mehr in dem Ausmaß wie in der Vergangenheit (AA 28.9.2022; vgl. USDOS 12.4.2022). Nach grundlegenden Reformen im russischen Heer in den Jahren 2008–2012, die auch Maßnahmen zur Humanisierung des Wehrdienstes sowie einer Reduzierung des Grundwehrdienstes von zwei auf ein Jahr beinhalteten, ist die Zahl der Gewaltverbrechen im Heer deutlich gesunken. Statistiken dazu werden nicht publiziert. NGOs gehen dennoch von hunderten Gewaltverbrechen pro Jahr im Heer aus. Laut Menschenrechtsvertretern existiert Gewalt in den Kasernen zumindest in bestimmten Militäreinheiten als System und wird von den Befehlshabenden unterstützt oder geduldet (ÖB 30.6.2021). Gemäß einer Liste, welche der Föderale Sicherheitsdienst (FSB) im September 2021 veröffentlichte, werden Personen, die auf Straftaten in der Armee aufmerksam machen, als 'ausländische Agenten' eingestuft (AI 29.3.2022). Die Diskreditierung der Armee ist gemäß § 280.3 des Strafgesetzbuches strafbar (RI 25.3.2022). Für Strafverfahren gegen Militärangehörige sind Militärgerichte zuständig, die in die zivile Gerichtsbarkeit eingegliedert sind. Freiheitsstrafen wegen Militärvergehen sind ebenso wie übliche Freiheitsstrafen in Haftanstalten oder Arbeitskolonien zu verbüßen. Militärangehörige können jedoch bis zu zwei Jahre in Strafbataillone, die in der Regel zu Schwerstarbeit eingesetzt werden, abkommandiert werden (AA 28.9.2022).

Bis ins Jahr 2014 wurden etwa aus Tschetschenien keine Wehrpflichtigen eingezogen. Aus Tschetschenien werden nunmehr jährlich ein paar hundert Rekruten einberufen. Nachdem junge Männer aus der Region aber teilweise eine Einberufung anstreben, gibt es Fälle, in denen sie dies durch Anmeldung eines Wohnsitzes in einer anderen Region zu erreichen versuchen (ÖB 30.6.2021).

Quellen:

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 BBC – British Broadcasting Corporation (14.4.2022): 'Вы едете туда, где стреляют'. В России массово ищут военных-контрактников для отправки в Украину ['Ihr fahrt dorthin, wo geschossen wird'. In Russland werden massenhaft Vertragssoldaten für Entsendung in die Ukraine gesucht], https://www.bbc.com/russian/features-61101195 , Zugriff 13.7.2022

 CIA – Central Intelligence Agency [USA] (18.8.2022): The World Factbook: Russia, https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/russia/ , Zugriff 26.8.2022

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 Deutschlandfunk (27.7.2022): 'Wagner'-Söldner rücken offenbar im Donbass vor, https://www.deutschlandfunk.de/wagner-soeldner-ruecken-offenbar-im-donbass-vor-102.html , Zugriff 27.7.2022

 Duma [Russland] (25.5.2022): Отменен верхний возрастной предел для желающих служить в армии по контракту [Obere Altersgrenze für Vertragssoldaten gekippt], http://duma.gov.ru/news/54395/ , Zugriff 13.7.2022

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 Kommersant (23.9.2022): Глава Минцифры поддержал отсрочку для сотрудников СМИ и IT-специалистов [Leiter des Ministeriums für digitale Entwicklung unterstützte Aufschub für Mitarbeiter im Bereich Massenmedien und für IT-Spezialisten], https://www.kommersant.ru/doc/5580490 , Zugriff 29.9.2022

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 Kremlin.ru [Russland] (24.9.2022): Указ Президента Российской Федерации 'О предоставлении отсрочки от призыва на военную службу по мобилизации' - № 664 [Erlass (Ukas) des Präsidenten der Russischen Föderation 'Über die Gewährung eines Aufschubs bei der Einberufung zum Militärdienst im Rahmen der Mobilmachung'], http://static.kremlin.ru/media/events/files/ru/Q5RVBWoPse1JxlUHBTtM2cHNUGCWmw7v.pdf , Zugriff 29.9.2022

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 Rat – Rat der Europäischen Union (22.7.2022): Aggression Russlands gegen die Ukraine: EU verhängt Sanktionen gegen weitere 54 Personen und 10 Organisationen, https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2022/07/22/russia-s-aggression-against-ukraine-the-eu-targets-additional-54-individuals-and-10-entities/ , Zugriff 27.7.2022

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 Standard, Der (22.9.2022): EU-Minister wollen weitere Sanktionen gegen Russland ausarbeiten, https://www.derstandard.at/jetzt/livebericht/2000139300207/eu-minister-einigen-sich-auf-verschaerfung-der-russland-sanktionenatomenergiebehoerde-fuehrt?responsive=false , Zugriff 22.9.2022

 Tass [Russland] (1.11.2022): Песков заявил, что указ о завершении частичной мобилизации не нужен [Peskow erklärte, dass Erlass (Ukas) über Abschluss der Teilmobilmachung unnötig ist], https://tass.ru/armiya-i-opk/16215553 , Zugriff 2.11.2022

 Tass [Russland] (28.10.2022): Частичная мобилизация в России: 300 тыс. за 37 дней. Шойгу доложил Путину о завершении частичной мобилизации [Teilmobilmachung in Russland: 300.000 in 37 Tagen: Schojgu vermeldete an Putin Ende der Teilmobilmachung], https://tass.ru/armiya-i-opk/16189289 , Zugriff 2.11.2022

 Tass [Russland] (21.9.2022): Песков заявил об отсутствии решений об изменении статуса СВО и введении военного положения [Peskow legte dar, dass Entscheidung über Änderung des Status der MSP [militärische Spezialoperation] und über Einführung des Kriegszustands nicht getroffen wurde], https://tass.ru/armiya-i-opk/15820687 , Zugriff 22.9.2022

 USDOS – US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071123.html , Zugriff 20.7.2022

 WP – Washington Post, The (28.9.2022): The Russian men fleeing mobilization, and leaving everything behind, https://www.washingtonpost.com/world/2022/09/28/russia-turkey-partial-mobilization-ukraine/ , Zugriff 4.10.2022

 Wehrersatzdienst

Letzte Änderung: 09.11.2022

Das Recht auf einen zivilen Ersatzdienst (Zivildienst) aus Gewissens-, religiösen oder anderen Gründen wird durch Art. 59 Abs. 3 der Verfassung garantiert (RI 4.7.2020). Eine gesetzliche Grundlage stellt das Föderale Gesetz 'Über den alternativen Zivildienst' dar (RI 31.7.2020). Ein alternativer Zivildienst kann abgeleistet werden, falls der Wehrdienst gegen die persönliche (politische, pazifistische) Überzeugung bzw. Glaubensvorschriften einer Person spricht, oder falls diese Person zu einem indigenen Volk gehört, dessen traditionelle Lebensweise dem Wehrdienst widerspricht (ÖB 30.6.2021). Die Zivildienstzeit beträgt 18 Monate als ziviles Personal bei den russischen Streitkräften bzw. 21 Monate in anderen staatlichen Einrichtungen, wie beispielsweise Kliniken oder Feuerwehr (ÖB 30.6.2021; vgl. AA 21.5.2021). Jährlich wird eine Liste an Tätigkeiten, Berufen und Organisationen erstellt, wo die Ableistung eines alternativen Zivildiensts möglich ist (Rostrud o.D.).

Anträge auf Ableistung des alternativen Zivildiensts sind beim Militärkommissariat spätestens 6 Monate vor den jährlichen Einberufungsterminen zu stellen und müssen eine Begründung enthalten (§ 11 des Gesetzes 'Über den alternativen Zivildienst'). Die Anträge werden laut § 10 von der Einberufungskommission geprüft (RI 31.7.2020). NGOs können die Gesamtanzahl von Anträgen auf Ableistung eines alternativen Zivildiensts nicht einschätzen (EBCO 21.3.2022). Anträge auf Ableistung des alternativen Zivildiensts werden regelmäßig abgelehnt (EUAA 5.4.2022; vgl. EBCO o.D.). Zeugen Jehovas sind von Ablehnungen ihrer Anträge betroffen (NL-MFA 4.2021). Lehnt die Einberufungskommission den Antrag einer Person auf Ableistung des Zivildiensts ab, kann diese Entscheidung gerichtlich angefochten werden (§ 15 des Gesetzes 'Über den alternativen Zivildienst') (RI 31.7.2020). Mit Stand August 2022 absolvierten laut Angaben des Föderalen Amts für Arbeit und Beschäftigung 1.166 russische Staatsbürger einen alternativen Zivildienst (Rostrud 1.8.2022). Die Verweigerung der Ableistung des Zivildiensts zieht gemäß § 328 des Strafgesetzbuches folgende Strafen nach sich: Geldstrafen von max. RUB 80.000 [ca. EUR 1.320] oder in der Höhe von max. 6 Monatseinkommen oder max. 480 Stunden Zwangsarbeit oder Arrest von max. 6 Monaten (RI 25.3.2022; vgl. ÖB 30.6.2021).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053304/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_21.05.2021.pdf , Zugriff 13.7.2022

 EBCO – European Bureau for Conscientious Objection (21.3.2022): Annual Report on Conscientious Objection to Military Service in Europe 2021, https://ebco-beoc.org/sites/ebco-beoc.org/files/attachments/2022-03-21-EBCO_Annual_Report_2021.pdf , Zugriff 27.7.2022

 EBCO – European Bureau for Conscientious Objection (o.D.): Russian Federation, https://ebco-beoc.org/russia , Zugriff 28.7.2022

 EUAA – European Union Agency for Asylum (5.4.2022): COI Query - Russian Federation: Treatment of military deserters by state authorities since the February 2022 invasion of Ukraine (1 February 2022 – 4 April 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2070967/2022_04_Q24_EUAA_COI_Query_Response_Russia_Treatment_of_military_deserters_by_state_authorities.pdf , Zugriff 27.7.2022

 NL-MFA – Ministry of Foreign Affairs [Niederlande] (4.2021): Country of origin information report for the Russian Federation, https://www.government.nl/binaries/government/documenten/reports/2021/04/12/general-country-of-origin-information-report-for-the-russian-federation-april-2021/General+Country+of+Origin+Information+Report+for+the+Russian+Federation+%28April+2021%29.pdf , Zugriff 27.7.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2021): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2021 (Stand 30.6.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.7.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (25.3.2022): Уголовный кодекс Российской Федерации [Strafgesetzbuch der Russischen Föderation] (Nr. 63-ФЗ), http://pravo.gov.ru/proxy/ips/?docbody&nd=102041891 , Zugriff 20.7.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (31.7.2020): Федеральный закон: Об альтернативной гражданской службе [Föderales Gesetz: Über den alternativen Zivildienst] (Nr. 268-ФЗ), http://pravo.gov.ru/proxy/ips/?docbody=&firstDoc=1&lastDoc=1&nd=102077393 , Zugriff 28.7.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (4.7.2020): Конституция Российской Федерации [Verfassung der Russischen Föderation], http://publication.pravo.gov.ru/File/GetFile/0001202007040001?type=pdf , Zugriff 13.7.2022

 Rostrud – Föderales Amt für Arbeit und Beschäftigung (Федеральная служба по труду и занятости) [Russland] (1.8.2022): Численность граждан, проходящих альтернативную гражданскую службу (по состоянию на 01.08.2022г.) [Anzahl von Bürgern, die alternativen Zivildienst leisten], https://rostrud.gov.ru/upload/iblock/b27/chislennost-na-01.08.2022-g.doc , Zugriff 2.11.2022

 Rostrud – Föderales Amt für Arbeit und Beschäftigung (Федеральная служба по труду и занятости) [Russland] (o.D.): Альтернативная гражданская служба [Alternativer Zivildienst], https://rostrud.gov.ru/rostrud/deyatelnost/?CAT_ID=4580 , Zugriff 13.7.2022

 Desertion/Wehrdienstverweigerung

Letzte Änderung: 09.11.2022

Desertion:

Gemäß § 338 StGB (Strafgesetzbuch) bedeutet Desertion das eigenmächtige Verlassen der militärischen Einheit oder des Dienstorts mit dem Ziel, dem Militärdienst zu entgehen. Desertion wird laut § 338 mit einer Freiheitsstrafe von max. 7 Jahren geahndet. Wer zum ersten Mal desertiert ist, kann sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn die Desertion Folge außergewöhnlicher Umstände war. Desertion mit einer Waffe sowie Desertion in einer Personengruppe werden mit einer Freiheitsstrafe von max. 10 Jahren geahndet (RI 25.3.2022). Am 24.9.2022 wurde § 338 StGB folgendermaßen ergänzt: Desertion während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen zieht eine Freiheitsstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren nach sich (RI 24.9.2022). In Bezug auf den Ukraine-Krieg vermeidet Russland den Begriff Krieg und spricht stattdessen von einer 'militärischen Spezialoperation' (RFE/RL 22.8.2022). Je länger eine Desertion zurückliegt, desto unwahrscheinlicher scheint eine Bestrafung. Deserteure während des Zweiten Weltkriegs, welche sich zwischen 1962 und 1995 stellten, gingen in bestimmten Fällen straffrei aus. Hingegen wurden beispielsweise Soldaten, die 1995 bzw. 2008 desertierten, später von Gerichten gemäß § 338 StGB zu Haftstrafen von 2 bzw. 3 Jahren verurteilt. Um als Desertion im Sinne des Strafgesetzbuches gelten zu können, ist Vorsatz erforderlich. Begangen werden kann das Delikt der Desertion von Wehrdienstleistenden, Zeitsoldaten sowie von Reservisten. Reservisten können von Militärkommissariaten zu militärischen Übungen einberufen werden. Die bloße Ausreise eines Reservisten ohne Einberufungsbefehl stellt keine Desertion im Sinne des § 338 StGB dar (ÖB 17.3.2022). Gemäß § 10 des föderalen Gesetzes 'Über die Wehrpflicht und den Militärdienst' sind russische Staatsbürger jedoch verpflichtet, binnen 2 Wochen bei den Militärkommissariaten zu erscheinen, um sich aus der Wehrkartei streichen zu lassen, falls sie für mehr als 6 Monate aus der Russischen Föderation ausreisen, bzw. um sich nach der Einreise in die Russische Föderation registrieren zu lassen (RI 14.7.2022a). Gemäß dem Kodex über Verwaltungsübertretungen (§ 21.5) stellt die Nichterfüllung dieser Verpflichtungen eine Verwaltungsübertretung dar und kann eine Verwarnung oder Geldstrafe von RUB 500 bis 3.000 [ca. EUR 9 bis 53] nach sich ziehen (RI 28.5.2022). Laut dem föderalen Gesetz 'Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation' (§ 15) kann das Ausreiserecht russischer Staatsbürger vorübergehend eingeschränkt werden, falls sie zum Militär- oder Zivildienst einberufen wurden (bis zur Beendigung des Militär- oder Zivildienstes) (RI 14.7.2022b).

Bei einberufenen Reservisten ist Folgendes zu unterscheiden: Haben einberufene Reservisten an einer militärischen Übung noch nicht teilgenommen und erscheinen sie (ohne gerechtfertigten Grund) nicht zur Übung, so liegt keine Desertion vor, sondern eine Verwaltungsübertretung. Haben hingegen einberufene Reservisten an der militärischen Übung bereits teilgenommen und erscheinen sie nicht zum weiteren Dienst mit dem Vorsatz, sich auf Dauer dem Militär zu entziehen, liegt Desertion gemäß § 338 StGB vor (ÖB 17.3.2022).

Wehrdienstverweigerung:

Die Verweigerung der Einberufung zum Militärdienst zieht folgende Strafen nach sich (§ 328 StGB): Geldstrafen von max. RUB 200.000 [ca. EUR 3.431] oder in der Höhe von max. 18 Monatseinkommen oder max. zweijährige Zwangsarbeit oder Arrest von max. 6 Monaten oder Freiheitsentzug von max. 2 Jahren (RI 25.3.2022). § 337 StGB sieht u.a. Folgendes vor: Wehrpflichtige oder Vertragssoldaten, welche während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen die militärische Einheit oder den Dienstort eigenmächtig verlassen und für eine Dauer von mehr als zwei Tagen bis max. 10 Tagen ungerechtfertigt nicht zum Dienst erscheinen, werden mit Freiheitsentzug von max. fünf Jahren bestraft. Wehrpflichtige oder Vertragssoldaten, welche während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen die militärische Einheit oder den Dienstort eigenmächtig verlassen und für eine Dauer von mehr als einem Monat ungerechtfertigt nicht zum Dienst erscheinen, werden mit Freiheitsentzug von 5-10 Jahren bestraft. Wer die Tat zum ersten Mal beging, kann sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn die Tat Folge außergewöhnlicher Umstände war. Reservisten sind während Militärübungen strafrechtlich für Taten gemäß diesem Paragrafen verantwortlich (RI 24.9.2022). Gemäß § 339 StGB wird die Verweigerung des Militärdiensts durch Betrug (Vortäuschung einer Krankheit, Selbstverletzung, Selbstverstümmelung oder Fälschung von Dokumenten usw.) folgendermaßen geahndet: Militärdienstbeschränkung von max. 1 Jahr oder Arrest von max. 6 Monaten oder Disziplinarhaft (Inhaftierung in einer militärischen Disziplinareinheit) von max. 1 Jahr. Dieselbe Tat (mit dem Ziel, sich gänzlich den militärischen Pflichten zu entziehen) zieht eine Freiheitsstrafe von max. 7 Jahren nach sich (RI 25.3.2022). Taten gemäß § 339 StGB, die während einer Mobilmachung, während Kriegsrecht herrscht, zu Kriegszeiten, während bewaffneter Konflikte oder während Kampfhandlungen begangen wurden, ziehen eine Freiheitsstrafe von 5-10 Jahren nach sich (RI 24.9.2022). Gemäß § 51 des Strafgesetzbuches bedeutet Militärdienstbeschränkung eine verminderte Besoldung sowie das Aussetzen dienstlicher Beförderungen (RI 25.3.2022). Wer während des Kriegsrechts, zu Kriegszeiten, im Rahmen von Kampfhandlungen oder bewaffneten Konflikten den Befehl eines Vorgesetzten nicht befolgt und die Teilnahme an Kriegs- oder Kampfhandlungen verweigert, wird mit Freiheitsentzug von 2-3 Jahren bestraft (§ 332 StGB). Wenn diese Taten mit schwerwiegenden Folgen verbunden waren, zieht dies eine Freiheitsstrafe von 3-10 Jahren nach sich (RI 24.9.2022).

Personen, die Militärdienst leisten, können keinen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen (Connection 24.3.2022). Gemäß russischen Menschenrechtsanwälten und Aktivisten lehnen es einige russische Truppen ab, an die Front in der Ukraine zurückzukehren (BBC 3.6.2022). Mehr als 100 Mitglieder der Nationalgarde wurden entlassen, da sie sich weigerten, in der Ukraine zu kämpfen (Guardian 27.5.2022). Die genaue Anzahl von Soldaten, welche den Kampf in der Ukraine verweigern, ist unklar (Connection 2.10.2022). Die Regierung veröffentlicht keine Zahlen (AA 28.9.2022).

Neu eingeführt wurde ins Strafgesetzbuch am 24.9.2022 ein Paragraf mit dem Titel 'Sich freiwillig in Kriegsgefangenschaft begeben' (RG 24.9.2022). Gemäß diesem neu eingeführten § 352 wird mit Freiheitsentzug von 3-10 Jahren bestraft, wer sich freiwillig in Kriegsgefangenschaft begibt. Wer diese Tat zum ersten Mal beging, kann sich der strafrechtlichen Verantwortung entziehen, wenn der Täter Maßnahmen für seine Befreiung ergriff, wenn er zu seiner Truppe oder Dienstort zurückkehrte und wenn er während der Kriegsgefangenschaft nicht andere Straftaten beging (RI 24.9.2022).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.9.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Stand: 10.9.2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2079430/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_10._September_2022%29%2C_28.09.2022.pdf , Zugriff 6.10.2022

 BBC – British Broadcasting Corporation (3.6.2022): The Russian soldiers refusing to fight in Ukraine, https://www.bbc.com/news/world-europe-61607184 , Zugriff 27.6.2022

 Connection e.V. / Rudi Friedrich (2.10.2022): Flucht vor der Beteiligung am Krieg – Zahlen zu Russland, Belarus und Ukraine, https://de.connection-ev.org/article-3608 , Zugriff 19.10.2022

 Connection e.V. (24.3.2022): Kriegsdienstverweigerung und Desertion in Belarus, Russische Föderation und Ukraine, https://de.connection-ev.org/article-3516 , Zugriff 28.7.2022

 Guardian (27.5.2022): 115 Russian national guard soldiers sacked for refusing to fight in Ukraine, https://www.theguardian.com/world/2022/may/27/115-russian-national-guard-soldiers-sacked-for-refusing-to-fight-in-ukraine , Zugriff 27.7.2022

 Guardian (12.5.2022): ‘They were furious’: the Russian soldiers refusing to fight in Ukraine, https://www.theguardian.com/world/2022/may/12/they-were-furious-the-russian-soldiers-refusing-to-fight-in-ukraine , Zugriff 27.7.2022

 Kremlin.ru [Russland] (14.7.2022): Федеральный закон от 26.02.1997 г. № 31-ФЗ 'О мобилизационной подготовке и мобилизации в Российской Федерации' [Föderales Gesetz vom 26.02.1997, № 31-ФЗ, Über die Vorbereitung auf die Mobilmachung und über die Mobilmachung in der Russischen Föderation] (in der Fassung vom 14.07.2022 № 336-ФЗ), http://kremlin.ru/acts/bank/10602 , Zugriff 22.9.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (17.3.2022): Auskunft der Botschaft, per E-Mail

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2021): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2021 (Stand 30.6.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.7.2022

 RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (22.8.2022): Russia's Wording On Ukraine Invasion Limits Its Coercive Powers, Says British Intelligence, https://www.rferl.org/a/russia-recruiting-soldiers-ukraine-invasion/31999227.html , Zugriff 26.8.2022

 RG – Rossijskaja Gaseta (Российская газета) [Russland] (24.9.2022): Путин подписал пакет поправок в УК о военной службе [Putin unterzeichnete ein Paket an Änderungen des StGB zum Thema Militärdienst], https://rg.ru/2022/09/24/putin-podpisal-paket-popravok-v-uk-o-voennoj-sluzhbe.html , Zugriff 30.9.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (24.9.2022): Федеральный закон от 24.09.2022 № 365-ФЗ 'О внесении изменений в Уголовный кодекс Российской Федерации и статью 151 Уголовно-процессуального кодекса Российской Федерации' [Föderales Gesetz vom 24.09.2022, № 365-ФЗ, 'Über Änderungen des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation und Änderungen des § 151 Strafprozessordnung der Russischen Föderation'], http://publication.pravo.gov.ru/Document/View/0001202209240002 , Zugriff 30.9.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (14.7.2022a): ФЕДЕРАЛЬНЫЙ ЗАКОН 'О воинской обязанности и военной службе' [Föderales Gesetz 'Über die Wehrpflicht und den Militärdienst'] (Nr. 278-ФЗ), http://pravo.gov.ru/proxy/ips/?docbody=&nd=102052265 , Zugriff 26.8.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (14.7.2022b): ФЕДЕРАЛЬНЫЙ ЗАКОН 'О порядке выезда из Российской Федерации и въезда в Российскую Федерацию' [Föderales Gesetz 'Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation'] (Nr. 357-ФЗ), http://pravo.gov.ru/proxy/ips/?docbody&nd=102043016 , Zugriff 29.7.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (28.5.2022): Кодекс Российской Федерации об административных правонарушениях [Kodex der Russischen Föderation über Verwaltungsübertretungen] (Nr. 141-ФЗ), http://pravo.gov.ru/proxy/ips/?docbody&nd=102074277 , Zugriff 20.7.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (25.3.2022): Уголовный кодекс Российской Федерации [Strafgesetzbuch der Russischen Föderation] (Nr. 63-ФЗ), http://pravo.gov.ru/proxy/ips/?docbody&nd=102041891 , Zugriff 20.7.2022

 Standard, Der (22.9.2022): EU-Minister wollen weitere Sanktionen gegen Russland ausarbeiten, https://www.derstandard.at/jetzt/livebericht/2000139300207/eu-minister-einigen-sich-auf-verschaerfung-der-russland-sanktionenatomenergiebehoerde-fuehrt?responsive=false , Zugriff 22.9.2022

 Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 02.03.2022

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegende Zahl der anhängigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Stärkung des Gerichtshofs (GIZ 1.2021a). Die Verfassung postuliert die Russische Föderation als Rechtsstaat. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Für die Russische Föderation gibt es, wie für jedes der Föderationssubjekte, einen Menschenrechtsbeauftragten. Die Amtsinhaberin Moskalkowa (seit 2016), ehemalige Generalmajorin der Polizei, geht nicht ausreichend gegen die wichtigsten Fälle der Verletzung von Menschenrechten, insbesondere den Missbrauch staatlicher Macht, vor. Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland hat folgende UN-Übereinkommen ratifiziert (AA 2.2.2021):

 Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

 Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

 Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

 Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

 Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)

 Behindertenrechtskonvention (AA 2.2.2021).

Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 309 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat 94 dieser Empfehlugen nicht angenommen und weitere 34 lediglich teilweise angenommen. Die nächste Sitzung für Russland im UPR-Verfahren wird im Mai 2023 stattfinden. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert. Finanzielle Entschädigungen werden üblicherweise gewährt, dem vom EGMR monierten Umstand aber nicht abgeholfen [Anm.: Zur mangelhaften Umsetzung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 2.2.2021). Besorgnis wurde u.a. auch hinsichtlich der Missachtung der Urteile von internationalen Menschenrechtseinrichtungen (v.a. des EGMR), des fehlenden Zugangs von Menschenrechtsmechanismen zur Krim, der Medienfreiheit und des Schutzes von Journalisten, der Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft geäußert (ÖB Moskau 6.2021).

Durch eine zunehmende Einschränkung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Gesetzgebung und Praxis wurde die Menschenrechtsbilanz Russlands weiter verschlechtert. Wer versuchte, diese Rechte wahrzunehmen, musste mit Repressalien rechnen, die von Schikane bis hin zu Misshandlungen durch die Polizei, willkürlicher Festnahme, hohen Geldstrafen und in einigen Fällen auch Strafverfolgung und Inhaftierung reichten (AI 16.4.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021).

Einerseits wird in Russland soziales Engagement und freiwillige soziale Arbeit (etwa auch in Zeiten der COVID-19-Pandemie) begrüßt und unterstützt. Sogenannte 'Bürgerkammern' sollen als Dialogplattform zwischen der Bevölkerung und dem Staat dienen. Andererseits wurde der Freiraum für eine kritische Zivilgesellschaft seit den Protesten 2011/2012 immer weiter eingeschränkt. Im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet. Kritische inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt (ÖB Moskau 6.2021) und sehen sich in manchen Fällen sogar Bedrohungen oder tätlichen Angriffen bzw. strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt (ÖB Moskau 6.2021; vgl. FH 3.3.2021, HRW 13.1.2022). Der Einfluss des konsultativen 'Rats beim Präsidenten der Russischen Föderation für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und Menschenrechte' unter dem Vorsitz von Waleri Fadejew ist begrenzt. Er befasst sich in der Regel nicht mit Einzelfällen, sondern mit grundsätzlichen Fragen wie Gesetzesentwürfen, und seine Stellungnahmen zu dem Verlauf von Demonstrationen im Sommer 2019 in Moskau blieben ohne Folge (AA 2.2.2021).

Rassismus und Xenophobie richten sich in Russland traditionell vor allem gegen Migranten aus Zentralasien, Personen aus dem Kaukasus und vermehrt auch gegen dunkelhäutige Personen. Weitere Opfer von Hassverbrechen sind ideologische Gegner (Angriffe v.a. der nationalistischen Gruppierung SERB), LGBTIQ-Personen und Obdachlose. Die Zahl rassistischer Morde und Gewaltverbrechen in den vergangenen Jahren ist gesunken, und insbesondere Angriffe durch Neonazi-Gruppierungen sind beträchtlich zurückgegangen. Anti-LGBTIQ-Rhetorik ist nunmehr eine der am weitesten verbreiteten Formen von Hassreden. Der Islam wird häufig mit Terrorismus in Verbindung gebracht. Die häufigsten Opfer rassistischer Gewalt sind Zentralasiaten, andere 'nicht-slawisch' aussehende Personen, Roma und dunkelhäutige Personen. Die Zahl der Opfer bei Hassverbrechen ist zwar klar geringer als noch vor 10 Jahren, dennoch aber nicht unbedeutend. Keinen Rückgang gab es bei Angriffen gegen Mitglieder oppositioneller Gruppierungen (ÖB Moskau 6.2021).

Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Den Hintergrund bilden in ihrem Ausmaß weiter rückläufige bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien (AA 2.2.2021). Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend 'Aufständische' und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf , Zugriff 12.3.2021

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 12.3.2021

 AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html , Zugriff 12.3.2021

 FH – Freedom House (3.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 12.3.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 12.3.2021

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html , Zugriff 3.2.2022

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 30.9.2021

 Tschetschenien

Letzte Änderung: 02.03.2022

NGOs beklagen regelmäßig schwere Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen mitunter Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten, aber auch Einzelpersonen, welche das Regime kritisieren (ÖB Moskau 6.2021). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Das Republiksoberhaupt von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, äußert regelmäßig Drohungen gegen Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und Minderheiten. Teilweise werden Bilder von Personen dieser Gruppen mit einem Fadenkreuz überzogen und auf Instagram veröffentlicht, teilweise droht er, sie mit Sanktionen zu belegen, da sie Feinde des tschetschenischen Volkes seien, oder er ruft ganz unverhohlen dazu auf, sie umzubringen. Nach einem kritischen Artikel über mangelnde Hygiene-Vorkehrungen gegen COVID-19 drohte Kadyrow der Journalistin Jelena Milaschina öffentlich (AA 2.2.2021).

Tendenzen zur verstärkten Verwendung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen. Es herrscht ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellem Gewohnheitsrecht (adat) einschließlich der Tradition der Blutrache und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen. Nach wie vor gibt es Clans, welche Blutrache praktizieren (AA 2.2.2021). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. BAMF 11.2019).

2017 und laut der NGO LGBTI Network in geringem Ausmaß bis 2019 kam es zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021, HRW 17.1.2019). Es gibt Berichte über Personen, die nach Folterungen gestorben sind [vgl. Kapitel Sexuelle Minderheiten] (FH 3.3.2021). Die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta berichtete im Sommer 2017 über die angeblichen außergerichtlichen Tötungen von 27 Personen zu Beginn des Jahres im Zuge von Massenfestnahmen nach dem Tod eines Polizisten. Im März 2018 entschied das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation, kein Strafverfahren in der Sache zu eröffnen. Die russische Menschenrechtsombudsperson wurde Berichten zufolge bei der Untersuchung dieser Vorgänge in Tschetschenien bewusst getäuscht. Im März 2021 publizierte die Nowaja Gazeta die Aussagen eines tschetschenischen Polizisten, welcher Augenzeuge der Festnahmen und außergerichtlichen Tötungen war (ÖB Moskau 6.2021).

Gewaltsame Angriffe, die in den vergangenen Jahren auf Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien verübt worden waren, blieben nach wie vor straffrei. Im Januar 2017 nutzte der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, seinen Instagram-Account, um unverhohlen eine Drohung gegen Grigori Schwedow, den Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals Caucasian Knot, auszusprechen. Im April erhielten Journalisten von der unabhängigen Tageszeitung Nowaja Gazeta Drohungen aus Tschetschenien, nachdem sie über die dortige Kampagne gegen homosexuelle Männer berichtet hatten. Auch Mitarbeiter des Radiosenders Echo Moskwy, die sich mit den Kollegen von Nowaja Gazeta solidarisch erklärten, wurden bedroht (AI 22.2.2018). Schikanen, Strafverfahren und körperliche Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger werden weiterhin begangen (AI 7.4.2021). Im Februar 2020 wurden die bekannte Journalistin der Nowaja Gazeta, Jelena Milaschina, und eine Menschenrechtsanwältin angegriffen und mit Schlägen traktiert. Die Nowaja Gazeta verlangte eine Entschuldigung des Republiksoberhauptes von Tschetschenien. Die Union der russischen Journalisten und das Helsinki Komitee verurteilten diesen Vorfall aufs Schärfste. Auch die OSZE und die russische Menschenrechtsorganisation Komitee gegen Folter verlangen von den russischen Behörden eine Aufklärung des Vorfalls (Moscow Times 7.2.2020). In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte über Personen, die bloß aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 6.2020). [Bezüglich Morde bzw. Vorfälle gegen tschetschenische Kritiker in Europa und Russland siehe Kapitel Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein].

Die Sicherheitslage hat sich deutlich verbessert und kann als stabil, wenn auch volatil, bezeichnet werden. Die Stabilisierung erfolgte jedoch um den Preis gravierender Menschenrechtsverletzungen, das heißt menschen- und rechtsstaatswidriges Vorgehen der Behörden gegen Extremismusverdächtige und äußerst engmaschige Kontrolle der Zivilgesellschaft. Regimekritiker und Menschenrechtler müssen mit Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zu Mord rechnen. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen (AA 2.2.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 12.3.2021

 AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 11.3.2020

 AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html , Zugriff 16.2.2022

 BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (11.2019): Länderreport 21 Russische Föderation, LGBTI in Tschetschenien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/684671/685623/685628/6029277/21602088/Deutschland___Bundesamt_f%C3%Bcr_Migration_und_Fl%C3%Bcchtlinge%2C_L%C3%A4nderreport_21_%2D_Russische_F%C3%B6deration_%28Stand_November_2019%29%2C__November_2019.pdf?nodeid=21601757&vernum=-2 , Zugriff 12.3.2020

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 12.3.2021

 HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html , Zugriff 11.3.2020

 Moscow Times (7.2.2020): Prominent Russian Journalist, Lawyer Attacked in Chechnya, https://www.themoscowtimes.com/2020/02/07/prominent-russian-journalist-lawyer-attacked-in-chechnya-a69199 , Zugriff 26.3.2020

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 12.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 30.9.2021

 Dagestan

Letzte Änderung: 02.03.2022

Die Menschenrechtslage ist in Dagestan grundsätzlich besser als im benachbarten Tschetschenien. Die Kontrolle der Zivilgesellschaft ist weniger ausgeprägt, und die Bewohner Dagestans sind im direkten Vergleich hinsichtlich persönlicher Freiheit bessergestellt. Doch auch in Dagestan gehen mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einher, darunter Entführungen und Verschwindenlassen. Von dem Vorgehen der Sicherheitsbehörden wegen Verdachts auf Extremismus sind nicht nur Menschenrechtsorganisationen, sondern auch NGOs im sozialen/humanitären Bereich oder regierungskritische Journalisten betroffen. Im Gegensatz zu Tschetschenien können NGOs in Dagestan tätig werden, sich mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen treffen, vor Ort recherchieren und sogar Verfahren gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte wegen Foltervorwürfen anstrengen. Die NGO 'Komitee gegen Folter' arbeitet mit den Sicherheitsbehörden in Dagestan im Rahmen des Strafvollzugs zusammen (AA 2.2.2021). Die Haltung der Behörden in Dagestan ist milder gegenüber der Presse und den Institutionen der Zivilgesellschaft, die auch ein höheres Maß an Protestaktivität aufweisen als andere russische Regionen. Darüber hinaus sind Regierungs- und regierungsnahe Strukturen in Dagestan gegenüber Aktivisten etwas toleranter als in anderen Teilen Russlands. Während Demonstrationen verboten und aufgelöst werden können, werden jedoch manche Demonstrationen toleriert. Wenn dies nicht der Fall ist, gibt es starken Widerstand von Aktivisten, welche die Entscheidungen der Behörden mit rechtlichen Schritten erfolgreich anfechten. Obwohl es registrierte NGOs und spezifische Projekte gibt, ist die Zivilgesellschaft eher durch soziale Bewegungen und Initiativen vertreten. Nur wenige Organisationen in Dagestan sind ausschließlich im Bereich der Menschenrechte tätig. Zu denen, die dies tun, gehört Memorial. Eine andere Menschenrechtsorganisation - 'Patientenmonitor' - arbeitet daran, die Rechte von Patienten zu schützen, die in staatlichen Einrichtungen behandelt werden. Die Hauptschwierigkeiten der Menschen bestehen darin, ambulant kostenlose Medikamente zu erhalten, Medikamente und Dienstleistungen in stationären Einrichtungen zu erhalten sowie Analysen und diagnostische Tests durchführen zu lassen. 'Patientenmonitor' bietet Menschen, deren Rechte nicht beachtet werden, kostenlose Rechtshilfe und bekämpft Korruption in medizinischen Einrichtungen. Auch Umweltaktivisten sind in Dagestan aktiv (CSIS 1.2020).

Wenngleich von offizieller Seite im Jänner 2019 die praktisch vollständige Liquidierung des bewaffneten Widerstands in Dagestan verkündet wurde, kommt es immer wieder zu bewaffneten Zwischenfällen. Nach Einschätzung von Experten hat sich die Struktur des bewaffneten Widerstands geändert. Es soll keine Lager in den Wäldern mehr geben, stattdessen werden Anschläge von Personen, die nach außen hin ein normales Leben führen, vorbereitet. Bewaffnete Gruppen stehen offiziellen Sicherheitsorganen gegenüber, dem Partisanenkrieg auf der einen Seite wird mit Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung auf der anderen Seite begegnet. Im Fokus der Sicherheitsbehörden stehen mutmaßliche Terroristen bzw. Anhänger extremistischer Überzeugungen. Entführungen und Fälle von Verschwindenlassen, Folter und außergerichtliche Tötungen kommen ebenso vor. Bei der Vorgehensweise bei Verhaftungen von Verdächtigen im Zuge der Terrorbekämpfung sind mitunter auch Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste gekoppelt mit der noch immer instabilen sozio-ökonomischen Lage in Dagestan schafft wiederum einen weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. Es kommt nach wie vor zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Extremisten (ÖB Moskau 6.2021).

In Bezug auf Beobachtungslisten von Salafisten ist zu sagen, dass in den meisten Quellen derzeit keine Hinweise auf die Weiterführung dieser Listen zu finden sind [vgl. dazu Kapitel Religionsfreiheit/Dagestan] (HRW 13.1.2022; vgl. FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, AA 2.2.2021, AI 7.4.2021). Nach Einschätzung des Menschenrechtszentrums Memorial dürften solche Listen inoffiziell weiterhin geführt werden, wenngleich Beschwerden diesbezüglich abgenommen haben und Grundrechtsverletzungen nicht mehr im früheren Ausmaß vorkommen (ÖB Moskau 6.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 12.3.2021

 AI - Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html , Zugriff 12.3.2021

 AI - Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html , Zugriff 16.2.2022

 CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-website-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX , Zugriff 12.3.2021

 FH - Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 12.3.2021

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html , Zugriff 3.2.2022

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 30.9.2021

 Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein

Letzte Änderung: 02.03.2022

Die tschetschenische Führung unterdrückt weiterhin rücksichtslos jede Form von Dissens (HRW 13.1.2022). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen Kritiker und Journalisten, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2021). Ramsan Kadyrow versucht, dem Terrorismus und möglicher Rebellion in Tschetschenien unter anderem durch Methoden der Kollektivverantwortung zu begegnen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher (AA 2.2.2021; vgl. FH 3.3.2021). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021). Auch Familienangehörige, Freunde und Bekannte oder andere mutmaßliche Unterstützer von Untergrundkämpfern können zur Verantwortung gezogen und bestraft werden. Verwandte von terroristischen Kämpfern stehen häufig unter dem Verdacht, diese zu unterstützen bzw. mit deren Ideologie zu sympathisieren, und sind daher von Grund auf eher der Gefahr öffentlicher Demütigung, Entführung, Misshandlung und Folter ausgesetzt (sog. Sippenhaft) (ÖB Moskau 6.2021). Die Mitverantwortung wurde sogar durch Bundesgesetze festgelegt, so z.B. ein 2013 verabschiedetes Gesetz, das Familienangehörige von Terrorverdächtigen verpflichtet, für Schäden, die durch einen Anschlag entstanden sind, aufzukommen, und die Behörden in diesem Zusammenhang auch zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten der Familien ermächtigt (ÖB Moskau 6.2020). Es kommt vor, dass Personen, welchen die Unterstützung von Terroristen vorgeworfen wird, von Sicherheitskräften drangsaliert werden. Familienangehörige von mutmaßlichen Terroristen können ihre Arbeitsstelle verlieren, Kinder können Schwierigkeiten bei der Aufnahme in die Schule haben, jugendliche und erwachsene Söhne können Schwierigkeiten mit den tschetschenischen Sicherheitsorganen bekommen (inkl. unrechtmäßiger Festnahmen, Prügel, etc.) (ÖB Moskau 6.2021). Weiters hat Ramsan Kadyrow im Jänner 2017 die Sicherheitskräfte angewiesen, ohne Vorwarnung auf Rebellen zu schießen, um Verluste in den Reihen der Sicherheitskräfte zu vermeiden, und auch denen gegenüber keine Nachsicht zu zeigen, die von den Rebellen in 'die Irre geführt wurden' (Caucasian Knot 25.1.2017).

Angehörigen von Aufständischen bleiben laut Tanja Lokschina von Human Rights Watch in Russland nicht viele Möglichkeiten, um Kontrollen oder Druckausübung durch Behörden zu entkommen. Eine Möglichkeit ist es, die Republik Tschetschenien zu verlassen, was sich jedoch nicht jeder leisten kann, oder man sagt sich öffentlich vom aufständischen Familienmitglied los. Vertreibungen von Familien von Aufständischen kommen vor (Meduza 31.10.2017). Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken. Die freie Wahl des Wohnorts gilt für alle Einwohner der Russischen Föderation, auch für jene des Nordkaukasus. Wird eine Person allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es den Sicherheitsorganen möglich, diese zu finden. Dies gilt nach Einschätzung von Experten auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Im Mai 2016 wandte sich Kadyrow in einem TV-Beitrag mit einer deutlichen Warnung vor Kritik an die in Europa lebende tschetschenische Diaspora: Diese werde für jedes ihrer Worte ihm gegenüber verantwortlich sein, man wisse, wer sie seien und wo sie lebten, sie alle seien in seinen Händen, so Kadyrow. Das tschetschenische Oberhaupt hat auch verlautbart, die Bande zu den tschetschenischen Gemeinschaften außerhalb der Teilrepublik aufrechterhalten zu wollen, wobei unabhängigen Medien zufolge auch Familienmitglieder in Tschetschenien für als ungebührlich empfundenes Verhalten Angehöriger im Ausland gemaßregelt bzw. unter Druck gesetzt werden. Vereinzelt sind Fälle gezielter Tötungen politischer Gegner im Ausland bekannt. Prominente Beispiele sind die Brüder Yamadayev, von denen einer in Moskau (2008) und ein anderer in Dubai (2009) getötet wurde, während ein dritter sich mit Kadyrow ausgesöhnt haben soll, oder Umar Israilow, welcher 2009 in Wien ermordet wurde. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können. Auf das Potential zur Instrumentalisierung dieser im Einzelfall bestehenden Gefährdungslage wird allerdings auch dann zurückgegriffen, wenn sozio-ökonomische Motive hinter dem Versuch der Migration nach Westeuropa stehen, wie auch von menschenrechtlicher Seite eingeräumt wird. Analysten weisen überdies auf den dynamischen Wandel des politischen Machtgefüges in Tschetschenien sowie gegenüber dem Kreml hin. Prominentes Beispiel dafür ist der Kadyrow-Clan selbst, der im Zuge der Tschetschenienkriege vom Rebellen- zum Vasallentum wechselte. Auch innerhalb Russlands werden immer wieder Fälle bekannt, in denen tschetschenische Sicherheitsorgane außerhalb der Republik tätig werden (ÖB Moskau 6.2021): Im September 2020 wurde Salman Tepsurkajew, Moderator des Kadyrow-kritischen Telegram-Kanals '1Adat', aus Gelendschik (Region Krasnodar) entführt und nach Tschetschenien gebracht, wo er gefoltert und öffentlich erniedrigt wurde (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Im Februar 2021 wurden zwei Personen von Polizisten aus Nischnij Nowgorod entführt, wohin sie mit Hilfe des LGBT-Netzwerks geflohen waren, und nach Tschetschenien gebracht, wo ihnen 'Zusammenarbeit mit illegalen bewaffneten Gruppen' vorgeworfen wird. Im Juni 2021 wurde die Tschetschenin Chalimat Taramowa, welche wegen häuslicher Gewalt und Drohungen aus Tschetschenien geflohen war, von Polizisten in einem Krisenzentrum für Frauen in Dagestan festgenommen und zurück nach Tschetschenien gebracht, wo sie den Familienangehörigen, vor welchen sie u.a. wegen ihrer sexuellen Orientierung geflohen war, übergeben wurde. Der Vater ist Berichten zufolge ein hochrangiger tschetschenischer Beamter (ÖB Moskau 6.2021).

Salafisten werden als aktive oder potenzielle Extremisten und Terroristen wahrgenommen. Die Verfolgung von Salafisten passiert zu einem großen Teil über außergesetzliche Mechanismen, vor allem in Tschetschenien, wo seit Anfang der 2000er Jahre zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen und außergerichtlichen Hinrichtungen von Vertretern eines 'nicht traditionellen Islam' stattfanden, der jedoch oft keine Verbindung zum terroristischen Untergrund hatte (Memorial 10.2020). Die Anzahl der Rebellen in Tschetschenien ist schwer zu konkretisieren. Die Anzahl der tschetschenischen Rebellen ist sicherlich geringer als jene z.B. in Dagestan, wo der islamistische Widerstand sein Zentrum hat. Sie verstecken sich in den bergigen und bewaldeten Gebieten Tschetscheniens und bewegen sich hauptsächlich zwischen Tschetschenien und Dagestan, weniger oft auch zwischen Tschetschenien und Inguschetien. Von tschetschenischen Sicherheitskräften werden Entführungen begangen. In Tschetschenien selbst ist der Widerstand nicht sehr aktiv, sondern hauptsächlich in Dagestan. Die Kämpfer würden im Allgemeinen auch nie einen Fremden um Vorräte, Nahrung, Medizin oder Unterstützung bitten, sondern immer nur Personen fragen, denen sie auch wirklich vertrauen, so beispielsweise Verwandte, Freunde oder Bekannte (DIS 1.2015).

Nach dem terroristischen Anschlag auf Grosny am 4.12.2014 nahm Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow die Verwandten der Attentäter in Sippenhaft. Kadyrow verlautbarte auf Instagram kurz nach der Tat, dass, wenn ein Kämpfer in Tschetschenien einen Mitarbeiter der Polizei oder einen anderen Menschen töte, die Familie des Kämpfers sofort ohne Rückkehrrecht aus Tschetschenien ausgewiesen werde. Ihr Haus werde zugleich bis auf das Fundament abgerissen. Tatsächlich beklagte einige Tage später der Leiter der tschetschenischen Filiale des 'Komitees gegen Folter', dass den Angehörigen der mutmaßlichen Täter die Häuser niedergebrannt worden sind (Standard.at 14.12.2014; vgl. Meduza 31.10.2017). Es handelte sich um 15 niedergebrannte Häuser (The Telegraph 17.1.2015; vgl. Meduza 31.10.2017). Ein weiterer Fall ist das 2016 niedergebrannte Haus von Ramasan Dschalaldinow. Er hatte sich in einem Internetvideo bei Präsident Putin über Behördenkorruption und Bestechungsgelder beschwert (RFE/RL 18.5.2016). Ebenso wurden im Jahr 2016 nach einem Angriff von zwei Aufständischen auf einen Checkpoint in der Nähe von Grosny die Häuser ihrer Familien niedergebrannt (US DOS 3.3.2017). Auch Human Rights Watch berichtet im Jahresbericht 2016, dass Häuser niedergebrannt wurden [damit sind wohl die eben angeführten Fälle gemeint] (HRW 12.1.2017). Die Jahresberichte für das Jahr 2014 von Amnesty International (AI), US Department of States (US DOS), Human Rights Watch (HRW) und Freedom House (FH) berichten vom Niederbrennen von Häusern als Vergeltung für die oben genannte Terrorattacke auf Grosny vom Dezember 2014. Für die Jahre 2017, 2018, 2019, 2020 und 2021 gab es in den einschlägigen Berichten keine Hinweise auf das Niederbrennen von Häusern (AI 22.2.2018; vgl. US DOS 20.4.2018, HRW 18.1.2018, FH 1.2018, US DOS 13.3.2019, HRW 17.1.2019, FH 4.2.2019, HRW 14.1.2020, FH 4.3.2020, US DOS 11.3.2020, HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, AA 2.2.2021, HRW 13.1.2022, AI 7.4.2021).

Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen. Laut einer Analyse des Journalisten Vadim Dubow aus dem Jahr 2016 emigrierten die meisten Tschetschenen aus rein ökonomischen Gründen: Tschetschenien ist zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht erstreckt sich allerdings nicht über die Grenzen Tschetscheniens hinaus. Dieser Analyse wird von anderen Experten widersprochen. Wirtschaftliche Gründe spielten demnach eine untergeordnete Rolle bei der Entscheidung, Tschetschenien zu verlassen. Andere Kommentatoren verweisen wiederum auf die Rivalität zwischen verschiedenen islamischen Strömungen in Tschetschenien, insbesondere zwischen dem traditionellen Sufismus und dem als Fremdkörper kritisierten Salafismus. Menschenrechtsaktivisten wiederum sehen in der Darstellung von Asylwerbern aus Tschetschenien als Wirtschaftsflüchtlinge eine Strategie des regionalen Oberhaupts Kadyrow (ÖB Moskau 6.2021). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020). Beispielsweise wurde im August 2019 der ethnische Tschetschene Selimchan Changoschwili aus dem georgischen Pankisi-Tal in Berlin auf offener Straße ermordet. Er hat im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft und dürfte nicht, wie teilweise in den Medien kolportiert, Islamist gewesen sein, sondern ein Kämpfer in der Tradition der Republik Itschkeria. Auch soll er damals enge Verbindungen zu dem damaligen moderaten Präsidenten Aslan Maschadow gehabt haben (Tagesschau.de 28.8.2019). Der sehr prominente tschetschenische Separatistenpolitiker im Exil, Achmad Sakaew [Ministerpräsident der tschetschenischen Exilregierung und Vertreter von Itschkeria], gab 2020 eine Erklärung ab, in der er Folterungen in Tschetschenien verurteilte. Die tschetschenischen Behörden zwangen Sakaews Verwandte sofort, sich öffentlich von ihm loszusagen (HRW 13.1.2021).

Ramsan Kadyrow droht öffentlich und ungestraft damit, Blogger wegen der Verbreitung von 'Zwietracht und Klatsch' einzuschüchtern, ins Gefängnis zu stecken und zu töten (AI 16.4.2020). Ein Beispiel hierfür ist der wohl populärste Kritiker Kadyrows. Der in Europa lebende Blogger Tumso Abdurachmanow wird häufig von hochrangigen Leuten aus Kadyrows Umfeld bedroht und angegriffen (Deutschlandfunk.de 11.3.2019; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Mitte 2019 erklärte der Vorsitzende des tschetschenischen Parlaments und enger Vertrauter von Ramsan Kadyrow, Magomed Daudov (auch bekannt als 'Lord'), dem Blogger die Blutfehde (BBC 27.2.2020), nachdem Abdurachmanow den verstorbenen Vater von Ramsan Kadyrow, Achmad Kadyrow, als Verräter bezeichnet hatte (RFE/RL 27.2.2020). Im Februar 2020 wurde Abdurachmanow in seiner Wohnung von einem mit einem Hammer bewaffneten Mann angegriffen. Er konnte den Angreifer abwehren und hat überlebt (BBC 27.2.2020; vgl. RFE/RL 27.2.2020). Ein anderer Blogger wurde Anfang des Jahres 2020 mit 135 Stichwunden tot in einem Hotel im französischen Lille aufgefunden (SZ 4.2.2020; vgl. Zeit.de 5.7.2020, ÖB Moskau 6.2021). Der aus Tschetschenien stammende Imran Aliew war als Blogger unter dem Namen 'Mansur Stary' bekannt (Caucasian Knot 28.5.2020). Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Caucasian Knot hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Auf Youtube hatte der Tschetschene Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020). Im Juli 2020 wurde in Gerasdorf bei Wien ein weiterer politischer Blogger getötet (Kurier.at 23.7.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Der Mann, der sich Anzor aus Wien nannte, hat auf Youtube mehrere Videos veröffentlicht, in denen er den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow kritisierte. Die Angehörigen in Tschetschenien haben sich - vermutlich unter Druck - in einem Video von ihrem Verwandten distanziert. Gleichzeitig haben sie die Verantwortung für seine Tötung übernommen (Kurier.at 23.7.2020). Ein weiteres Beispiel ist der prominente Menschenrechtsaktivist und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien, Ojub Titiew, der nach Protesten aus dem In- und Ausland inzwischen unter Auflagen aus der Haft entlassen wurde. Er war wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes im März 2019 zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Er selbst und Familienangehörige haben nach Angaben von Memorial Tschetschenien verlassen (AA 2.2.2021).

Ein Sicherheitsrisiko für Russland stellt die Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere Tausend Personen umfasste. Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten nach Russland zurückkehren, wird gerichtlich vorgegangen. Der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB informierte im Dezember 2019, dass ca. 5.500 russische Bürger sich im Ausland einer terroristischen Organisation angeschlossen und an Kriegshandlungen teilgenommen haben und dass gegenüber 4.000 in Russland eine Strafverfolgung eingeleitet wurde. Etwa 3.000 der insgesamt 5.000 Kämpfer stammten aus dem Nordkaukasus. Offiziellen russischen Vertretern zufolge kehren angesichts einer drohenden gerichtlichen Verfolgung in Russland nur wenige FTFs (foreign terrorist fighters) nach Russland zurück. Frauen und Kinder von FTFs, die keine Verbrechen begangen haben, werden von Russland zurückgeholt (v.a. Kinder), diese werden soweit möglich rehabilitiert und resozialisiert. Laut einem Bericht des Conflict Analysis & Prevention Center vom März 2020 wurde von den Tausenden Kämpfern, die aus dem Nordkaukasus nach Syrien oder in den Irak zogen, der Großteil getötet. In den letzten Jahren repatriiert Russland aktiv die Kinder und zum Teil auch die Ehefrauen dieser Kämpfer zurück nach Russland. Laut einer Pressemeldung vom August 2020 wurden bisher 122 russische Kinder aus dem Irak und 35 aus Syrien nach Russland zurückgebracht, die Rückholung weiterer Kinder ist geplant. Der Umgang mit Familienangehörigen von (ehemaligen) Kämpfern variiert von Region zu Region. Die Maßnahmen reichen von Beobachtung, über soziale Diskriminierung bis zu strafrechtlichen Verurteilungen. In Tschetschenien war es weiblichen Rückkehrern gestattet, nach Hause zurückzukehren. In Dagestan wurden Frauen – angesichts aktiver weiblicher Beteiligung im Aufstand - als Sicherheitsrisiko wahrgenommen und zu 7 – 7,5 Jahren Haft verurteilt, wobei die Haftstrafen aufgrund von Fürsorgepflichten für kleine Kinder aufgeschoben wurden, bis die Kinder 14 Jahre alt sind. Vor dem Verbot des sogenannten IS war die Rückkehr nach Russland einfacher (auch für Männer) und die Konsequenzen milder. Grundsätzlich werden betroffene Familienangehörige als Hochrisikogruppe betrachtet und befinden sich unter Aufsicht der Behörden. Formen der Diskriminierung sind etwa Verweigerung eines Kindergarten- oder Schulplatzes oder Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden (ÖB Moskau 6.2021).

Laut einem Experten für den Kaukasus kehren nur sehr wenige IS-Anhänger nach Russland zurück. Bei einer Rückkehr aus Gebieten, die unter Kontrolle des sogenannten IS stehen, werden sie strafrechtlich verfolgt. Nachdem der sogenannte IS im Nahen Osten weitgehend bezwungen wurde, besteht die Möglichkeit, dass überlebende IS-Kämpfer nordkaukasischer Provenienz abgesehen von einer Rückkehr nach Russland entweder in andere Konfliktgebiete weiterziehen oder sich der Diaspora in Drittländern anschließen könnten. Daraus kann sich auch ein entsprechendes Sicherheitsrisiko für Länder mit umfangreichen tschetschenischen Bevölkerungsanteilen ergeben (ÖB Moskau 6.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 15.3.2021

 AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 15.3.2021

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 AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html , Zugriff 16.2.2022

 BBC (27.2.2020): Chechen blogger Tumso Abdurakhmanov 'survives hammer attack', https://www.bbc.com/news/world-europe-51656571 , Zugriff 15.3.2021

 CACI – Central Asia-Caucasus Analyst (25.2.2020): Kadyrov Continues to Target Enemies Abroad, http://www.cacianalyst.org/publications/analytical-articles/item/13605-kadyrov-continues-to-target-enemies-abroad.html , Zugriff 15.3.2021

 Caucasian Knot (28.5.2020): Ramzan Kadyrov offers forgiveness to Ichkeria supporters amid killings in Europe, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51025/ , Zugriff 15.3.2021

 Caucasian Knot (25.1.2017): Кадыров разрешил чеченским силовикам стрелять без предупреждения [Kadyrow hat den tschetschenischen Sicherheitskräften erlaubt, ohne Vorwarnung zu schießen], zitiert nach: ACCORD (7.7.2017): a-10223, https://www.ecoi.net/de/dokument/1406510.html , Zugriff 15.3.2021

 Deutschlandfunk.de (11.3.2019): Youtube-Blogger Abdurachmanov droht Abschiebung, https://www.deutschlandfunk.de/kadyrow-kritiker-in-polen-youtube-blogger-abdurachmanov.795.de.html?dram:article_id=442725 , Zugriff 15.3.2021

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 15.3.2021

 FH – Freedom House (1.2018): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2017 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html , Zugriff 15.3.2021

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 HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html , Zugriff 3.2.2022

 Kleine Zeitung (3.2.2020): Gewalttat vermutet, Blogger aus Tschetschenien lag tot in Hotelzimmer, https://www.kleinezeitung.at/international/5763272/Gewalttat-vermutet_Blogger-aus-Tschetschenien-lag-tot-in-Hotelzimmer , Zugriff 15.3.2021

 Kurier.at (23.7.2020): Mord in Gerasdorf: Verwandte des Opfers übernehmen Verantwortung, https://kurier.at/chronik/wien/mord-in-gerasdorf-verwandte-des-opfers-uebernehmen-verantwortung/400979801 , Zugriff 15.3.2021

 Meduza (31.10.2017): Guilty by blood, https://meduza.io/en/feature/2017/10/31/guilty-by-blood , Zugriff 15.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf#page=25&zoom=auto ,-259,684, Zugriff 15.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 30.9.2021

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 RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (18.5.2016): Fearing Reprisals, Chechnya Whistle-Blower Keeps Family's Location Secret, https://www.rferl.org/a/russia-chechnya-whistle-blower-keeps-location-family-secret/27743431.html , Zugriff 15.3.2021

 Standard.at (14.12.2014): Tschetschenien: NGO-Büro in Grosny angezündet, http://derstandard.at/2000009372041/Tschetschenien-NGO-Buero-in-Grosny-abgefackelt , Zugriff 15.3.2021

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 The Telegraph (17.1.2015): Chechen leader targets families as insurgents swear loyalty to leader of Islamic State, https://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/russia/11352849/Chechen-leader-targets-families-as-insurgents-swear-loyalty-to-leader-of-Islamic-State.html , Zugriff 15.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices for 2016 – Russia, http://www.ecoi.net/local_link/337201/479965_de.html , Zugriff 15.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html , Zugriff 15.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (13.3.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004290.html , Zugriff 15.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 15.3.2021

 Zeit.de (5.7.2020): Tschetschene nahe Wien erschossen, https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-07/oesterreich-tschetschenien-mord-dissident-terrorverdacht , Zugriff 15.3.2021

 Meinungs- und Pressefreiheit, Internet

Letzte Änderung: 21.04.2022

Meinungs- und Pressefreiheit sind zwar verfassungsrechtlich garantiert (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021), die Wahrnehmung ist in der Praxis jedoch durch ein ständig dichter werdendes Netz einschränkender und bestrafender Vorschriften begrenzt (AA 2.2.2021). Am 1. April 2020 wurde ein Gesetz aus dem Jahr 2019 geändert, das 'Falschinformationen' unter Strafe stellt. Die neuen Bestimmungen verbieten es, "wissentlich Falschinformationen über Ereignisse zu verbreiten, die eine Gefahr für das Leben und die Sicherheit der Bevölkerung darstellen, und/oder über Maßnahmen der Regierung zum Schutz der Bevölkerung". Einzelpersonen drohen bis zu fünf Jahre Haft, wenn die Verbreitung der Information zu einer Körperverletzung oder zum Tod eines Menschen führt, für Medien sind hohe Geldstrafen vorgesehen. Auf Grundlage dieses Gesetzes wurden Hunderte Menschen in Verwaltungsverfahren zu Geldstrafen verurteilt, und gegen mindestens 37 Personen wurden Strafverfahren eingeleitet. Bei den Betroffenen handelte es sich zumeist um zivilgesellschaftliche Aktivisten, Journalisten und Blogger. Gegen mindestens fünf Medienunternehmen wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Die Zeitung Nowaja Gazeta und ihr Chefredakteur wurden im August und im September 2020 wegen Berichten über COVID-19 zu Geldstrafen verurteilt und angewiesen, die entsprechenden Artikel im Internet zu löschen (AI 7.4.2021). Ein weiteres Mittel der staatlichen Behörden, gegen kritische Stimmen in der Medienlandschaft vorzugehen, ist die 2012 verabschiedete Gesetzgebung zum Extremismus (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Sie sollte ursprünglich dabei helfen, rassistische und terroristische Straftaten im Land einzudämmen, wird von den Behörden jedoch aufgrund ihrer vagen Formulierung häufig überschießend angewendet. Diese Einschränkung der Grundrechte führt zu einem schwindenden Raum für eine unabhängige Zivilgesellschaft und ist durch ein hartes Durchgreifen gegen unabhängige politische Stimmen gekennzeichnet (ÖB Moskau 6.2021). Auch die 'Bedrohung der nationalen Sicherheit' dient regelmäßig als Rechtfertigung für Eingriffe in die Pressefreiheit und andere Grundrechte. Selbst ein schlichtes 'liken' oder 'retweeten' eines Beitrags, den die Behörden als 'extremistisch' einstufen, kann zu Strafen führen (AA 2.2.2021), darunter z.B. Kommentare über die Illegalität der Annexion der Krim. Mehrere Personen, von denen viele politisch nicht aktiv waren, wurden unter dieser Anti-Extremismus-Gesetzgebung verurteilt (ÖB Moskau 6.2021). Das oben erwähnte Gesetz zur 'Verbreitung von Falschnachrichten' sanktioniert die Verbreitung von 'fake news', die eine Gefährdung für Leib und Leben der Bevölkerung darstellen. Es wurden zahlreiche Strafen verhängt und der Strafrahmen im März 2020 erhöht (höhere Geldstrafen; bis zu fünf Jahre Haft). Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurde diese Gesetzgebung noch ausgedehnt. Seit April 2020 ist auch die Verbreitung von 'fake news' zur Pandemie strafbar (AA 2.2.2021; vgl. HRW 13.1.2021, FH 14.10.2020). Nach einer Schätzung haben die Behörden innerhalb von drei Monaten mindestens 170 Verwaltungs- und 42 Strafverfahren wegen angeblicher Online-Verbreitung von Falschinformationen über Covid-19 eingeleitet (HRW 13.1.2021). Im Frühjahr 2020 setzte die Regierung auch Überwachungssysteme ein, angeblich um das COVID-19-Quarantäneregime durchzusetzen (FH 14.10.2020). 2021 traten neue Gesetzesänderungen in Kraft, die die freie Meinungsäußerung weiter einschränken. Eine Änderung könnte es den Behörden ermöglichen, ein Verfahren wegen Beleidigung ohne einen Kläger und ein Opfer einzuleiten. Durch andere Änderungen wurde die Definition des Straftatbestands der Verleumdung erweitert und eine Freiheitsstrafe als mögliche Strafe eingeführt (HRW 13.1.2022). Die staatliche Kontrolle von Internet und sozialen Medien wird zunehmend verschärft (AA 2.2.2021; vgl. HRW 13.1.2022, FH 14.10.2020).

Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hat Ende Februar 2022 verboten, in der Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine Begriffe wie „Angriff“, „Invasion“ und „Krieg“ zu nutzen (ZO 26.2.2022). Die staatlichen Zensoren bestehen auf dem Euphemismus einer "militärischen Spezialoperation" (BR 8.3.2022). Werden die verbotenen Worte dennoch benutzt, drohen den Medien die Liquidierung durch ein Gerichtsurteil oder hohe Geldstrafen (Tagesspiegel 3.3.2022). Bei der Verbreitung von "fake news" über die russischen Streitkräfte und allen, die öffentlich die Armee "verunglimpfen" drohen bis zu 15 Jahre Haft (BR 8.3.2022). Tausende Demonstranten, die sich gegen den Krieg in der Ukraine positionierten, wurden verhaftet, zum Teil nur deshalb, weil sie leere Schilder oder Schilder mit der wortwörtlichen Aufschrift "Zwei Wörter" gehalten haben (T-Online 15.3.2022).

Ein Großteil der staatlichen Fernseh- und Printmedien steht unter staatlicher oder staatsnaher Kontrolle. Die wenigen unabhängigen bzw. kritischen Medien (z.B. TV-Sender Doschd, Radiosender Echo Moskwy, Zeitung Nowaja Gazeta) werden mit administrativen und finanziellen Mitteln unter Druck gesetzt (ÖB Moskau 6.2021; vgl. GIZ 1.2021a, FH 3.3.2021). Mittlerweile wurden Doschd und Echo Moskwy gesperrt (ZO 1.3.2022), die Nowaja Gazeta hat beschlossen bis Kriegsende weder online, noch auf Papier Texte zu veröffentlichen (BR 28.3.2022). Kritische Journalisten sind in Russland mit Drohungen, physischer Gewalt und Verhaftungen konfrontiert (ÖB Moskau 6.2021; vgl. GIZ 1.2021a, FH 3.3.2021). Insbesondere kommt es auch im Nordkaukasus mitunter zu physischen Attacken und Verfolgung von Journalisten. Der Großteil dieser Fälle bleibt ungeklärt (ÖB Moskau 6.2021). Angriffe, Verhaftungen, Razzien in Büros und Drohungen gegen Journalisten sind weit verbreitet, und die Behörden richteten sich 2020 aktiv gegen Journalisten außerhalb Moskaus (FH 3.3.2021). Immer wieder gibt es Berichte über Angriffe auf Journalisten oder Todesfälle unter gewaltsamen Umständen. Journalisten werden manchmal auch infolge ihrer beruflichen Tätigkeit verhaftet und z.B. wegen angeblicher Drogenvergehen oder terrorismusbezogener Anklagen strafrechtlich verfolgt. Gegen die auf Tschetschenien spezialisierte Journalistin Jelena Milaschina wurden vonseiten des tschetschenischen Oberhaupts Ramsan Kadyrow im April 2020 Morddrohungen ausgesprochen (ÖB Moskau 6.2021).

Im Herbst 2017 wurde eine gesetzliche Grundlage zur Listung gewisser ausländischer Medien als ausländische Agenten geschaffen. Eine im November 2019 beschlossene Gesetzesnovelle ermöglicht es, auch natürliche Personen, die Nachrichten von Medien, welche bereits als ausländische Agenten eingetragen sind, verbreiten (z.B. Journalisten, Blogger, etc.), als ausländische Agenten zu qualifizieren. Ausländischen Personen bzw. Unternehmen ist es nach Änderungen im Gesetz über die Massenmedien seit 2014 verboten, mehr als 20% der Anteile an russischen Medien zu halten. Zahlreiche Internetseiten wurden aufgrund des Verdachts extremistischer Inhalte ohne vorhergehenden Gerichtsbeschluss von der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor gesperrt (ÖB Moskau 6.2021). Im November 2020 wurde dem Parlament ein neuer Gesetzentwurf vorgelegt, der den Behörden die Befugnis geben soll, Webseiten zu blockieren, die russische staatliche Medieninhalte zensiert haben. Zu den genannten Webseiten zählen Twitter, Facebook und YouTube (HRW 13.1.2021). Dieses Gesetz trat 2021 in Kraft (HRW 13.1.2022). Facebook und Instagram sind mittlerweile in Russland gesperrt. Russische Behörden haben die Facebook-Mutter Meta als „extremistische Organisation“ bezeichnet, nachdem diese in neuen Richtlinien Drohungen gegen Präsident Putin und Russland unter bestimmten Umständen zugelassen hat (Standard.at 15.3.2022). Auch verschlüsselte E-Mail-Dienste wurden blockiert (FH 14.10.2020). 2021 trat ein weiteres Gesetz in Kraft, das Strafen für Hersteller vorsieht, die auf den in Russland verkauften Geräten keine bestimmte russische Software vorinstallieren. Auch verpflichten neue Bestimmungen beliebte ausländische Webseiten und Apps, Vertretungen in Russland zu eröffnen. Zu den Sanktionen bei Nichteinhaltung der Vorschriften gehören Geldstrafen, Werbeverbote und Sperrungen. Die Behörden verhängen weiterhin hohe Geldstrafen gegen Social-Media-Plattformen wegen Nichteinhaltung der Vorschriften. Auch verlangten die russischen Behörden 2021, dass YouTube Kanäle sperrt, die mit Nawalny-Gruppen verbunden sind, die als 'extremistisch' eingestuft wurden. Im August 2021 forderten sie Apple und Google auf, Nawalnys App aus ihren Stores zu entfernen. Die Unternehmen kamen der Aufforderung schließlich nach, aber Google stellte die App im Oktober wieder ein (HRW 13.1.2022).

Im Jänner 2019 trat eine Gesetzesänderung in Kraft, mit welcher der Paragraf 282 des Strafgesetzbuches über die Erregung von Hass aufgrund der Rasse, Religion oder anderer Merkmale (Volksverhetzung) abgeschwächt wurde. Nur wenn jemand innerhalb eines Jahres mehrmals 'extremistischen Inhalt' veröffentlicht oder verbreitet hat, kann ein Strafverfahren eröffnet werden. Passiert das zum ersten Mal, drohen statt mehrjähriger Gefängnisstrafen lediglich Bußgelder oder Arrest. Im Mai 2020 wurde eine neue Strategie zur Extremismusbekämpfung bis 2025 unterzeichnet. Darin wird Extremismus als eine der Hauptgefahren für die verfassungsmäßige Ordnung des Staates bezeichnet. Als Gefährdung der Stabilität der russischen Gesellschaft wird auch die Tätigkeit einzelner ausländischer NGOs im Zusammenhang mit der Verbreitung extremistischer Ideologien bezeichnet (ÖB Moskau 6.2021). Die Gesetze zu 'ausländischen Agenten' und 'unerwünschten Organisationen' wurden dazu genutzt, unabhängige NGOs zu verleumden, ihnen die Finanzmittel zu entziehen und ihre Mitglieder streng zu bestrafen. Nach weiteren drakonischen Gesetzesänderungen, die im Dezember 2020 in Kraft traten, können jetzt auch Mitarbeiter von NGOs, nicht registrierte Gruppen und Einzelpersonen als 'ausländische Agenten' eingestuft werden (AI 7.4.2021).

In den Internetmedien, die weiterhin beträchtliche Wachstumsraten aufweisen, hat sich eine erhebliche Dynamik entfaltet. 78% der erwachsenen russischen Bevölkerung nutzt das Internet. Die IT-Versorgung des Landes ist eine der Prioritäten der Regierung. Dennoch bleibt es vorerst ein großstädtisches Phänomen. Der Einfluss der Internetmedien und der Blogger-Szene (wie z.B. Projekt Snob, Alexej Nawalny), als Ventil für unabhängige und kritische Meinungsäußerungen, wächst (GIZ 1.2021a). Die Medienbehörde Roskomnadsor stellte ihre Bemühungen zur Schließung des verschlüsselten Nachrichtendienstes Telegram ein und hob das zwei Jahre alte Verbot der Plattform im Juni 2020 auf. Die Aufhebung des Verbotes hängt mit der Zusammenarbeit des Unternehmens in Terrorismusfällen zusammen (FH 3.3.2021).

In einem weltweiten Ranking zur Pressefreiheit 2020 nimmt die Russische Föderation derzeit den 149. Platz von 180 Ländern und Territorien ein (RoG 2020). Reporter ohne Grenzen veröffentlichte seine Liste der 20 schlimmsten 'digitalen Raubtiere' der Pressefreiheit im Jahr 2020 - 'Unternehmen und Regierungsbehörden, die digitale Technologie einsetzen, um Journalisten auszuspionieren und zu belästigen und damit unsere Fähigkeit zu gefährden, Nachrichten und Informationen zu erhalten'. Russland findet sich auf dieser Liste (RoG 12.3.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.3.2021

 AI - Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html , Zugriff 14.2.2022

 BR - Bayrischer Rundfunk (28.3.2022): Russland: "Nowaja Gaseta" erscheint bis Kriegsende nicht mehr, https://www.br.de/nachrichten/kultur/oppositionsblatt-nowaja-gaseta-stellt-erscheinen-vorlaeufig-ein ,T1NPxjv, Zugriff 20.4.2022

 BR - Bayrischer Rundfunk (8.3.2022): Wie russische Medien (nicht) über den Krieg berichten, https://www.br.de/kultur/wie-berichten-medien-in-russland-ueber-den-ukraine-krieg-100.html , Zugriff 20.4.2022

 FH - Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 24.3.2021

 FH - Freedom House (14.10.2020): Bericht zur Freiheit digitaler Medien und des Internet (Berichtszeitraum Juni 2019 - Mai 2020) - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2039111.html , Zugriff 24.3.2021

 GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 24.3.2021

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html , Zugriff 4.2.2021

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 24.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 1.10.2021

 RoG - Reporter ohne Grenzen (12.3.2020): RSF unveils 20/2020 list of press freedom’s digital predators, https://rsf.org/en/news/rsf-unveils-202020-list-press-freedoms-digital-predators , Zugriff 24.3.2021

 RoG - Reporter ohne Grenzen (2020): 2020 World Press Freedom Index, https://rsf.org/en/ranking_table , Zugriff 24.3.2021

 Standard.at (15.3.2022): Instagram offline: Russische Influencer weinen vor der Kamera, https://www.derstandard.at/story/2000134119695/instagram-offline-russische-influencer-weinen-vor-der-kamera , Zugriff 20.4.2022

 Tagesspiegel (3.3.2022): Das verbotene Wort, https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/zensur-in-russland-das-verbotene-wort/28128200.html , Zugriff 20.4.2022

 T-Online (15.3.2022): Mit dieser Polizei-Reaktion hat die Putin-Unterstützerin nicht gerechnet, https://www.t-online.de/tv/nachrichten/panorama/id_91833654/mit-dieser-polizei-reaktion-hat-die-putin-unterstuetzerin-nicht-gerechnet.html , Zugriff 20.4.2022

 ZO - Zeit Online (1.3.2022):Russlands Behörden sperren zwei unabhängige Medien, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-03/russland-medien-doschd-echo-moskwy , Zugriff 20.4.2022

 ZO - Zeit Online (26.2.2022): Russlands Medienaufsicht verbietet Begriffe wie "Invasion", https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-02/russland-medienaufsicht-verbot-begriffe-ukraine , Zugriff 20.4.2022

 Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Opposition

Letzte Änderung: 21.04.2022

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sind verfassungsrechtlich garantiert, werden durch lokale Behörden in der Praxis jedoch häufig eingeschränkt (US DOS 11.3.2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021, FH 3.3.2021). Die Organisation ungenehmigter Protestveranstaltungen zieht regelmäßig die Verhaftung der Organisatoren und die Verhängung von Geld- oder mehrwöchigen administrativen Arreststrafen nach sich (AA 2.2.2021). Das Gesetz sieht harte Strafen für nicht genehmigte Proteste und andere Verstöße gegen das öffentliche Versammlungsrecht vor - bis zu 300.000 Rubel (ca. 4.000 Euro) für Einzelpersonen, 600.000 Rubel (8.000 Euro) für Veranstalter und eine Million Rubel (13.600 Euro) für Gruppen oder Unternehmen. Demonstranten mit mehreren Verstößen innerhalb von sechs Monaten können mit einer Geldstrafe von bis zu einer Million Rubel (13.600 Euro) belegt oder für bis zu fünf Jahre inhaftiert werden (USDOS 11.3.2020). Ausnahmen wie die Demonstrationen gegen die Festnahme und Amtsenthebung eines Provinzgouverneurs in Chabarowsk, gegen die im Sommer 2020 lange nicht eingeschritten wurde, bestätigen diese Regel. Wiederholte Verstöße gegen die Vorschriften zur Organisation oder Durchführung von Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Märschen oder auch Mahnwachen können strafrechtlich geahndet werden (bis zu drei Jahre Lagerhaft). Zudem kam es 2019/2020 zu Verurteilungen von Demonstranten wegen angeblicher Gewalt gegen Polizeibeamte, von denen einige nach öffentlichen Protesten und der Veröffentlichung von Videos aufgehoben wurden (AA 2.2.2021). Im Dezember 2020 verabschiedete die Duma zwei neue Gesetze, die Mahnwachen für Einzelpersonen verbieten und die Protestorganisatoren dazu auffordern, umfangreiche Unterlagen auszufüllen (FH 3.3.2021; vgl. AI 7.4.2021). Mit Verweis auf die Pandemie wurden die Auflagen für öffentliche Versammlungen und Mahnwachen von Einzelpersonen verschärft, in einigen Regionen wurden sie ganz verboten. Öffentliche Proteste umfassen in der Regel nur wenige Teilnehmer, finden aber ungeachtet aller Repressalien regelmäßig statt. Die Zahl der Einzelpersonen, die wegen einer Mahnwache festgenommen und strafrechtlich verfolgt werden, steigt an (AI 7.4.2021).

Kundgebungen und Demonstrationen von oppositionellen Gruppen werden entweder nicht genehmigt oder müssen abseits zentraler Plätze stattfinden. Gleichzeitig zeigen die Behörden eine zunehmende Intoleranz gegenüber nicht genehmigten Demonstrationen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. FH 3.3.2021). Im Sommer 2019 kam es in Moskau zu einer Reihe von - zum Teil nicht genehmigten - Protestaktionen mit bis zu 60.000 Teilnehmern, nachdem zahlreiche oppositionelle Kandidaten nicht zur Wahl zum Moskauer Stadtparlament zugelassen worden waren. Mehr als tausend Personen wurden festgenommen, gegen einige wurde ein Strafverfahren eröffnet. Mehrere Angeklagte wurden zu Haftstrafen verurteilt, darunter Personen, welche die Menschenrechtsorganisation Memorial zu politischen Gefangenen erklärt hat. Kreml-freundliche Gruppierungen hingegen berichten nicht über Probleme, entsprechende Genehmigungen der Moskauer Stadtverwaltung für Demonstrationen an zentralen Plätzen der Stadt zu erhalten (ÖB Moskau 6.2021; vgl. ZO 2.8.2019).

In Bezug auf die Vereinigungsfreiheit ist zu sagen, dass öffentliche Organisationen ihre Statuten und die Namen ihrer Leiter beim Justizministerium registrieren müssen. Die Finanzen der registrierten Organisationen werden von den Steuerbehörden überprüft, und ausländische Gelder müssen registriert werden [bez. Organisationen siehe auch Kapitel NGOs und Menschenrechtsaktivisten] (US DOS 11.3.2020). Obwohl Gewerkschaftsrechte rechtlich geschützt sind, sind sie in der Praxis eingeschränkt. In führenden Branchen, einschließlich der Automobilherstellung, kam es zu Streiks und Protesten der Arbeiter, aber gewerkschaftsfeindliche Diskriminierung und Repressalien sind weit verbreitet. Arbeitgeber ignorieren häufig Kollektivverhandlungsrechte. Der größte Gewerkschaftsverband arbeitet eng mit dem Kreml zusammen, obwohl in einigen Industriesektoren und Regionen unabhängige Gewerkschaften tätig sind (FH 3.3.2021).

Oppositionspolitiker und -aktivisten werden häufig mit fabrizierten Anklagen und anderen Formen administrativer Belästigung konfrontiert, die ihre Teilnahme am politischen Leben verhindern sollen. Alexej Nawalny wurde im August 2020 mit einem Nervengift vergiftet, als er Korruption und Kampagnen in Sibirien untersuchte. Später gab es Beweise dafür, dass der Anschlag vom Inlandsgeheimdienst FSB durchgeführt worden war. Nawalny musste nach Deutschland evakuiert werden, um zu verhindern, dass die Behörden in seine Behandlung eingreifen (FH 3.3.2021). Als Nawalny im Jänner 2021 in seine Heimat zurückkehrte, wurde er festgenommen (Standard.at 28.2.2021; vgl. HRW 13.1.2022), weil er während seiner Abwesenheit gegen Bewährungsauflagen aus einer früheren Verurteilung wegen Untreue verstoßen haben soll. Ein Gericht wandelte die frühere Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe um (Standard.at 28.2.2021). Die Verurteilung wurde international scharf kritisiert und wird auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als ungerechtfertigt angesehen (Standard.at 28.2.2021; vgl. HRW 13.1.2022). Alexej Nawalny wurde zu mehr als zweieinhalb Jahren Haft in einem Straflager verurteilt (Standard.at 28.2.2021). Nach der Duma-Wahl im September 2021 hat das Ermittlungskomitee ein neues Strafverfahren gegen Alexej Nawalny und Vertraute wegen Schaffung und Führung einer extremistischen Organisation eingeleitet. Weiteren Personen aus dem Umkreis Nawalnys wird eine Beteiligung an dieser Organisation vorgeworfen. Nawalny drohen damit nun weitere sechs bis zehn Jahre Haft. Das neue Verfahren erfasst potenziell einen sehr weiten Personenkreis. So können alle ehemaligen Mitstreiter Nawalnys nun auch wegen Beteiligung an einer extremistischen Organisation haftbar gemacht werden. Prinzipiell können die Ermittlungsbehörden den Vorwurf dann auch auf Teilnehmer von Protestdemonstrationen ausweiten (Standard.at 30.9.2021). Das neue Verfahren gegen Nawalny löste landesweite Proteste aus, die von den Behörden unterdrückt wurden. Die Behörden verboten aufgrund Extremismusvorwürfen drei Gruppen, die angeblich mit Nawalny in Zusammenhang stehen sollen (HRW 13.1.2022). Am 22. März 2022 wurde Nawalny zu neun Jahren Haft verurteilt, aufgrund der Vorwürfe des umfangreichen Betruges und Missachtung des Gerichts. Die Haft soll Nawalny in einem Hochsicherheitsgefängnis verbüßen. Zudem wurde er zu einer Zahlung von umgerechnet knapp 10.500 Euro verurteilt. Auch dieses Urteil gilt international als politisch motiviert und wird als Scheinverfahren bezeichnet (ORF.at 22.3.2022).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 26.3.2021

 AI - Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html , Zugriff 14.2.2022

 FH - Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 26.3.2021

 HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html , Zugriff 4.2.2022

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 1.10.2021

 ORF.at (22.3.2022): Nawalny zu weiterer langer Haft verurteilt, https://orf.at/stories/3254994/ , Zugriff 20.4.2022

 Standard.at (30.9.2021): In Moskau wird der Ton rauer, https://www.derstandard.at/story/2000130039784/in-moskau-wird-der-ton-rauer , Zugriff 18.10.2021

 Standard.at (28.2.2021): Regierungskritiker Nawalny in russisches Straflager überstellt, https://www.derstandard.at/story/2000124540577/regierungskritiker-nawalny-in-russisches-straflager-ueberstellt , Zugriff 26.3.2021

 US DOS - United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 26.3.2021

 ZO - Zeit Online (2.8.2019): Moskau genehmigt zwei Großkundgebungen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-08/russland-moskau-proteste-kundgebungen-demonstrationen-polizei , Zugriff 26.3.2021

 Haftbedingungen

Letzte Änderung: 06.10.2022

Straftäter werden entweder in sogenannten Ansiedlungskolonien (ähnelt dem freien Vollzug), Erziehungskolonien, Besserungsheileinrichtungen, Strafkolonien mit allgemeinem, strengem oder besonderem Regime (hier sitzt der überwiegende Anteil der Inhaftierten ein), oder in einem Gefängnis untergebracht (AA 21.5.2021). Regelmäßig stattet das Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT; Europarat) der Russischen Föderation Besuche ab. Beim letzten Besuch (September/Oktober 2021) befasste sich das CPT vor allem mit der Lage von Personen im Polizeigewahrsam und in Strafanstalten, darunter Untersuchungshaftanstalten (SIZO), sowie mit der Lage von verurteilten männlichen und weiblichen Inhaftierten in Strafkolonien (ER 6.10.2021). Die Behörden gestatten Vertretern öffentlicher Aufsichtskommissionen, Gefängnisse regelmäßig zu besuchen, um die Haftbedingungen zu überwachen. Es gibt in fast allen Regionen öffentliche Aufsichtskommissionen. Menschenrechtsaktivisten äußern sich besorgt darüber, dass einige Kommissionsmitglieder behördennahe Personen sowie Personen mit Erfahrung im Gesetzesvollzug sind. Gemäß den gesetzlichen Vorgaben haben Mitglieder von Aufsichtskommissionen das Recht, Insassen in Haftanstalten und Gefängnissen mit ihrer schriftlichen Genehmigung auf Video aufzunehmen und zu fotografieren. Kommissionsmitglieder dürfen außerdem Luftproben sammeln, andere Umweltinspektionen sowie auch Sicherheitsbewertungen durchführen und psychiatrische Einrichtungen in Gefängnissen betreten (USDOS 12.4.2022).

Gefangene dürfen Beschwerden bei öffentlichen Aufsichtskommissionen oder beim Büro der Ombudsperson für Menschenrechte einreichen. Aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen wird diese Möglichkeit aber oft nicht genutzt. Aktivisten berichten, dass nur Gefangene, die glauben, keine andere Option zu haben, die Folgen einer Beschwerde riskieren. Beschwerden, welche bei den Aufsichtskommissionen eingehen, konzentrieren sich häufig auf kleinere persönliche Anliegen (USDOS 12.4.2022).

Die Bedingungen in den Haftanstalten haben sich seit Ende der 1990er-Jahre langsam, aber kontinuierlich verbessert. Die Haftbedingungen entsprechen aber zum Teil nicht den allgemein anerkannten Mindeststandards. Die Haftanstalten sind von schwerer Korruption, fehlenden Resozialisierungsmaßnahmen sowie mangelnder medizinischer Versorgung (beispielsweise bei HIV und Tuberkulose) betroffen (ÖB 30.6.2021). Regelmäßig kommt es zu Fällen von Folter (AI 29.3.2022; vgl. USDOS 12.4.2022, HRW 13.1.2022) und anderen Misshandlungen in Haftanstalten, welche selten geahndet werden (AI 29.3.2022; vgl. HRW 13.1.2022). Bausubstanz und sanitäre Bedingungen in russischen Haftanstalten entsprechen häufig nicht westeuropäischen Standards. Die Unterbringung der Inhaftierten erfolgt oft in Schlafsälen. Die Lage in den Strafkolonien ist sehr unterschiedlich und reicht von Strafkolonien mit annehmbaren Haftbedingungen bis hin zu solchen, die laut NGOs als 'Folterkolonien' berüchtigt sind. Die Haftbedingungen in den Untersuchungshaftanstalten sind laut NGOs besser als in den Strafkolonien (qualitativ besseres Essen, frische Luft, wenig Foltervorwürfe). Trotz rechtlich vorgesehener Höchstdauer verlängerten Gerichte die Haft in Einzelfällen über Jahre (AA 21.5.2021). Kritisiert werden die Bedingungen bei der Verbringung Inhaftierter in oft weit entfernte Strafkolonien. 2020 ist eine Gesetzesnovelle in Kraft getreten, gemäß welcher Inhaftierte in Russland ihre Haftstrafe in der Nähe ihres Wohnorts oder in der Nähe des Wohnorts ihrer Angehörigen verbüßen sollen (ÖB 30.6.2021).

Für Haftanstalten verantwortlich ist das Justizministerium. Mit Stand 1.5.2022 gab es in Russland insgesamt 468.237 Inhaftierte (einschließlich Untersuchungshaftanstalten). 24,6 % der Inhaftierten sind Untersuchungshäftlinge, 8,4 % der Inhaftierten sind weiblich, und 0,2 % der Inhaftierten sind minderjährig. In Summe gibt es 872 Haftanstalten, davon 204 Untersuchungshaftanstalten, 642 Strafkolonien, 8 Gefängnisse und 18 Jugendkolonien. Die offizielle Kapazität des Gefängnissystems beträgt 714.253 Haftinsassen. Die Auslastung betrug mit Stand 31.1.2021 67 %. Während die Gesamtanzahl der Inhaftierten im Jahr 2000 1.060.404 betrug, waren es im Jahr 2020 523.928 Inhaftierte (WPB o.D.). Es gibt Ansätze, vermehrt alternative Sanktionen zu verhängen, um die Anzahl der Strafgefangenen zu verringern (AA 21.5.2021).

Laut Berichten des 'Komitees Ziviler Beistand' müssen Nordkaukasier in Haftanstalten außerhalb des Nordkaukasus mit Diskriminierung rechnen, was sich zum einen aus einer grundsätzlich negativen Einstellung gegenüber Nordkaukasiern speist, zum anderen darin begründet ist, dass russische Veteranen des Tschetschenienkrieges überproportional im Strafvollzug beschäftigt sind. Laut den Moskauer Vertretern des 'Komitees gegen Folter' gibt es hingegen keine gezielte staatliche Diskriminierung. Es ist flächendeckend sichergestellt, dass muslimische Strafgefangene Zugang zu Gebetsräumen und Imamen haben. Allerdings werden außer medizinisch indizierten Ernährungsvorgaben keine anderen Speisevorschriften, seien sie religiöser oder sonstiger Art, beachtet. Für muslimische Inhaftierte gestalten sich die Haftbedingungen im Nordkaukasus besser als in den anderen Teilen Russlands, die Möglichkeit zur freien Religionsausübung ist für Muslime im Gegensatz zum (christlichen) Rest der Russischen Föderation gewährleistet. Zudem gelten die materiellen Bedingungen in den offiziellen Haftanstalten in Tschetschenien in der Regel als besser als in vielen sonstigen russischen Haftanstalten. Für tschetschenische Straftäter, an welchen die Sicherheitsbehörden kein besonderes 'sachfremdes' Interesse haben, dürften sich ein Gerichtsstand und eine Haftverbüßung in Tschetschenien in der Regel eher günstig auswirken, da sie neben den besseren materiellen Bedingungen auch auf den Schutz der in Tschetschenien prägenden Clanstrukturen setzen können. Dementsprechend haben tschetschenische Straftäter in der Vergangenheit wiederholt ihre Überstellung nach Tschetschenien betrieben (AA 21.5.2021).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053304/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_21.05.2021.pdf , Zugriff 13.7.2022

 AI – Amnesty International (29.3.2022): Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Russland 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2070266.html , Zugriff 28.7.2022

 ER – Europarat / European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) (6.10.2021): Council of Europe anti-torture Committee carries out a 15-day visit to the Russian Federation, https://www.coe.int/en/web/cpt/-/council-of-europe-anti-torture-committee-carries-out-a-15-day-visit-to-the-russian-federation , Zugriff 3.8.2022

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html , Zugriff 3.8.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2021): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2021 (Stand 30.6.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.7.2022

 USDOS – US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071123.html , Zugriff 20.7.2022

 WPB – World Prison Brief / Institute for Crime & Justice Policy Research, School of Law, Birkbeck, University of London (o.D.): World Prison Brief data: Russian Federation - Overview, https://www.prisonstudies.org/country/russian-federation , Zugriff 29.7.2022

 Todesstrafe

Letzte Änderung: 29.08.2022

Gemäß Art. 20 der Verfassung hat jeder Mensch das Recht auf Leben, jedoch ist für Kapitalverbrechen die Todesstrafe vorgesehen (RI 4.7.2020). Das Strafgesetzbuch (§ 44) zählt folgende Bestrafungsformen auf: Geldstrafe; Berufsverbot; Entziehung spezieller, militärischer Dienstgrade oder Entziehung von Ehrenrängen bzw. -titeln und staatlicher Auszeichnungen; Erziehungsarbeiten; Militärdienstbeschränkung; Freiheitsbeschränkung; Zwangsarbeit; Arrest; militärische Disziplinarhaft; zeitlich befristeter Freiheitsentzug; lebenslange Haftstrafe; Todesstrafe. Über Frauen, Minderjährige sowie Männer über 65 darf laut § 59 des Strafgesetzbuches nicht die Todesstrafe verhängt werden (RI 25.3.2022). Seit 1996, als Russland Mitglied des Europarats wurde, ist die Todesstrafe aufgrund eines Moratoriums ausgesetzt (AI 5.2022; vgl. CCDPW 27.3.2012). Die letzte Vollstreckung eines Todesurteils fand in den 1990er Jahren statt (Lenta 2.6.2022; vgl. AI 5.2022). Der russische Verfassungsgerichtshof hat 1999 entschieden und 2009 bestätigt, dass die Todesstrafe in Russland nicht verhängt werden darf. Man kann somit von einer De-facto-Abschaffung der Todesstrafe sprechen (AA 21.5.2021; vgl. ÖB 30.6.2021, OSZE 7.10.2021). Am 16.3.2022 wurde Russland aus dem Europarat ausgeschlossen (ER 16.3.2022). Russland hat das 6. Protokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) über die Abschaffung der Todesstrafe zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert (ER 25.8.2022; vgl. AA 21.5.2021). Ab 16.9.2022 wird Russland keine Vertragspartei dieses Protokolls mehr sein (ER 25.8.2022). Weder unterzeichnet noch ratifiziert wurde von Russland das Zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe (OHCHR o.D.).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053304/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_21.05.2021.pdf , Zugriff 13.7.2022

 AI – Amnesty International (5.2022): Global Report: Death Sentences and Executions 2021, https://www.amnesty.org/en/wp-content/uploads/2022/05/ACT5054182022ENGLISH.pdf , Zugriff 26.7.2022

 CCDPW – Cornell Center on the Death Penalty Worldwide (27.3.2012): Cornell Database Results: Russian Federation (Russia), https://deathpenaltyworldwide.org/database/#/results/country?id=60#fn-20828-N10C57M605057 , Zugriff 26.7.2022

 ER – Europarat (25.8.2022): Chart of signatures and ratifications of Treaty 114: Protocol No. 6 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms concerning the Abolition of the Death Penalty (ETS No. 114), https://www.coe.int/en/web/conventions/full-list?module=signatures-by-treaty&treatynum=114 , Zugriff 25.8.2022

 ER – Europarat (16.3.2022): Presseraum: Russische Föderation wird aus dem Europarat ausgeschlossen, https://www.coe.int/de/web/portal/-/the-russian-federation-is-excluded-from-the-council-of-europe , Zugriff 26.7.2022

 Lenta (2.6.2022): В Госдуме не увидели правовых препятствий для возвращения смертной казни [In der Staatsduma sah man keine rechtlichen Hindernisse für Rückkehr zur Todesstrafe], https://lenta.ru/news/2022/06/02/moratoriy/ , Zugriff 26.7.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2021): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2021 (Stand 30.6.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.7.2022

 OHCHR – Office of the High Commissioner for Human Rights [UN] (o.D.): Russian Federation: Status of Ratification – Interactive Dashboard, https://indicators.ohchr.org/ , Zugriff 26.7.2022

 OSZE – Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (7.10.2021): The Death Penalty in the OSCE Area - Background Paper 2021, https://www.osce.org/files/f/documents/b/e/500413.pdf , Zugriff 26.7.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (25.3.2022): Уголовный кодекс Российской Федерации [Strafgesetzbuch der Russischen Föderation] (Nr. 63-ФЗ), http://pravo.gov.ru/proxy/ips/?docbody&nd=102041891 , Zugriff 20.7.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (4.7.2020): Конституция Российской Федерации [Verfassung der Russischen Föderation], http://publication.pravo.gov.ru/File/GetFile/0001202007040001?type=pdf , Zugriff 13.7.2022

 Religionsfreiheit

Letzte Änderung: 02.03.2022

Art. 28 der Verfassung garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit (AA 2.2.2021). Christentum, Islam, Buddhismus und Judentum haben dabei als 'traditionelle Religionen' de facto eine herausgehobene Stellung (AA 2.2.2021), die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) spielt allerdings eine zentrale Rolle (AA 2.2.2021; vgl. FH 3.3.2021). Die ROK arbeitet bei bestimmten Themen eng mit der Regierung zusammen (FH 3.3.2021). Rund 68% identifizieren sich als russisch-orthodoxe Christen, 7% als Muslime, und 25% gehören religiösen Minderheiten an, darunter Protestanten, Katholiken, Zeugen Jehovas, Buddhisten, Juden und Baha'i (USCIRF 4.2020). Der Islam ist eine der traditionellen Hauptreligionen Russlands. In der Russischen Föderation leben zwischen 14 und 20 Millionen Muslime (ÖB Moskau 6.2021; vgl. GIZ 1.2021c).

Bei den traditionell religiös orientierten ethnischen Minderheiten Russlands findet man Anhänger des Islam und des Buddhismus, des Schamanismus und Judaismus, des protestantischen und katholischen Glaubens. Der Islam ist die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Russland. Die Muslime sind in der Regel Baschkiren, Tataren, Tschuwaschen, Tschetschenen und Angehörige anderer Kaukasusvölker. Sie werden durch die 'Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Europäischen Teils Russlands und Sibiriens' sowie die 'Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Nordkaukasus' vertreten. Darüber hinaus sind zahlreiche andere Konfessionen, wie der Buddhismus (ca. 600.000 Gläubige) - zu dem sich Burjaten, Kalmyken, Tuwa und andere Bevölkerungsgruppen in den Gebieten Irkutsk und Tschita bekennen -, das Judentum (ca. 200.000 Gläubige) sowie von den christlichen Kirchen die katholische Kirche, die evangelisch-lutherische Kirche und eine Reihe von Freikirchen (vor allem Baptisten) in Russland vertreten. Sie sind im europäischen Russland und in Sibirien präsent (GIZ 1.2021c). Auch andere Religionsgemeinschaften können in Russland legal bestehen, müssen sich aber registrieren lassen (GIZ 1.2021c; vgl. USCIRF 4.2020). Die russische Regierung betrachtet unabhängige religiöse Aktivitäten als eine Bedrohung für die soziale und politische Stabilität des Landes und pflegt gleichzeitig bedeutende Beziehungen zu den sogenannten 'traditionellen' Religionen des Landes. Die Regierung aktualisiert regelmäßig Gesetze, welche die Religionsfreiheit einschränken, darunter ein Religionsgesetz von 1996, ein Gesetz zur Bekämpfung des Extremismus von 2002 und neuere Gesetze über Gotteslästerung, wie beispielsweise 'Schüren von religiösem Hass' und 'Missionstätigkeit'. Diese vagen Gesetze geben den russischen Behörden weitreichende Befugnisse, religiöse Reden oder Aktivitäten zu definieren und zu verfolgen oder religiöse Literatur zu verbieten, die sie für schädlich halten. Das Religionsgesetz legt strenge Registrierungsanforderungen an religiöse Gruppen fest und ermächtigt Staatsbeamte, die Tätigkeit der Gruppierungen zu behindern (USCIRF 4.2020).

Seit Ende der Achtzigerjahre hat der Anteil der Gläubigen im Zuge einer 'religiösen Renaissance' bedeutend zugenommen. Allerdings bezeichnen sich laut Meinungsumfragen rund 50% der Bevölkerung als nicht gläubig. Zwar gibt es in Russland einen hohen Grad der Wertschätzung von Kirche und Religiosität, dies bedeutet aber nicht, dass die Menschen ihr Leben nach kirchlichen Vorschriften führen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) ist heute die mit Abstand größte und einflussreichste Religionsgemeinschaft in Russland. Seit der Unabhängigkeit der Russischen Föderation ist sie zu einer äußerst gewichtigen gesellschaftlichen Einrichtung geworden. Die Verluste an Gläubigen und Einrichtungen, die sie in der Sowjetzeit erlitt, konnte sie zu einem großen Teil wieder ausgleichen. Die ROK hat ein besonderes Verhältnis zum russischen Staat, z.B. ist der Patriarch bei wichtigen staatlichen Anlässen stets anwesend. Die ROK versteht sich als multinationale Kirche, die über ein 'kanonisches Territorium' verfügt. Über die Zahl der Angehörigen der ROK gibt es nur Schätzungen, die zwischen 50 und 135 Millionen Gläubigen schwanken. Wer heute in Russland seine Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche herausstellt, macht damit deutlich, dass er zur russischen Tradition steht. Das Wiedererwachen des religiösen Lebens in Russland gibt regelmäßig Anlass zu Diskussionen um die Rolle der ROK in der Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat (GIZ 1.2021c).

Seit einer Änderung des Anti-Extremismus-Gesetzes im Jahr 2007 gerieten bestimmte religiöse Gruppen ins Visier der russischen Behörden, vor allem die Zeugen Jehovas und islamische Gruppierungen wie Hizb ut-Tahrir, aber auch Falun Gong, Scientology, und andere. Im Zuge einer Verschärfung der anti-extremistischen Gesetzgebung im Jahr 2016 wurden die Auflagen für Missionarstätigkeiten neu geregelt (ÖB Moskau 6.2021; vgl. USCIRF 4.2020). Das Anti-Extremismus-Gesetz wird auch genutzt, um Muslime - insbesondere Anhänger der islamischen Missionsbewegung Tablighi Jamaat und Leser des türkischen Theologen Said Nursi - wegen friedlicher religiöser Aktivitäten zu verfolgen (USCIRF 4.2020). Auch andere nicht-traditionelle religiöse Gruppen kamen in letzten Jahren unter Druck, wie beispielsweise Adventisten, Baptisten, die Pfingstbewegung und die Heilsarmee (ÖB Moskau 6.2021).

Am 20.4.2017 billigte das Oberste Gericht Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, welche die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Die Verfolgung der Zeugen Jehovas unter dem Vorwurf des Extremismus nahm in den letzten Jahren zu, was sich an einer steigenden Zahl von Verurteilungen und längeren Haftstrafen zeigt (AI 7.4.2021). Die Polizei führt weiterhin Hausdurchsuchungen durch und eröffnet neue Strafverfahren gegen Zeugen Jehovas. Zu den Verurteilten und Angeklagten gehören auch Personen auf der von Russland besetzten Krim (HRW 13.1.2022).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 5.3.2021

 AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html , Zugriff 4.2.2022

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 5.3.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 5.3.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html , Zugriff 4.2.2022

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2020): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2046141/RUSS_%C3%96B_Bericht_2020_06.pdf , Zugriff 1.10.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 1.10.2021

 USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2020): 2020 Annual Report, Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028973/Russia.pdf , Zugriff 5.3.2021

 Tschetschenien

Letzte Änderung: 16.11.2021

Die tschetschenische Bevölkerung gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an, wobei traditionell eine mystische Form des Islam, der Sufismus, vorherrschend ist (BAMF 10.2013). Beim Sufismus handelt es sich um eine weitverbreitete und zudem äußerst facettenreiche Glaubenspraxis innerhalb des Islams. Heutzutage sind Sufis sowohl innerhalb des Schiitentums als auch unter Sunniten verbreitet (ÖIF 2013).

In Tschetschenien setzt Ramsan Kadyrow seine eigenen Ansichten bezüglich des Islams durch (USCIRF 4.2019; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Dieser soll moderat, aber streng kontrolliert sein. Salafismus und Wahhabismus duldet er nicht (USCIRF 4.2019). Die Autorität der Kadyrow-Regierung beruht auf der Wirkungskraft einer spezifischen islamischen Ideologie, die als Gegenentwurf zu den Lehren des Wahhabismus bzw. Salafismus konzipiert ist und die Gesellschaft gegen den Einfluss erstarkender fundamentalistischer Kräfte stabilisieren soll (Russland Analysen 21.9.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 6.2021). Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubhaften Aussagen von lokalen NGOs einher mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert werden soll (AA 2.2.2021). Die strafrechtliche Verfolgung dieser Art von Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 2.2.2021; vgl. USCIRF 4.2020). Auch Verwandte, Freunde und Bekannte können ins Visier der Behörden geraten (ÖB Moskau 6.2021). Belästigungen von Muslimen bei Gottesdiensten kommen vor, ebenso wie Entführungen zur 'Kontrolle der religiösen Überzeugungen'. Dies dient der Einschüchterung der Bevölkerung (USCIRF 4.2020).

Frauen müssen sich islamisch kleiden und können in polygame Ehen gezwungen werden (USCIRF 4.2019). Polygamie kam schon in der Sowjetunion vor, allerdings nur heimlich. Nun wird sie durch die Scharia legitimiert (Welt.de 14.2.2017). Polygamie ist zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich (AA 2.2.2021). Die Religion verdrängt die alten Werte der traditionellen Dorfgemeinde. Der Islam wird dabei in unterschiedlichsten Formen gelebt und dient oft den Männern dazu, ihre Frauen zu unterdrücken (Welt.de 14.2.2017).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 9.3.2021

 BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 1.10.2021

 ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam, S. 111-113 [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

 Russland Analysen (21.9.2018): Der Islam als multifunktionaler Stabilitätsregulator des tschetschenischen Sozialgefüges – ein theoretisches Modell zur Wirkungsweise der Religion in Tschetschenien, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/359/der-islam-als-multifunktionaler-stabilitaetsregulator-des-tschetschenischen-sozialgefueges-ein-theoretisches-modell-zur/ , Zugriff 9.3.2021

 USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2019): 2018 Annual Report, Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008198/Tier1_RUSSIA_2019.pdf , Zugriff 20.3.2020

 USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom [USA] (4.2020): 2019 Annual Report, Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028973/Russia.pdf , Zugriff 9.3.2021

 Welt.de (14.2.2017): Immer ein echter Mann zu sein – das ist eine Last, https://www.welt.de/politik/ausland/article161562501/Immer-ein-echter-Mann-zu-sein-das-ist-eine-Last.html , Zugriff 20.3.2020

 Dagestan

Letzte Änderung: 02.03.2022

Die meisten Muslime Dagestans gehören dem Sufismus an, einer gemäßigt-mystischen Richtung im Islam. Sie hören auf Scheichs, religiöse Führer, die zwischen Gott und den Menschen vermitteln. Die Scheichs treten auch als Fürsprecher der Gläubigen vor Politikern auf. Der Sufismus ist seit vielen Jahrhunderten in Dagestan vorherrschend. Die zweitgrößte Gruppe der Muslime in Dagestan sind die Salafisten. Diese ultrakonservative Strömung breitet sich seit den 1990er-Jahren in der Region aus. Zunächst wurden sie als Wahhabiten bezeichnet. In Dagestan gibt es Schätzungen zufolge Zehntausende Salafisten, und sie haben ihre eigenen Moscheen. Die Salafisten wollen ein Kalifat bzw. einen Gottesstaat errichten. Die Sufis hingegen haben sich mit dem russischen Staat arrangiert. Die Radikalen unter den Salafisten wollen das Kalifat mit Gewalt durchsetzen und kämpfen dafür. In Dagestan gibt es einen bewaffneten islamistischen Untergrund. Seit Jahren verüben die Terroristen Anschläge gegen russische Sicherheitskräfte, es gab Hunderte Todesopfer. Sie ermordeten auch mehrere geistliche Führer der Sufis, die sich offen gegen die Ideologie der Salafisten aussprachen. Viele Salafisten in Dagestan fühlen sich zu Unrecht von den Behörden verdächtigt. Salafisten werden oft mit den Terror-Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates gleichgesetzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

In den Republiken Inguschetien und Dagestan wurde in der Vergangenheit versucht, einen Dialog zwischen Regierung und offizieller Geistlichkeit auf der einen Seite und islamistischer Opposition auf der Gegenseite zu führen. Derzeit befindet sich die Regierung in Dagestan aber wieder in Konfrontation mit salafistischen Gemeinden. Der 'Krieg gegen Wahhabiten', der dort schon 1999 ausgerufen worden war, hat allerdings dazu geführt, dass sich immer mehr junge Menschen zu einem puristischen, streng konservativen Islam bekennen (SWP 4.2017). Wenngleich von offizieller Seite im Jänner 2019 die praktisch vollständige Liquidierung des bewaffneten Widerstands in Dagestan verkündet wurde, kommt es immer wieder zu bewaffneten Zwischenfällen. Nach Einschätzung von Experten hat sich die Struktur des bewaffneten Widerstands geändert. Es gibt keine Lager in den Wäldern mehr, stattdessen werden Anschläge von Personen, die nach außen hin ein normales Leben führen, vorbereitet. Bewaffnete Gruppen stehen offiziellen Sicherheitsorganen gegenüber, dem Partisanenkrieg auf der einen Seite wird mit Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung auf der anderen Seite begegnet. Im Fokus der Sicherheitsbehörden stehen mutmaßliche Terroristen bzw. Anhänger extremistischer Überzeugungen (dazu zählen auch in Dagestan Zeugen Jehovas). Entführungen und Fälle plötzlichen Verschwindenlassens von Personen, Folter und außergerichtliche Tötungen kommen in Dagestan ebenso vor. Bei der Vorgehensweise bei Verhaftungen von Verdächtigen im Zuge der Terrorismusbekämpfung sind mitunter auch Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste gekoppelt mit der instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. Es kommt nach wie vor zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Extremisten (ÖB Moskau 6.2021).

In Bezug auf Beobachtungslisten von Salafisten ist zu sagen, dass weder in den jüngsten Berichten der NGOs Human Rights Watch, Freedom House und Amnesty International, noch im staatlichen Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes Hinweise auf die Weiterführung dieser Listen zu finden sind (HRW 13.1.2022; vgl. HRW 13.1.2021, FH 3.3.2021, AI 16.4.2020, AA 2.2.2021, AI 7.4.2021). Die österreichische Botschaft berichtet im neuesten Asylländerbericht, dass nach Einschätzung des Menschenrechtszentrums Memorial solch eine Liste inoffiziell weiterhin geführt wird, wenngleich Beschwerden diesbezüglich abgenommen haben und Grundrechtsverletzungen nicht mehr im früheren Ausmaß vorkommen (ÖB Moskau 6.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 9.3.2021

 AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html , Zugriff 9.3.2021

 AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html , Zugriff 16.2.2022

 Deutschlandfunk (28.6.2017): Salafisten contra Sufis, https://www.deutschlandfunk.de/die-religioese-landschaft-dagestans-salafisten-contra-sufis.886.de.html?dram:article_id=389688 , Zugriff 20.3.2020

 FH - Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 9.3.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 9.3.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html , Zugriff 4.2.2022

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 1.10.2021

 SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf , Zugriff 20.3.2020

(…)

 Ethnische Minderheiten

Letzte Änderung: 16.11.2021

Russland ist ein multinationaler Staat, in dem Vertreter von mehr als 160 Völkern leben. Die Russen stellen mit 79,8% die Mehrheit der Bevölkerung. Größere Minderheiten sind Tataren (4,0%), Ukrainer (2,2%), Armenier (1,9%), Tschuwaschen (1,5%), Baschkiren (1,4%), Tschetschenen (0,9%), Deutsche (0,8%), Weißrussen und Mordwinen (je 0,6%), Udmurten (0,4%), Burjaten (0,3%) und andere. Vielfach ist die Verflechtung zwischen den nicht-russischen und russischen Bevölkerungsteilen durch interethnische Ehen und Kommunikation recht hoch, ebenso der Russifizierungsgrad der nichtrussischen Bevölkerungsteile. Nur wenige Gebietseinheiten, wie Tschetschenien, Dagestan, Tschuwaschien und Tuwa, sind stärker vom namensgebenden Ethnos geprägt. Russisch ist die einzige überall geltende Amtssprache. Parallel dazu wird in den einzelnen autonomen Republiken die jeweilige Volkssprache als zweite Amtssprache verwendet. Die Sprachen der kleinen indigenen Völker stehen unter gesetzlichem Schutz (GIZ 1.2021c). Minderheiten sind in der Regel politisch und gesellschaftlich gut integriert (AA 2.2.2021).

Die Verfassung garantiert gleiche Rechte und Freiheiten unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache und Herkunft. Entsprechend bemüht sich die Zentralregierung zumindest in programmatischen Äußerungen um eine ausgleichende Nationalitäten- und Minderheitenpolitik, inklusive der Förderung von Minderheitensprachen im Bildungssystem (AA 21.5.2018). Trotzdem werden Rechte von Minderheiten nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert (ÖB Moskau 6.2021). Fremdenfeindliche und rassistische Ressentiments richten sich insbesondere gegen Kaukasier und Zentralasiaten (AA 2.2.2021; vgl. ÖB Moskau 6.2021, FH 3.3.2021, BTI 2020). 'Racial profiling' ist bei den Behörden verbreitet. Minderheiten ohne anerkannten Rechtsstatus wie z.B. Sinti und Roma sind immer wieder Opfer von Diskriminierungen auch durch staatliche Organe (AA 2.2.2021). Die Annexion der Krim 2014 sowie das aus Moskauer Sicht erforderliche Eintreten für die Belange der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine haben zu einem starken Anstieg der patriotischen Gesinnung innerhalb der russischen Bevölkerung geführt. In den vergangenen Jahren gingen die Behörden daher verstärkt gegen radikale Nationalisten vor. Dementsprechend sank auch die öffentliche Aktivität derartiger Gruppen, wie die NGO Sova bestätigt. Gestiegen ist ebenfalls die Anzahl von Verurteilungen gegen nationalistische bzw. neofaschistische Gruppierungen wie etwa die Organisation BORN (ÖB Moskau 6.2021). Vor diesem Hintergrund berichtete die NGO Sova in den vergangenen Jahren über sinkende Zahlen rassistischer Übergriffe (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021). Die meisten Vorfälle gab es wie in den Vorjahren in den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg. Migranten aus Zentralasien, dem Nordkaukasus und dunkelhäutige Personen sind üblicherweise das Hauptziel dieser Übergriffe. Gleichzeitig ist aber im Vergleich zu den Jahren 2014-2017 ein gewisser Anstieg der fremdenfeindlichen Stimmung zu bemerken, welcher im Zusammenhang mit sozialen Problemen (Unzufriedenheit mit der Pensionsreform und sinkenden Reallöhnen) zu sehen ist. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) des Europarats stellte in ihrem Bericht vom März 2019 betreffend die Situation in der Russischen Föderation fest, dass die Zahl rassistischer Morde und Gewaltverbrechen in den vergangenen Jahren gesunken ist und insbesondere Angriffe durch Neonazi-Gruppierungen stark zurückgegangen sind. In der Statistik des Sova-Center zu rassistischen und Neo-Nazi-Übergriffen in Russland sind für das Jahr 2019 Angriffe auf 48 Personen erfasst, von denen 6 getötet wurden. Die Zahl der Opfer bei Hassverbrechen ist zwar klar geringer als noch vor 10 Jahren, dennoch aber nicht unbedeutend. Keinen Rückgang gab es bei Angriffen gegen Mitglieder oppositioneller Gruppierungen (ÖB Moskau 6.2021).

Im Jänner 2019 trat eine Gesetzesänderung in Kraft, mit welcher der Paragraf 282 des Strafgesetzbuches über die Erregung von Hass aufgrund der Rasse, der Religion oder anderer Merkmale (Volksverhetzung), der von den Behörden zum Teil überschießend angewandt worden war (z.B. für Likes und Re-Posts auf sozialen Medien), abgeschwächt wurde. Seither ist die Zahl der Verurteilungen wegen 'Anstiftung von Hass' deutlich zurückgegangen. Die Zahlen von strafrechtlicher Verfolgung wegen 'Aufruf zu und Rechtfertigung von Terrorismus' und wegen 'Organisation der Tätigkeit einer extremistischen Organisation' sind gestiegen (ÖB Moskau 6.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1434107/4598_1528119149_auswaertiges-amt-bericht-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-april-2018-21-05-2018.pdf , Zugriff 11.3.2020

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 23.2.2021

 BTI - Bertelsmann Transformation Index (2020): BTI 2020 Country Report, Russia, https://bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_RUS.pdf , Zugriff 17.2.2021

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 5.3.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 17.2.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 1.10.2021

 Relevante Bevölkerungsgruppen

 Frauen

Letzte Änderung: 02.03.2022

Artikel 19 der russischen Verfassung garantiert die Gleichstellung von Mann und Frau (ÖB Moskau 6.2021; vgl. GIZ 1.2021c). Zudem hat die Russische Föderation mehrere internationale und regionale Konventionen ratifiziert, welche diese Gleichstellung festschreiben, darunter die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und ihr Zusatzprotokoll. Russland hat die Istanbul Konvention nicht ratifiziert. In der Gesellschaft herrschen stereotype Rollenbilder vor, traditionelle Geschlechterrollen werden vom Staat propagiert, Frauen sind im Durchschnitt schlechter bezahlt (ÖB Moskau 6.2021).

Frauen stellen in Russland traditionell die Mehrheit der Bevölkerung. Der weibliche Bevölkerungsanteil beträgt seit den 1920er Jahren zwischen 53% und 55% der Gesamtbevölkerung. Durch die Transformationsprozesse und den Übergang zur Marktwirtschaft sind die Frauen in besonderer Weise betroffen. Davon zeugt der erhebliche Rückgang der Geburtenrate. Die Veränderungen in den Lebensverhältnissen von Frauen betreffen auch den Arbeitsmarkt, denn das Risiko von Ausfallzeiten durch Schwangerschaft, Erziehungsurlaub und Pflege von Angehörigen führt oft dazu, dass Frauen trotz besserer Ausbildung seltener als Männer eingestellt werden. Das im Durchschnitt deutlich geringere Einkommen von Frauen bedeutet niedrigere Pensionen für ältere Frauen, die damit ein hohes Risiko der Altersarmut tragen (GIZ 1.2021c). Frauen mit kleinen Kindern gehören einer sozialen Gruppe an, die besonders von sozialer Unterstützung wie Lohnfortzahlung während des Mutterschutzes und dem sogenannten 'Mutterschaftskapital' Nutzen ziehen (vgl. Kapitel Sozialbeihilfen) (Russland Analysen 21.2.2020a).

Die politische Sphäre in Russland ist von Männern dominiert (GIZ 1.2021c). Frauen sind in Politik und Regierung unterrepräsentiert. Sie halten weniger als ein Fünftel der Sitze in der Duma und im Föderationsrat. Nur drei von 31 Kabinettsmitgliedern sind Frauen (FH 3.3.2021). In Russland herrscht noch immer ein konservatives Familienbild vor – die Frau als Hausfrau und Mutter. Jedoch sind Frauen in der Realität gezwungen, auch (Vollzeit) erwerbstätig zu sein, schon allein aufgrund der hohen Scheidungsrate. Daraus folgt logischerweise auch eine große Anzahl von alleinerziehenden Frauen (Russland Analysen 21.2.2020b).

Ein ernstes Problem, das von Politik und Gesellschaft weitgehend ausgeblendet wird, stellt die häusliche Gewalt dar (ÖB Moskau 6.2021; vgl. FH 3.3.2021, HRW 10.2018). Häusliche Gewalt wird von den Behörden kaum beachtet, stattdessen werden Opfer häuslicher Gewalt, die zur Selbstverteidigung den Täter töten, häufig inhaftiert. Bis zu 80% der in Russland inhaftierten Frauen dürften unter diese Kategorie fallen (FH 3.3.2021). Es gibt in Russland sowohl staatliche Krisenzentren (Frauenhäuser) als auch gesellschaftliche Organisationen und Privatinitiativen zur Unterstützung und Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt. Das Zentrum ANNA etwa koordiniert ein informelles Netzwerk von Organisationen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und Kinder. Es wurde eine interaktive Karte mit Zentren, die betroffene Frauen in den meisten Regionen Russlands unterstützen, erstellt (ÖB Moskau 6.2021). Offizielle Studien legen nahe, dass mindestens jede fünfte Frau in Russland irgendwann in ihrem Leben körperliche Gewalt durch ihren Ehemann oder Partner erlebt hat (HRW 10.2018). Nach offiziellen Statistiken ereignen sich 40% aller schweren Gewaltdelikte innerhalb der Familien. Es gibt kein System zur Prävention, und es gibt zu wenig Einrichtungen, in denen Frauen mit Kindern vorübergehend Zuflucht suchen können. Die Polizei bleibt oft passiv und geht z.B. Anzeigen nicht mit genügend Nachdruck oder zuweilen gar nicht nach (AA 2.2.2021; vgl. US DOS 11.3.2020, HRW 10.2018). Experten schätzen, dass 60% bis 70% der Fälle von häuslicher Gewalt nicht gemeldet werden (US DOS 11.3.2020). Trotz der weiten Verbreitung des Problems gibt es grobe Mängel bei der Bewusstseinsbildung darüber, auch innerhalb der politischen Elite. Durch eine Gesetzesänderung im Jänner 2017 wurde häusliche Gewalt im Erstfall zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021), wenn sie zu keinen dauerhaften körperlichen Schäden führt (FH 3.3.2021). Ende 2019 wurde ein neuer Gesetzesentwurf zur Vorbeugung von häuslicher Gewalt ins russische Parlament eingebracht, dessen Behandlung bis zum Ende der Coronavirus-Epidemie aber ausgesetzt wurde. Gegner des Entwurfs sehen traditionelle Familienstrukturen in Gefahr. In der Zeit des Lockdowns aufgrund der COVID-19-Pandemie hatten sich die Anrufe bei der Hotline für Opfer von häuslicher Gewalt des ANNA-Zentrums um 74% erhöht (ÖB Moskau 6.2021). Die NGO 'nasiliu.net', welche sich gegen häusliche Gewalt engagiert, wurde vom russischen Justizministerium in die Liste der Organisationen eingetragen, welche 'die Funktion eines ausländischen Agenten' erfüllen (ÖB Moskau 6.2021; vgl. HRW 13.1.2022). Russlands Gesetze, polizeiliche Maßnahmen und Dienstleistungen für Opfer von häuslicher Gewalt sind unzureichend (HRW 13.1.2022). Mehrere Politiker und Experten, die sich für ein robustes Gesetz gegen häusliche Gewalt einsetzen, berichteten von Drohungen gegen sie und ihre Familien, unter anderem durch diejenigen, die behaupten, 'traditionelle' oder 'familiäre' Werte zu fördern (HRW 13.1.2021; vgl. AI 16.4.2020). Russlands Ombudsperson stellte fest, dass die häusliche Gewalt während der Covid-19-Pandemie zugenommen hat (HRW 13.1.2021; vgl. AI 7.4.2021) und sich die gemeldeten Fälle während des Lockdowns im Frühjahr 2020 mehr als verdoppelt haben (HRW 13.1.2021). Aus einer 2021 veröffentlichten Studie, die fast ein Jahrzehnt umfasst, geht hervor, dass in etwa 66% aller ermordeten Frauen in Russland Opfer von häuslicher Gewalt waren (HRW 13.1.2022).

Vergewaltigung ist illegal, und das Gesetz sieht dieselbe Strafe für einen Täter vor, egal ob er aus der Familie stammt oder nicht. Das Strafmaß für Vergewaltigung ist drei bis sechs Jahre Haft für einen Einzeltäter mit zusätzlicher Haft bei erschwerenden Umständen. Laut NGOs würden Exekutivbeamte und Staatsanwälte Vergewaltigung durch Ehemänner bzw. durch Bekannte keine Priorität einräumen (US DOS 11.3.2020). NGOs berichten außerdem, dass lokale Polizisten sich weigern würden, auf Anrufe in Bezug auf Vergewaltigung und häusliche Gewalt zu reagieren, solange sich das Opfer nicht in einer lebensbedrohlichen Situation befindet (US DOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017).

NGOs stellten fest, dass der Zugang zu Notunterkünften oft kompliziert ist, da sie einen Wohnsitznachweis in dieser bestimmten Gemeinde sowie einen Nachweis über den Status eines Niedrigeinkommens benötigen. In vielen Fällen werden diese Dokumente von den Tätern verwaltet und stehen den Opfern deshalb nicht zur Verfügung (US DOS 11.3.2020). Krisenzentren und Notunterkünfte von NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Erbringung von Dienstleistungen für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen. Diese sind auf staatlicher Ebene oft nicht verfügbar, und es gibt Fälle, in denen Frauen, bevor sie in NGO-Einrichtungen kamen, von staatlichen Einrichtungen abgewiesen wurden (HRW 10.2018). Aufgrund finanzieller Engpässe und staatlicher Beschränkungen bei der Beschaffung ausländischer Mittel haben NGOs Schwierigkeiten, ausreichend viele Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. In Großstädten gibt es staatliche Unterkünfte, die dringende Hilfe, wie zum Beispiel 'Krisenwohnungen' zur Verfügung stellen können. Neben staatlichen und NGO-Einrichtungen gibt es auch religiöse Einrichtungen der Russisch-Orthodoxen, der Katholischen und der Baptisten-Kirche, die Opfern von häuslicher Gewalt Hilfe bereitstellen. Um in eine staatliche Einrichtung aufgenommen zu werden, müssen Frauen oft eine ganze Reihe von Dokumenten mitbringen, wie beispielsweise Meldezettel, Reisepass, eine Überweisung von Sozial- oder Kinderschutzdiensten, eine persönliche schriftliche Erklärung, warum die Person Hilfe benötigt, ärztliche Atteste mit Angaben zu allen Impfungen und in einigen Fällen sogar Röntgenaufnahmen. Wenn eine Frau Kinder hat, muss sie auch für jedes ihrer Kinder Gesundheitsunterlagen vorlegen. Der Prozess der Beschaffung all dieser Dokumente kann bis zu zwei Wochen dauern, in einigen Fällen auch länger (HRW 10.2018).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021

 AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2038587.html , Zugriff 19.2.2021

 AI – Amnesty International (7.4.2021): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2020), https://www.ecoi.net/de/dokument/2048614.html , Zugriff 14.2.2022

 EASO – European Asylum Support Office [EU] (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 24.2.2021

 FH – Freedom House (3.3.2021): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2020 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2046536.html , Zugriff 5.3.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 19.2.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2020 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043508.html , Zugriff 19.2.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html , Zugriff 4.2.2022

 HRW – Human Rights Watch (10.2018): 'I Could Kill You and No One Would Stop Me' Weak State Response to Domestic Violence in Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1447924/3175_1540546740_russia1018-web3.pdf , Zugriff 5.3.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.10.2021

 Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 5.3.2021

 Russland Analysen/ Hornke, Theresa (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 5.3.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 5.3.2021

 Frauen im Nordkaukasus, insbesondere in Tschetschenien

Letzte Änderung: 02.03.2022

Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich von der in anderen Regionen Russlands. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen sind laut NGOs nach wie vor ein Problem in Tschetschenien (ÖB Moskau 6.2021; vgl. AA 2.2.2021), aber auch in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan. Verlässliche Statistiken dazu liegen nicht vor. Erschwert wird die Situation durch die Koexistenz dreier Rechtssysteme in der Region – dem russischen Recht, dem Gewohnheitsrecht (Adat) und der Scharia. Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt, lokale Behörden richten sich mehr nach Traditionen als nach den russischen Rechtsvorschriften. Insbesondere der Fokus auf traditionelle Werte und Moralvorstellungen, die in der Republik Tschetschenien unter Ramsan Kadyrow propagiert werden, schränkt die Rolle der Frau in der Gesellschaft ein. Das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sprach im Rahmen seiner Empfehlungen an die Russische Föderation in diesem Zusammenhang von einer 'Kultur des Schweigens und der Straflosigkeit' (ÖB Moskau 6.2021). Die Heirat einer 17-jährigen Tschetschenin mit einem 47-jährigen örtlichen Polizeichef im Frühjahr 2015 gilt als Beispiel für die verbreitete Praxis von Zwangsehen. Außerdem weist sie auf eine Form der Polygamie hin, die zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich ist (AA 13.2.2019).

Unter sowjetischer Herrschaft waren tschetschenische Frauen durch die russische Gesetzgebung geschützt. Polygamie, Brautentführungen und Ehrenmorde wurden bestraft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion löste sich der Schutz durch russisches Recht für Frauen allmählich auf, gleichzeitig kam es zu einem stärkeren Einfluss von Adat und Scharia. Unter Republiksoberhaupt Kadyrow ist die tschetschenische Gesellschaft traditioneller geworden. Nach Aussagen eines tschetschenischen Rechtsanwalts werden Frauen sowohl nach islamischem als auch nach dem Adatrecht hoch geschätzt. Die Wirklichkeit im Tschetschenien von heute sieht jedoch so aus, dass Gewalt gegen Frauen weit verbreitet ist und sich die Lage für Frauen äußerst schwierig gestaltet (EASO 9.2014; vgl. Welt.de 14.2.2017, openDemocracy 7.8.2020). Gewalttätige Ehemänner werden selten bestraft, die Schuld wird üblicherweise der Frau zugeschoben (openDemocracy 7.8.2020). Auch die Religion ist ein Rückschlag für die Frauen und stellt sie in eine den Männern untergeordnete Position (EASO 9.2014; vgl. Welt.de 14.2.2017). Es ist nicht klar, ob Scharia oder Adat wichtiger für die tschetschenische Gesellschaft sind. Jedoch kann nur das russische Recht Frauen effektiv schützen. Es wird berichtet, dass die Scharia immer wichtiger wird, und auch Kadyrow selbst – obwohl er sowohl Adat als auch Scharia betont – sich eher auf die Scharia bezieht. Das Adat-Recht dürfte aber besonders bei Hochzeitstraditionen eine dominante Rolle spielen (EASO 9.2014).

Häusliche Gewalt, die überall in Russland ein großes Problem darstellt, gehört in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag (Welt.de 14.2.2017; vgl. openDemocracy 7.8.2020). Sie ist weit verbreitet, gesellschaftlich toleriert und oft äußerst brutal. Zivilgesellschaftliche Initiativen widmen sich der Unterstützung nordkaukasischer Frauen und bieten etwa psychologische, rechtliche und medizinische Hilfe an: z.B. die Organisationen 'Women for Development' und 'SINTEM' in Tschetschenien und 'Mat‘ i Ditja' (Mutter und Kind) in Dagestan (ÖB Moskau 6.2021). Im Jahr 2019 eröffnete in Tschetschenien die Organisation Women for Development - eine der ältesten und angesehensten Organisationen in Tschetschenien - mit Unterstützung des Zuschussprogramms für NGOs ein Krisenzentrum für Frauen. Es gab auch Pläne, ein Frauenhaus zu eröffnen; aufgrund der engen familiären Bindungen, die in der Republik herrschen, wäre es aber schwierig gewesen, die Einrichtung vor Männern und ihren Familien geheim zu halten, darum scheiterte dieses Vorhaben. Beamte haben das hohe Maß an Scheidung und häuslicher Gewalt anerkannt und ein Komitee zur Verhütung von Familienkonflikten unter dem Spirituellen Ausschuss der Muslime der Republik Tschetschenien eingerichtet. Mehrere NGOs, die Teil der Koalition der Frauen-NGOs im Nordkaukasus sind, arbeiten an den Themen häusliche Gewalt und Unterstützung für Frauen. 'Zulässige' Themen müssen jedoch in die allgemeine Logik traditioneller, kultureller, spiritueller, religiöser und nationaler Bräuche und Werte passen. Es ist auch wichtig anzumerken, dass die Mehrheit der NGO-Direktoren und Mitarbeiter in Tschetschenien Frauen sind. Der Ausweg aus der humanitären Nachkriegskrise lag direkt auf den Schultern der Frauen, da sich die Mehrheit der männlichen Bevölkerung nicht frei bewegen konnte und ständigen Bedrohungen und Kontrollen ausgesetzt war. Da Frauen in Tschetschenien, als Folge der lokalen traditionellen Kultur, als verantwortlich für Empathie und Fürsorge angesehen werden, sind sie diejenigen, die die meisten gemeinnützigen und sozialen Projekte zusammenstellen, als Psychologinnen arbeiten, sich freiwillig für Kinder engagieren und sich mit den Themen von Familien mit niedrigem Einkommen und Menschen mit Behinderungen beschäftigen (CSIS 1.2020). Es gibt Berichte, dass Frauen, die sich in anderen Republiken in Frauenhäusern aufhalten, teils gewaltsam von der Polizei zu ihren Familien zurückgebracht werden (HRW 13.1.2022).

In Dagestan werden Geschlechterfragen und Frauenrechte in der Arbeit von Malikat Jabirowas Organisation 'Mat i Ditja' (Mutter und Kind) sowie von der unabhängigen Journalistin Swetlana Anochina mit ihrem 'Daptar'-Projekt und ihrer Gruppe 'Väter und Töchter' behandelt, obwohl diese Initiativen nicht die einzigen sind, die in diesem Bereich aktiv sind (CSIS 1.2020).

Vergewaltigung ist laut Artikel 131 des russischen Strafgesetzbuches ein Straftatbestand. Das Ausmaß von Vergewaltigungen in Tschetschenien und anderen Teilen der Region ist unklar, da es im Allgemeinen so gut wie keine Anzeigen gibt, trotzdem ist davon auszugehen, dass Vergewaltigung in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus weit verbreitet ist. Vergewaltigung in der Ehe wird nicht als Vergewaltigung angesehen. Vergewaltigungen passieren auch in Polizeistationen. Es handelt sich um ein Tabuthema in Tschetschenien. Einer vergewaltigten Frau haftet ein Stigma an. Sie wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt, wenn die Vergewaltigung publik wird. Auch die Familie wird isoliert und stigmatisiert, und es ist nicht unüblich, dass die Familie eine vergewaltigte Frau wegschickt. Die vorherrschende Einstellung ist, dass eine Frau selbst schuld an einer Vergewaltigung sei. Bei Vergewaltigung von Minderjährigen gestaltet sich die Situation etwas anders. Hier wird die Minderjährige eher nicht als an der Vergewaltigung schuldig angesehen, wie es einer erwachsenen Frau passieren würde. Insofern ist die Schande für die Familie auch nicht so groß (EASO 9.2014). Die Täter werden oft nicht bestraft (openDemocracy 7.8.2020).

Es ist in Tschetschenien üblich, die Ehe auf muslimische Art – durch einen Imam – zu schließen. Solch eine Hochzeit ist jedoch nach russischem Recht nicht legal, da sie weder vor einem Standesbeamten geschlossen noch registriert ist. Nach russischem Recht wird sie erst nach der Registrierung bei der Behörde ZAGS legal, die nicht nur Eheschließungen registriert, sondern auch Geburten, Todesfälle, Adoptionen usw. Da die Registrierung mühsam ist und auch eine Scheidung verkompliziert, sind viele Ehen im Nordkaukasus nicht registriert. Eine Registrierung wird oft nur aus praktischen Gründen vorgenommen, beispielsweise in Verbindung mit dem ersten Kind. Der Imam kann eine muslimische Hochzeit auch ohne Anwesenheit des Bräutigams schließen, jedoch ist laut Scharia die Anwesenheit der Frau nötig (EASO 9.2014).

In den letzten Jahren repatriierte Russland aktiv die Kinder und zum Teil auch die Ehefrauen von Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates zurück nach Russland. Laut einer Pressemeldung vom August 2020 wurden bisher 122 russische Kinder aus dem Irak und 35 aus Syrien nach Russland zurückgebracht, die Rückholung weiterer Kinder sei geplant (ÖB Moskau 6.2021). Der Umgang mit Familienangehörigen von (ehemaligen) Kämpfern variiert von Region zu Region. Die Maßnahmen reichen von Beobachtung, über soziale Diskriminierung bis zu strafrechtlichen Verurteilungen. In Tschetschenien war es weiblichen Rückkehrern gestattet, nach Hause zurückzukehren. In Dagestan wurden Frauen, angesichts aktiver weiblicher Beteiligung im Aufstand, als Sicherheitsrisiko wahrgenommen und zu ca. sieben Jahren Haft verurteilt, wobei die Haftstrafen aufgrund Fürsorgepflichten für kleine Kinder aufgeschoben wurden, bis die Kinder 14 Jahre alt sind (ÖB Moskau 6.2021; vgl. The Guardian 2.3.2019).

Weibliche Beschneidung kommt in Teilen von Dagestan vor. Etwa 1.240 Mädchen werden jährlich einer Genitalverstümmelung unterzogen (Human Rights Center 'Memorial'; OVD-Info; Stichting Justice Initiative; et al. 6.2020; vgl. Caucasian Knot 19.6.2020). Neben Dagestan gibt es auch Berichte von Genitalverstümmelung in Tschetschenien und Inguschetien (ÖB Moskau 6.2021). In Tschetschenien wurden ältere Frauen einer Beschneidung unterzogen (Caucasian Knot 19.6.2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf , Zugriff 24.2.2021

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021

 Caucasian Knot (19.6.2020): Dagestan becomes centre of female circumcision problem in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/51240/ , Zugriff 9.4.2021

 CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://www.csis.org/analysis/civil-society-north-caucasus , Zugriff 24.2.2021

 EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautenführung; Waisenhäuser), https://www.ecoi.net/en/file/local/1154982/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf , Zugriff 24.2.2021

 Human Rights Center 'Memorial'; OVD-Info; Stichting Justice Initiative; et al. (Autor), veröffentlicht von UN Human Rights Committee (6.2020): Russia’s Compliance with the International Covenant on Civil and Political Rights; Suggested List of Issues; Submitted for the consideration of the 8th periodic report by the Russian Federation for the 129th Session of the Human Rights Committee, https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CCPR/Shared%20Documents/RUS/INT_CCPR_ICO_RUS_42488_E.pdf , Zugriff 9.4.2021

 HRW – Human Rights Watch (13.1.2022): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2021 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2066475.html , Zugriff 4.2.2022

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.10.2021

 openDemocracy (7.8.2020): After a Chechen woman died, a journalist was targeted with death threats. Here’s why, https://www.opendemocracy.net/en/odr/after-a-chechen-woman-died-a-journalist-was-targeted-with-death-threats-heres-why/ , Zugriff 30.3.2021

 The Guardian (2.3.2019): 'We aren't dangerous': Why Chechnya has welcomed women who joined Isis, https://www.theguardian.com/world/2019/mar/02/we-arent-dangerous-why-chechnya-has-welcomed-women-who-joined-isis , Zugriff 19.2.2021

 Welt.de (14.2.2017): Immer ein echter Mann zu sein – das ist eine Last, https://www.welt.de/politik/ausland/article161562501/Immer-ein-echter-Mann-zu-sein-das-ist-eine-Last.html , Zugriff 19.2.2021

 Kinder

Letzte Änderung: 29.08.2022

Russland hat die UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1990 ratifiziert. Zwei Zusatzprotokolle wurden von Russland ebenfalls ratifiziert, welche die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten sowie Kinderhandel, Kinderprostitution und -pornografie betreffen (OHCHR o.D.). Landesweit existiert kein Gesetz zu Kindesmissbrauch, aber Mord, Vergewaltigung sowie Körperverletzung sind gesetzlich verboten. Ebenso verboten sind kommerzielle sexuelle Ausbeutung sowie die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie. Der Besitz von Kinderpornografie ist nur dann gesetzlich verboten, wenn eine Absicht der Verbreitung besteht. Die gesetzlichen Vorgaben werden von Behörden im Allgemeinen umgesetzt (USDOS 12.4.2022). Im Jahr 2014 verabschiedete die russische Regierung die Grundlagen der staatlichen Jugendpolitik der Russischen Föderation für den Zeitraum bis 2025. Die Föderale Agentur für Jugendangelegenheiten (Rosmolodež') ist seit 2018 direkt der Regierung unterstellt und besitzt einen Jahresetat von ca. RUB 8 Milliarden [ca. EUR 130 Mio.] (FES 2020). Im Jahr 2009 wurde das Amt eines Kinderrechtsbeauftragten geschaffen (KRB o.D.a). Kinderrechtsbeauftragte werden vom Staatspräsidenten für eine Amtsperiode von fünf Jahren ernannt. Der Staatspräsident ist berechtigt, Kinderrechtsbeauftragte vorzeitig ihres Amts zu entheben. Zu den Aufgaben von Kinderrechtsbeauftragten, welche dem Staatspräsidenten gegenüber rechenschaftspflichtig sind, zählt beispielsweise die Bearbeitung von Beschwerden (KRB 27.12.2018). Die Kinderrechtsbeauftragte hat jährlich einen Tätigkeitsbericht und Bericht über die Lage der Kinder in allen Regionen vorzulegen (AA 21.5.2021; vgl. KRB 27.12.2018).

Einige Kinder sind kommerzieller sexueller Ausbeutung ausgesetzt (USDOS 12.4.2022). Gemäß Berichten kommt es vor, dass Kinder (darunter Obdachlose) Opfer von Sexhandel in Russland und in anderen Ländern werden. Auch kommt es vor, dass Kinder in staatlichen Waisenheimen von Menschenhändlern in folgende Bereiche gelockt werden: Zwangsbettelei, Zwangskriminalität, Kinderpornografie, Sexhandel sowie Verwendung von Kindern durch bewaffnete Gruppierungen im Nahen Osten. Gemäß Aussage der Regierung vom Juli 2021 wurden seit Beginn des Repatriierungsprogramms im Jahr 2017 341 Kinder aus Syrien und Irak repatriiert (USDOS 7.2022). Gewalt gegen Kinder scheint häufig angewendet zu werden (USDOS 12.4.2022). Körperliche Züchtigung von Kindern zu Hause ist gesetzlich zugelassen. Körperliche Züchtigung von Kindern in Schulen und als Disziplinarmaßnahme in Strafanstalten ist nicht ausdrücklich verboten. Ungesetzlich ist körperliche Züchtigung als Strafmaßnahme im Zusammenhang mit Straftaten (GI 7.2020).

Es gibt in Russland gesellschaftliche Organisationen und Privatinitiativen zur Unterstützung und Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt. Das Zentrum 'Anna' etwa koordiniert ein informelles Netzwerk von Organisationen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und Kinder (ÖB 30.6.2021; vgl. AC o.D.). Es gibt kein System zur Prävention gegen häusliche Gewalt und sehr wenige Einrichtungen, wo Frauen mit Kindern vorübergehend Zuflucht suchen können (AA 21.5.2021; vgl. Humanium o.D.). Die Notwendigkeit der Eindämmung von Kinderprostitution, Kinderhandel, Kinderpornografie und Gewalt gegen Kinder wird in der Öffentlichkeit zunehmend thematisiert (AA 21.5.2021).

Das gesetzliche Mindestalter für Eheschließungen beträgt für Männer und Frauen 18 Jahre. Unter bestimmten Umständen dürfen lokale Behörden Eheschließungen ab einem Alter von 16 Jahren bewilligen. Mehrere Regionen erlauben Eheschließungen ab einem Alter von 14 Jahren, wenn beispielsweise eine Schwangerschaft vorliegt oder ein Kind geboren wurde. Das gesetzliche Mindestalter für einvernehmliche sexuelle Handlungen beträgt 16 Jahre (USDOS 12.4.2022).

Bildung ist kostenlos. Es herrscht Schulpflicht bis zur 11. Schulstufe. Dennoch verweigern Regionalbehörden häufig den Schulbesuch für Kinder von Personen, welche keine örtliche Wohnsitzregistrierung aufweisen (darunter Roma). Roma-Kinder werden in Schulen, deren Qualitätsstandards niedrig sind, abgesondert. HIV-infizierte Kinder sind Diskriminierung im Bildungsbereich ausgesetzt (USDOS 12.4.2022). Der Zugang zu (inklusiver) Bildung gestaltet sich - trotz bestehender gesetzlicher Regelungen - für viele beeinträchtigte Kinder schwierig. Diesbezüglich fehlt beispielsweise ausgebildetes Personal an den Schulen (USDOS 12.4.2022; vgl. Humanium o.D.). Seit 2019 läuft das sogenannte Nationale Projekt Bildung, welchem RUB 784,5 Milliarden [ca. EUR 13 Milliarden] zur Verfügung stehen, um Schulen zu sanieren und zu modernisieren, Lehrpläne zu aktualisieren, Fachpersonal zu schulen und die Schulverwaltung umzustrukturieren und fortzubilden (Russland-Analysen 21.2.2020b). Im Rahmen dieses Projekts wird auf eine patriotische Erziehung Wert gelegt (NP o.D.). Gesetzlich ist Kindern unter 16 Jahren eine Arbeitsaufnahme in den meisten Fällen verwehrt. Die Arbeitsbedingungen für Kinder unter 18 Jahren sind gesetzlich geregelt. 14-Jährige dürfen unter bestimmten Bedingungen und mit Erlaubnis der Eltern oder des Vormunds einer Arbeit nachgehen. Eine solche Arbeit darf der Gesundheit bzw. dem Wohlergehen des Kindes nicht schaden. Minderjährigen ist eine berufliche Beschäftigung in bestimmten Bereichen gesetzlich verboten, z.B. Arbeiten unter Tag und in Sektoren, welche die moralische und gesundheitliche Entwicklung von Kindern gefährden. Gesetzliche Vorgaben werden von der Regierung effektiv umgesetzt, obwohl das Strafausmaß zu milde ist. Es gibt Berichte über Kinder, welche im informellen Sektor und im Verkauf tätig sind. Einige Kinder sind kommerzieller sexueller Ausbeutung ausgesetzt und werden zum Betteln gezwungen (USDOS 12.4.2022).

Die medizinische Versorgung für Kinder ist sehr angespannt. Es fehlen unter anderem Physiotherapeuten und Psychologen (AA 21.5.2021). Gemäß dem Welthunger-Index 2021 sind 4,1 % der Kinder unter fünf Jahren ausgezehrt, und 12,5 % weisen Wachstumsverzögerungen auf (WHI o.D.). Im Jahr 2020 erhielten 11.000 Kinder (0-14 Jahre) antiretrovirale HIV/Aids-Medikamente (UNICEF o.D.). Es gibt staatliche Einrichtungen für Kinder mit Beeinträchtigungen, welche eine Wohngelegenheit und kostenlose medizinische Behandlung bieten (ÖB 30.6.2021). Es existieren Berichte über Vernachlässigung, körperlichen und psychologischen Missbrauch von Kindern, welche in staatlichen Institutionen untergebracht sind. Besonders vulnerabel sind Kinder mit Beeinträchtigungen (USDOS 12.4.2022). Beeinträchtigte Kinder erfahren keine Gleichberechtigung, und es existieren zu wenige Unterbringungsmöglichkeiten, Infrastruktur sowie Personal (Humanium o.D.).

Gemäß dem von der NGO Humanium erstellten Index bestehen in Russland wahrnehmbare Probleme bei der Realisierung von Kinderrechten (orange Stufe bzw. 7,84 von 10 maximal erreichbaren Punkten) (Humanium o.D.).

Nordkaukasus:

Gemäß dem russischen Ministerpräsidenten ist die Kindersterblichkeit im Nordkaukasus um ca. ein Drittel höher als im russischen Durchschnitt (ÖB 30.6.2021; vgl. Government.ru 15.6.2021). Dagestan ist eine von fünf Regionen, wo im Zeitraum zwischen Jänner und November 2021 die Säuglingssterblichkeit am höchsten war. Im Vergleich zum Jahr 2020 stieg in Tschetschenien im Zeitraum Jänner-November 2021 die Kindersterblichkeit um 10 % (Dagestan: 17,3 %) (KR 6.1.2022; vgl. Rosstat 30.12.2021). In Dagestan starben im Zeitraum Jänner-November 2021 8 von 1.000 Neugeborenen (Tschetschenien: 6) (Rosstat 30.12.2021). Es gibt im Nordkaukasus nicht genügend Schulen (Government.ru 15.6.2021). Mancherorts sind Mädchen Zwangs- bzw. Kinderheiraten ausgesetzt (USDOS 12.4.2022). Regionen in Russland haben eigene Kinderrechtsbeauftragte. Seit 2014 wird dieses Amt in Tschetschenien von Chirachmatov Chamzat Asurin-Basirievič bekleidet (KRB o.D.b). Die derzeitige Kinderrechtsbeauftragte für Dagestan ist Ežova Marina Jur'evna (KFMB o.D.).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053304/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_21.05.2021.pdf , Zugriff 13.7.2022

 AC – Anna Center (o.D.): Анна Центр [Anna-Zentrum], https://www.anna-center.ru/ , Zugriff 9.8.2022

 FES – Friedrich-Ebert-Stiftung / Pavel Chikov (2020): Jugend und Menschenrechte in Russland: Ein Verhältnis mit Widersprüchen, http://library.fes.de/pdf-files/bueros/moskau/16507.pdf , Zugriff 9.8.2022

 GI – Global Initiative to End All Corporal Punishment of Children (7.2020): Corporal punishment of children in the Russian Federation, http://www.endcorporalpunishment.org/wp-content/uploads/country-reports/RussianFederation.pdf , Zugriff 9.8.2022

 Government.ru – Webseite der Regierung [Russland] (15.6.2021): Совещание с членами Правительственной комиссии по вопросам социально-экономического развития Северо-Кавказского федерального округа [Sitzung mit Mitgliedern der Regierungskommission in Fragen der sozial-ökonomischen Entwicklung des nordkaukasischen Föderalkreises], http://government.ru/news/42494/ , Zugriff 9.8.2022

 Humanium (o.D.): Kinder in Russland: Die Verwirklichung der Kinderrechte in Russland, https://www.humanium.org/de/russland/ , Zugriff 9.8.2022

 KFMB – Kinderrechts-, Familien- und Mutterschaftsbeauftragte beim Republikoberhaupt Dagestans [Russland] (o.D.): Уполномоченный [Beauftragte], http://deti.gov.ru/region/dagestan/bio , Zugriff 9.8.2022

 KR – Kavkaz.Realii (6.1.2022): Росстат зафиксировал всплеск детской смертности в регионах юга России и Северного Кавказа [Rosstat verzeichnete einen sprunghaften Anstieg der Kindersterblichkeit in Regionen Südrusslands und des Nordkaukasus], https://www.kavkazr.com/a/rosstat-zafiksiroval-vsplesk-detskoy-smertnosti-v-regionah-yuga-rossii-i-severnogo-kavkaza/31642468.html , Zugriff 9.8.2022

 KRB – Kinderrechtsbeauftragte beim Staatspräsidenten [Russland] (27.12.2018): Федеральный закон: Об уполномоченных по правам ребенка в Российской Федерации (Nr. 501-ФЗ) [Föderales Gesetz: Über Kinderrechtsbeauftragte in der Russischen Föderation], http://deti.gov.ru/detigray/upload/documents/January2019/amRfIOZ71CtFW0jcp7UI.pdf , Zugriff 9.8.2022

 KRB – Kinderrechtsbeauftragte beim Staatspräsidenten [Russland] (o.D.a): ОБ ИНСТИТУТЕ УПОЛНОМОЧЕННОГО ПО ПРАВАМ РЕБЕНКА В РОССИИ [Über die Institution des Kinderrechtsbeauftragten in Russland], http://deti.gov.ru/pages/history , Zugriff 9.8.2022

 KRB – Kinderrechtsbeauftragter in Tschetschenien [Russland] (o.D.b): Уполномоченный [Beauftragter], http://deti.gov.ru/region/chechen/bio , Zugriff 9.8.2022

 NP – Nationale Projekte [Russland] (o.D.): Проекты/Образование/Инициативы: Патриотическое воспитание [Projekte/Bildung/Initiativen: patriotische Erziehung], https://национальныепроекты.рф/projects/obrazovanie/patrioticheskoe-vospitanie, Zugriff 9.8.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2021): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2021 (Stand 30.6.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.7.2022

 OHCHR – Office of the High Commissioner for Human Rights [UN] (o.D.): Russian Federation: Status of Ratification – Interactive Dashboard, https://indicators.ohchr.org/ , Zugriff 26.7.2022

 Rosstat (Föderaler Dienst für Staatliche Statistik) [Russland] (30.12.2021): МЛАДЕНЧЕСКАЯ СМЕРТНОСТЬ ПО СУБЪЕКТАМ РОССИЙСКОЙ ФЕДЕРАЦИИ за январь - ноябрь 2021 года [Kindersterblichkeit nach Subjekten der Russischen Föderation im Zeitraum Jänner-November 2021], https://rosstat.gov.ru/storage/mediabank/2021_edn11_t2.xlsx , Zugriff 9.8.2022

 Russland-Analysen (Nr. 382) / Theresa Hornke (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 9.8.2022

 UNICEF – United Nations Children’s Fund (o.D.): UNICEF Data Warehouse: Cross-sector indicators - Geographic area: Russian Federation - Indicator: Reported number of children (aged 0-14 years) receiving antiretroviral treatment (ART), https://data.unicef.org/resources/data_explorer/unicef_f/?ag=UNICEF&df=GLOBAL_DATAFLOW&ver=1.0&dq=RUS.HVA_PED_ART_NUM.&startPeriod=1970&endPeriod=2022 , Zugriff 9.8.2022

 USDOS – US Department of State [USA] (7.2022): 2022 Trafficking in Persons Report, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2022/08/22-00757-TIP-REPORT_072822-inaccessible.pdf , Zugriff 9.8.2022

 USDOS – US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071123.html , Zugriff 20.7.2022

 WHI – Welthunger-Index (o.D.): Welthunger-Index 2021: Russische Föderation, https://www.globalhungerindex.org/de/russia.html , Zugriff 9.8.2022

 Scheidung und Obsorge

Letzte Änderung: 10.06.2021

Fragen der Obsorge für minderjährige Kinder sind in der Russischen Föderation grundsätzlich im Familienkodex von 1995 geregelt. Gemäß Art. 61 haben die Eltern eines Kindes die gleichen Rechte und Pflichten in Bezug auf ihre Kinder. Die elterlichen Rechte erlöschen mit der Volljährigkeit des Kindes, also mit der Vollendung des 18. Lebensjahres. Gemäß Art. 18 sind grundsätzlich die russischen Personenstandsbehörden (ZAGS) für die Durchführung von Scheidungsverfahren zuständig, in den Fällen der Art. 21 bis 23 die Gerichte. Gemäß Art. 21 hat eine Scheidung gerichtlich zu erfolgen, falls gemeinsame minderjährige Kinder existieren, es sei denn, der Ehepartner ist verschollen, geschäftsunfähig oder zu einer drei Jahre übersteigenden Freiheitsstrafe verurteilt worden. Gemäß Art. 24 Z 1 können die Ehegatten dem Gericht im Scheidungsverfahren eine Vereinbarung vorlegen, in der sie unter anderem regeln, bei welchem Elternteil die Kinder leben werden und wie hoch die Alimentationszahlungen für die Kinder sein sollen. Fehlt eine solche Vereinbarung der Eltern oder verletzt sie die Interessen der Kinder oder eines Elternteils, so ist das Gericht verpflichtet, diese Fragen zu entscheiden. Gemäß Art. 66 Z 1 hat derjenige Elternteil, der nicht beim Kind lebt, das Recht auf Kontakt mit diesem, auf Teilhabe an der Erziehung und auf Entscheidung von Ausbildungsfragen. Gemäß Z 3 sind bei Nichterfüllung der Gerichtsentscheidung die Maßnahmen des Kodex über Verwaltungsübertretungen zu setzen. Bei böswilliger Nichterfüllung der Gerichtsentscheidung kann das Gericht auf Antrag des nicht beim Kind lebenden Elternteils die Entscheidung fällen, diesem das Kind zuzusprechen, falls dies im Interesse des Kindes liegt. Dabei ist dessen Meinung zu beachten. Art. 57 bestimmt generell, dass ein Kind das Recht hat, seine Meinung zu beliebigen familienrechtlichen Fragen, die seine Interessen berühren, auszudrücken und im Zuge von Gerichts- oder Verwaltungsverfahren angehört zu werden. Die Berücksichtigung der Meinung des Kindes ist verpflichtend, wenn es älter als zehn Jahre ist, es sei denn, sie widerspräche seinen Interessen. Die Nichterfüllung einer Gerichtsentscheidung über die Ausübung elterlicher Rechte (z.B. Besuchsrechte) kann eine Verwaltungsübertretung gemäß Art. 5.35 des Kodex über Verwaltungsübertretungen darstellen und Geldstrafen von 2.000 bis 3.000 Rubel [ca. 28 - 42€] nach sich ziehen, im Wiederholungsfall 4.000 bis 5.000 Rubel [ca. 56 – 70€] oder bis zu fünf Tage Verwaltungshaft. Theoretisch möglich ist auch die Durchsetzung der elterlichen Rechte mithilfe eines Gerichtsvollziehers. Prinzipiell wird der Gerichtsvollzieher in der Praxis zunächst das Gespräch mit beiden Elternteilen suchen, um die Gründe der Nichterfüllung des Gerichtsurteils zu ergründen. Gelingt es im Rahmen des Gesprächs nicht, die Erfüllung der Gerichtsentscheidung herbeizuführen, müsste der Gerichtsvollzieher diese theoretisch zwangsweise durchsetzen. Dies geschieht in der Praxis aber äußerst selten, weil offensichtlich ist, dass sich eine Zwangsabnahme des Kindes äußerst negativ auf dessen psychischen Zustand auswirken würde und somit nicht im Interesse des Kindes läge. Die Praxis in der Russischen Föderation sieht so aus, dass bei Scheidungen minderjährige Kinder zu 99% bei der Mutter bleiben (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).

Obsorge in der Republik Tschetschenien:

Da die Republik Tschetschenien Teil der Russischen Föderation ist, gelten die russischen Gesetze auch dort und sind anzuwenden. In der Praxis spielen neben dem russischen Recht traditionell aber auch das islamische Recht und das Gewohnheitsrecht (Adat) eine Rolle. In Tschetschenien ist es traditionell üblich, dass die Kinder nach einer Scheidung in der Familie des Vaters bleiben (KA der ÖB Moskau 12.7.2018). Manchmal beschränken der Ex-Mann und seine Verwandten, ungeachtet ihrer gesetzlichen Rechte, den Umgang der Mutter mit dem Kind. Gemäß dem Islam werden die Kinder nach der Scheidung der Eltern bis zu einem bestimmten Alter von der Mutter erzogen, falls sie nicht nochmals geheiratet hat: Buben bis sieben Jahre, Mädchen bis zum Erreichen der Volljährigkeit. Erst danach werden die Kinder dem Vater übergeben. Der Apparat des Bevollmächtigten für Menschenrechtsfragen in Tschetschenien versucht, Hilfestellungen in diversen Fragen zu geben, insbesondere in Familienfragen, wenn geschiedenen Frauen der Kontakt mit ihren Kindern verwehrt wird. Außerdem gibt es bei der geistlichen Führung der Muslime der tschetschenischen Republik noch die 'Kommission zur Regulierung familiärer Konflikte', deren Mitarbeiter sich bemühen, Konflikte friedlich zu regeln und es nicht zu Gerichtsverfahren kommen zu lassen. Das Arbeitsspektrum umfasst die ganze Bandbreite familienrechtlicher Probleme, insbesondere Konfliktsituationen zwischen den Eltern, die mit den Kindern zusammenhängen. Seit der Gründung im März 2012 sind 3.164 Ansuchen um Hilfeleistung an die Kommission gerichtet worden, von denen zu 2.963 Anträgen eine Entscheidung ergangen ist (KA der ÖB Moskau 12.7.2018). Die weitverbreitete tschetschenische Tradition, nach der Kinder nach einer Scheidung bei ihrem Vater bleiben (oder genauer gesagt von Frauen in der Familie ihres Vaters erzogen werden), wurde jahrelang infrage gestellt, da gewisse Männer ihre Ehepartnerinnen erpressen und sie daran hindern konnten, ihre Kinder zu sehen. Die Praxis von Gerichtsverhandlungen zur Vormundschaft und ein Pool von Mediatoren, die auch mit dem Muftiat zusammenarbeiten, sind zu erfolgreichen Methoden geworden, um dieses Problem zu lösen (CSIS 1.2020).

Nach Meinung russischer Beamter würden die örtlichen Gerichte im Nordkaukasus auch die örtlichen Traditionen bei ihren Entscheidungen beachten. Sie entscheiden zwar oft im Sinne der Mutter, die Entscheidung wird von den Verwandten des Vaters aber oft ignoriert. Im Nordkaukasus sollen Kinder nach der Scheidung immer in der Familie des Vaters bleiben – selbst nach dessen Tod -, und ein Gerichtsurteil bedeutet nichts. Nach Erfahrung tschetschenischer Gerichtsvollzieher leben die Kinder oft bei den Verwandten des Vaters, die das Kind dem behördlichen Zugriff entziehen würden, indem der Wohnort des (nicht gemeldeten) Kindes oft gewechselt wird. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass tschetschenische Gerichte offenbar nur selten mit Familienrechts- und Obsorgefragen befasst werden und außergerichtliche Lösungswege in der Praxis eine bedeutendere Rolle spielen. Selbst wenn Frauen vor Gericht Recht bekommen, ist eine Umsetzung des Urteils oft nicht möglich (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).

Ein Artikel vom 10.1.2012 über die Erziehung der Kinder nach der Scheidung besagt, dass, wenn die Eltern des Kindes zusammenleben, die materiellen Aufwendungen vom Vater getragen und die Kinder von der Mutter erzogen werden. Falls sich die Eltern scheiden lassen und die Kinder das Alter von 7-8 Jahren noch nicht erreicht haben, wird es vorgezogen, die Kinder an Frauen zu geben, vorzugsweise an die Mutter. Damit die Mutter das Recht hat, die Kinder zu erziehen, muss sie a) islamischen Glaubens, b) vernünftig (im Sinne von nicht psychisch erkrankt), c) Vertrauen erweckend (nicht sündhaft im Sinne des Islam) und darf d) nicht verheiratet sein. Falls die Mutter stirbt oder psychisch krank wird, geht das Recht der Erziehung auf die Großmutter mütterlicherseits über, danach auf die Großmutter väterlicherseits, danach auf die Schwester, schließlich auf nahe männliche Verwandte. Falls das Kind das Alter von 7-8 Jahren erreicht hat und die Eltern sich scheiden lassen, lässt man das Kind bei demjenigen Elternteil, welchen das Kind wählt. Dieses Wahlrecht steht Mädchen wie Buben gleichermaßen zu. Falls das Kind keinen Vater hat, wählt es zwischen der Mutter und dem Großvater väterlicherseits. Falls ein Sohn die Mutter wählt, bleibt er nachts bei der Mutter und tagsüber beim Vater. Falls der Sohn den Vater wählt, hat dieser nicht das Recht, jenem Besuche bei der Mutter zu verbieten. Falls die Mutter den Sohn besuchen will, hat der Vater nicht das Recht, ihr dies zu verbieten. Falls die Tochter den Vater wählt, hat er das Recht, ihr Besuche bei der Mutter zu verbieten, nicht jedoch, der Mutter Besuche bei der Tochter. Falls die Tochter die Mutter wählt, bleibt sie Tag und Nacht bei ihr, und der Vater hat das Recht, sie zu besuchen. Falls das Kind beide wählt, entscheidet das Los. Falls das Kind keinen Elternteil wählt, kommt es zur Mutter. Wenn ein Sohn volljährig wird, trägt er für sich selbst die Verantwortung. Wenn die Tochter volljährig und verheiratet ist, muss sie beim Ehemann leben. Falls sie nicht verheiratet ist und nie verheiratet war, wählt sie, bei wem sie leben möchte. Falls sie ohne Eltern leben möchte und man ihr das nicht gestattet, muss sie einen der Beiden wählen. Falls sie keine Eltern mehr hat, geht das Recht, sich um sie zu kümmern, auf den Bruder über, danach auf den Onkel väterlicherseits. Falls sie verheiratet war, soll sie mit den Eltern leben. Falls diese geschieden sind, wählt sie einen Elternteil, aber man verpflichtet sie nicht dazu. All das ist möglich, falls es keine Befürchtung gibt, dass sie sich unsittlich benehmen könnte. Falls eine solche Befürchtung besteht, haben der Vater, Großvater, Bruder oder Onkel das Recht, ihr zu verbieten, dass sie selbstständig lebt (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).

In Tschetschenien wurde im Juni 2017 ein Rat von Beamten und religiösen Autoritäten eingerichtet, der geschiedene Ehepaare wieder zusammenbringen soll (HRW 18.1.2018; vgl. FH 4.3.2020). Personen, die zögerten zu kooperieren, einschließlich Frauen aus gewalttätigen Ehen, wurden angeblich unter Druck gesetzt (HRW 18.1.2018).

Quellen:

 CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-website-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX , Zugriff 9.3.2020

 KA der ÖB Moskau – Konsularabteilung der Österreichischen Botschaft Moskau [Österreich] (12.7.2018): Information, per E-Mail

 FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html , Zugriff 5.3.2020

 HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html , Zugriff 12.3.2020

(…)

 Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 29.08.2022

In der Russischen Föderation herrscht laut gesetzlichen Vorgaben Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung. In einigen Fällen schränken die Behörden diese Rechte ein. Verschuldeten Personen kann die Ausreise verweigert werden. Auch Millionen Regierungsbedienstete sind von Ausreisebeschränkungen betroffen, darunter Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft, des Innen- und des Verteidigungsministeriums (USDOS 12.4.2022). Im Zuge von Grenzkontrollen kommt es zu Befragungen Ausreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen (AA 21.5.2021).

Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, wonach Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort [temporäre Registrierung] und ihren Wohnsitz [permanente Registrierung] melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses. Wer über Immobilienbesitz verfügt, bleibt dort ständig registriert, mit Eintragung im Inlandspass. Mieter benötigen eine Bescheinigung des Vermieters und werden damit vorläufig registriert. In diesen Fällen erfolgt keine Eintragung in den Inlandspass (AA 21.5.2021). Einige regionale Behörden schränken die Wohnsitzregistrierung vor allem bei ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein (FH 28.2.2022). Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich in andere Teile der Russischen Föderation reisen (AA 21.5.2021). Tschetschenen steht, genauso wie allen russischen Staatsbürgern, das in der Verfassung verankerte Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes und auf Aufenthalt in der Russischen Föderation zu (AA 21.5.2021; vgl. ÖB 30.6.2021, RI 4.7.2020). Die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten ist stark angewachsen. 200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben. Sie treffen allerdings auf anti-kaukasische Einstellungen (AA 21.5.2021).

Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments wieder in die Russische Föderation einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 21.5.2021).

Als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine setzte die EU Visaerleichterungen für russische Diplomaten sowie für andere russische Beamte und Geschäftsleute aus (Europäischer Rat 16.8.2022). Auch die USA verhängten Visabeschränkungen, diese gelten für ca. 900 russische Amtsträger, darunter Mitglieder des Föderationsrats und des russischen Militärs (USDOS 2.8.2022). Mehrere Länder (die baltischen Staaten, Tschechien, Niederlande) haben die Visavergabe an russische Staatsbürger eingeschränkt (DW 22.8.2022).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053304/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_21.05.2021.pdf , Zugriff 13.7.2022

 DW – Deutsche Welle (22.8.2022): Folgen des Ukraine-Kriegs: Keine EU-Visa mehr für russische Touristen?, https://www.dw.com/de/keine-eu-visa-mehr-f%C3%BCr-russische-touristen/a-62890546 , Zugriff 23.8.2022

 Europäischer Rat (16.8.2022): Russische Invasion in die Ukraine: Reaktion der EU, https://www.consilium.europa.eu/de/policies/eu-response-ukraine-invasion/ , Zugriff 23.8.2022

 FH – Freedom House (28.2.2022): Freedom in the World 2022 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2068627.html , Zugriff 3.8.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (4.4.2022): Auskunft der Botschaft, per E-Mail

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2021): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2021 (Stand 30.6.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.7.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (4.7.2020): Конституция Российской Федерации [Verfassung der Russischen Föderation], http://publication.pravo.gov.ru/File/GetFile/0001202007040001?type=pdf , Zugriff 13.7.2022

 USDOS – US Department of State [USA] (2.8.2022): Imposing Additional Costs on Russia for Its Continued War Against Ukraine, https://www.state.gov/imposing-additional-costs-on-russia-for-its-continued-war-against-ukraine/ , Zugriff 8.8.2022

 USDOS – US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices: Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2071123.html , Zugriff 20.7.2022

 Meldewesen

Letzte Änderung: 16.11.2021

Laut Gesetz müssen sich Bürger der Russischen Föderation an ihrem permanenten und temporären Wohnort registrieren (EASO 8.2018; vgl. AA 2.2.2021, US DOS 11.3.2020). Die Registrierung ist nichts anderes als eine Benachrichtigung für die Behörde, wo eine Person wohnt, und funktioniert relativ problemlos (DIS 1.2015; vgl. EASO 8.2018). Die Registrierung des Wohnsitzes erfolgt entweder in einer lokalen Niederlassung des Innenministeriums (MVD), über das Onlineportal für öffentliche Dienstleistungen Gosuslugi oder per E-Mail (nur für die temporäre Registrierung). Man kann neben einer permanenten Registrierung auch eine temporäre Registrierung haben, z.B. in einem Hotel, in einer medizinischen Einrichtung, in einem Gefängnis, in einer Wohnung, etc. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, den Hauptwohnsitz zu ändern. Hierzu muss man die permanente Registrierung innerhalb von sieben Tagen ändern. Um sich zu registrieren, braucht man einen Pass, einen Antrag auf Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man berechtigt ist, sich an einer bestimmten Adresse zu registrieren, wie z.B. einen Mietvertrag. Die permanente Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt. Die Beendigung einer permanenten Registrierung muss von der jeweiligen Person veranlasst werden. Dies muss aber nicht bei den Behörden an der alten Adresse geschehen, sondern kann von der neuen Adresse aus beantragt werden. Auch die Beendigung einer Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt (EASO 8.2018).

Wenn eine Person vorübergehend an einer anderen Adresse als dem Hauptwohnsitz (permanente Registrierung) wohnt, muss eine temporäre Registrierung vorgenommen werden, wenn der Aufenthalt länger als 90 Tage dauert. Die Registrierung einer temporären Adresse beeinflusst die permanente Registrierung nicht. Für die temporäre Registrierung braucht man einen Pass, einen Antrag auf temporäre Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man zur Registrierung berechtigt ist. Nach der Registrierung bekommt man ein Dokument, das die temporäre Registrierung bestätigt. Die temporäre Registrierung endet automatisch mit dem Datum, das man bei der Registrierung angegeben hat. Eine temporäre Registrierung in Hotels, auf Camping-Plätzen und in medizinischen Einrichtungen endet automatisch, wenn die Person die Einrichtung verlässt. Wenn eine Person früher als geplant den temporären Wohnsitz verlässt, sollten die Behörden darüber in Kenntnis gesetzt werden (EASO 8.2018).

Eine Registrierung ist für einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation unabdingbar. Diese ermöglicht außerdem den Zugang zu Sozialhilfe (Arbeitslosengeld, Pension, etc.) und staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (BAA 12.2011; vgl. ÖB Moskau 6.2021).

Es kann für alle Bürger der Russischen Föderation zu Problemen beim Registrierungsprozess kommen. Es ist möglich, dass Migranten aus dem Kaukasus zusätzlich kontrolliert werden (ADC Memorial, CrimeaSOS, Sova Center for Information and Analysis, FIDH 2017). In der Regel ist die Registrierung aber auch für Tschetschenen kein Problem, auch wenn es möglicherweise zu Diskriminierung oder korruptem Verhalten seitens der Beamten kommen kann. Im Endeffekt bekommen sie die Registrierung (DIS 1.2015; vgl. EASO 8.2018).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 6.4.2021

 ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH (International Federation for Human Rights) (2017): Racism, Discrimination and Fight Against Extremism in Contemporary Russia and its Controlled Territories. Alternative Report on the Implementation of the UN Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination by the Russian Federation, https://www.fidh.org/IMG/pdf/cerdengen.pdf , Zugriff 6.4.2021

 BAA Staatendokumentation [Österreich] (12.2011): Forschungsaufenthalt der Staatendokumentation. Bericht zum Forschungsaufenthalt Russische Föderation – Republik Tschetschenien

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 6.4.2021

 EASO – European Asylum Support Office [EU] (8.2018): Country of Origin Information Report Russian Federation. The situation for Chechens in Russia, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/Chechens_in_RF.pdf , Zugriff 6.4.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 1.10.2021

 US DOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html , Zugriff 6.4.2021

 Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation und Westeuropas

Letzte Änderung: 16.11.2021

Die Bevölkerung in Tschetschenien ist inzwischen laut offiziellen Zahlen auf 1,5 Millionen angewachsen. Gemäß Aussagen des Republiksoberhaupts Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in Russland, die andere Hälfte im Ausland. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 6.2021). Zwischen 2008 und 2015 haben laut offiziellen Zahlen 150.000 Tschetschenen die Republik verlassen. Sie zogen sowohl in andere Regionen in der Russischen Föderation als auch ins Ausland. Als Gründe für die Abwanderung werden ökonomische, menschenrechtliche und gesundheitliche Gründe genannt. In Tschetschenien arbeiten viele Personen im informellen Sektor und gehen daher zum Arbeiten in andere Regionen, um Geld nach Hause schicken zu können. Tschetschenen leben überall in der Russischen Föderation (EASO 8.2018). Laut der letzten Volkszählung von 2010 leben die meisten Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens, z.B. in Moskau (über 14.000 Personen), in Inguschetien (knapp 19.000 Personen), in der Region Rostow (über 11.000 Personen), in der Region Stawropol (knapp 12.000 Personen), in Dagestan (über 93.000 Personen), in der Region Wolgograd (knapp 10.000 Personen) und in der Region Astrachan (über 7.000 Personen) (EASO 8.2018; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Die Zahlen sind aber nicht sehr verlässlich, da bei der Volkszählung ein großer Teil der Bevölkerung die ethnische Zugehörigkeit nicht angab. Beispielsweise soll die tschetschenische Bevölkerung in der Region Wolgograd um das doppelte höher sein, als die offiziellen Zahlen belegen. Viele Tschetschenen leben dort seit 30 Jahren und sind in unterschiedlichsten Bereichen tätig. In St. Petersburg beispielsweise sollen laut Volkszählung knapp 1.500 Tschetschenen leben, aber allein während des zweiten Tschetschenienkrieges (1999-2009) kamen 10.000 Tschetschenen aufgrund des Mangels an Arbeitsplätzen in Tschetschenien in die Stadt, um in St. Petersburg zu leben und zu arbeiten. Die soziale Zusammensetzung der tschetschenischen Bevölkerung dort ist unterschiedlich, aber die meisten sprechen ihre Landessprache und halten die nationalen Traditionen hoch. Tschetschenen in St. Petersburg sehen sich selbst nicht unbedingt als eine engmaschige Diaspora. Sie werden eher durch kulturelle Aktivitäten, die beispielsweise durch die offizielle Vertretung der tschetschenischen Republik oder den sogenannten „Wajnach-Kongress“ (eine Organisation, die oft auch als 'tschetschenische Diaspora' bezeichnet wird) veranstaltet werden, zusammengebracht. Auch in Moskau ist die Anzahl der Tschetschenen um einiges höher, als die offiziellen Zahlen zeigen. Gründe hierfür sind, dass viele Tschetschenen nicht an Volkszählungen teilnehmen wollen, oder auch, dass viele Tschetschenen zwar in Moskau leben, aber in Tschetschenien ihren Hauptwohnsitz registriert haben [vgl. hierzu Kapitel Bewegungsfreiheit, bzw. Meldewesen] (EASO 8.2018). In vielen Regionen gibt es offizielle Vertretungen der tschetschenischen Republik, die kulturelle und sprachliche Programme organisieren und auch die Rechte von einzelnen Personen schützen (Telegraph 24.2.2016; vgl. EASO 8.2018). Diese kleinen Büros versuchen auch, den Handel zwischen den Regionen zu fördern. In ganz Russland gibt es ein Netz von 50 dieser offiziellen Vertretungen der tschetschenischen Republik. Obwohl es den Büros prinzipiell möglich wäre, Informationen zu einer bestimmten Person nach Grosny weiterzuleiten, können diese Vertretungen nicht als Knotenpunkt für das Sammeln von Informationen angesehen werden. Sie tätigen auch sonst keine weiteren, direkteren Aktionen. Obwohl die tschetschenischen Gemeinden in Russland Kadyrow teilweise behilflich bei der Ausübung von Druck auf hochrangige/bekannte Kritiker sind, scheint es keine Beweise zu geben, dass sie Informationen weitergeben (Galeotti 2019).

Laut einer Analyse der Jamestown Foundation soll die tschetschenische Diaspora in Europa rund 150.000 Personen umfassen, die tschetschenische Diaspora in Österreich zählt rund 35.000 Personen. Das tschetschenische Republiksoberhaupt hat verlautbart, die Bande zu den tschetschenischen Gemeinschaften außerhalb der Teilrepublik aufrechterhalten zu wollen, wobei unabhängigen Medien zufolge auch Familienmitglieder in Tschetschenien für als ungebührlich empfundenes Verhalten Angehöriger im Ausland gemaßregelt bzw. unter Druck gesetzt werden. Abgesehen davon sind auch vereinzelte Fälle gezielter Tötungen politischer Gegner im Ausland bekannt geworden. Insgesamt schwanken die mitunter ambivalenten Aussagen von Kadyrow zur Migration nach Westeuropa zwischen Toleranz und Kritik. Aus menschenrechtlicher Perspektive herrscht die Einschätzung vor, dass tatsächlich Verfolgte sowohl im Inland als auch im Ausland in Einzelfällen einer konkreten Gefährdung ausgesetzt sein können (ÖB Moskau 6.2021). Viele Personen innerhalb der Elite, einschließlich der meisten Leiter des Sicherheitsapparates, misstrauen und verachten Kadyrow (Al Jazeera 28.11.2017). Trotz der Rhetorik des tschetschenischen Oberhauptes gelten dessen Möglichkeiten zur Machtentfaltung außerhalb der Grenzen der Teilrepublik als beschränkt, und zwar nicht nur formell im Lichte der geltenden russischen Rechtsordnung, sondern auch faktisch durch die offenkundige Konkurrenz zu den föderalen Sicherheitskräften. Allein daraus ist zu folgern, dass die umfangreiche tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands nicht unter der unmittelbaren Kontrolle von Kadyrow steht. Wie konkrete Einzelfälle aus der Vergangenheit zeigen, können kriminelle Akte gegen Regimegegner im In- und Ausland allerdings nicht ausgeschlossen werden. Prominente Beispiele sind die Brüder Yamadayev, von denen einer in Moskau (2008) und ein anderer in Dubai (2009) getötet wurde, während ein dritter sich mit Kadyrow ausgesöhnt haben soll, oder Umar Israilow, welcher 2009 in Wien ermordet wurde. Rezente Beispiele aus dem Jahr 2020 sind der Mord an Mamikhan Umarov alias Martin Beck (Anzor aus Wien), der Mord an Zelimkhan Khangoshvili in Berlin, der Mord an Imran Aliyev in Lille/Frankreich und der Angriff auf Tumso Abdurakhmanov in Gävle/Schweden (ÖB Moskau 6.2021) [vgl. dazu Kapitel Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges, Kritiker allgemein].

Grundsätzlich können Tschetschenen an einen anderen Ort in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens flüchten und dort leben. Dies gilt für alle Einwohner des Nordkaukasus. Wird jemand allerdings offiziell von der Polizei gesucht, so ist es für die Behörden möglich, diesen aufzufinden und zurück in den Nordkaukasus zu bringen. Dies gilt nach Einschätzung von Experten aber auch für Flüchtlinge in Europa, der Türkei und so weiter, falls das Interesse an der Person groß genug ist (ÖB Moskau 6.2021). Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Sofern keine Strafanzeige vorliegt, kann versucht werden, Untergetauchte durch eine Vermisstenanzeige ausfindig zu machen (AA 2.2.2021). Es kann sein, dass die tschetschenischen Behörden nicht auf diese offiziellen Wege zurückgreifen, da diese häufig lang dauern und so ein Fall auch schlüssig begründet sein muss (DIS 1.2015). Trotz der Rolle nationaler Datenbanken und Registrierungsgesetze, die eine Rückverfolgung von Personen ermöglichen, besteht für betroffene Personen ein gewisser Spielraum, Anonymität und Sicherheit in Russland zu finden, allerdings abhängig von den spezifischen Umständen. Die russischen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sind im Allgemeinen oft nicht bereit, als tschetschenische Vollstrecker aufzutreten, da sie oft skeptisch gegenüber Forderungen aus Grosny sind. Die föderalen Sicherheitsbehörden machen einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt wurden, und von jenen, welchen nur vorgeworfen wird, Verbrechen begangen zu haben. Insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Tschetschene, der von Tschetschenien aus verfolgt wird, anderswo in Russland aktiv misshandelt wird, wenn nicht bereits ein Gerichtsurteil ergangen ist oder andere Behörden - im Wesentlichen der Inlandsgeheimdienst FSB, Generalstaatsanwaltschaft, Untersuchungskommission - davon überzeugt sind, dass ein substanzielles politisches Fehlverhalten oder ein Fall von organisierter Kriminalität vorliegt (Galeotti 2019). Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich aber häufig auch in russischen Großstädten vor Ramsan Kadyrow nicht sicher (AA 2.2.2021), da bewaffnete Kräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, auch in Moskau präsent sind (AA 2.2.2021; vgl. EASO 8.2018, New York Times 17.8.2017). Wie viele bewaffnete tschetschenische Kräfte es in Moskau gibt, ist schwer zu sagen. Jedenfalls ist immer wieder die Rede davon, dass Kadyrow tausend, wenn nicht sogar Tausende Loyalisten aufbringen kann, die fähig und bereit sind, gegen das Gesetz zu handeln. Dies scheint jedoch höchst fragwürdig. Es gibt auch weniger als hundert Beamte, die offiziell bei den tschetschenischen Sicherheitskräften akkreditiert sind und berechtigt sind, in Moskau zu operieren (Galeotti 2019).

Relative Anonymität und Sicherheit bieten russische Städte, die groß genug sind, um als Neuankömmling nicht aufzufallen, und die weniger stark polizeilich überwacht sind als beispielsweise Moskau und St. Petersburg. Moskau und St. Petersburg sind insofern 'gefährlicher', als sie tendenziell dichter kontrolliert werden, ihre Kommunikationsinfrastruktur moderner ist und die Behörden wachsamer sind. Viel schwieriger ist es, sich in Moskau versteckt zu halten, da hier zum Beispiel viele Dokumentenkontrollen durchgeführt werden, routinemäßig bei Benutzung der U-Bahn die Registrierungen von Mobiltelefonen überprüft und neue Gesichtserkennungssysteme erprobt werden, die mit Straßenkameras verbunden sind. In geringerem Maße gilt vieles davon auch für St. Petersburg (Galeotti 2019).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 6.4.2021

 Al Jazeera (28.11.2017): Is Chechnya's Kadyrov really 'dreaming' of quitting?, https://www.aljazeera.com/opinions/2017/11/28/is-chechnyas-kadyrov-really-dreaming-of-quitting , Zugriff 6.4.2021

 EASO – European Asylum Support Office [EU] (8.2018): Country of Origin Information Report Russian Federation. The situation for Chechens in Russia, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/Chechens_in_RF.pdf , Zugriff 6.4.2021

 Galeotti, Mark (2019): License to kill? The risk to Chechens inside Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2012286/Galeotti-Mayak-RUF-2019-06-License+to+Kill+-+Chechens+in+the+RF+2019.pdf , Zugriff 6.4.2021

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, https://www.ecoi.net/en/file/local/1215362/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 6.4.2021

 New York Times (17.8.2017): Is Chechnya Taking Over Russia?, https://www.nytimes.com/2017/08/17/opinion/chechnya-ramzan-kadyrov-russia.html?ref=opinion , Zugriff 6.4.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 1.10.2021

 Telegraph (24.2.2016): Ramzan Kadyrov: Putin's 'sniper' in Chechnya, http://s.telegraph.co.uk/graphics/projects/Putin-Ramzan-Kadyrov-Boris-Nemtsov-Chechnya-opposition-Kremlin/index.html, Zugriff 6.4.2021

 Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung: 13.09.2022

Wirtschaft:

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine führte zu verschärften Sanktionen des Westens gegen Russland. Der Zugang Russlands zu den Kapital- und Finanzmärkten in der EU wurde beschränkt. Für alle russischen Flugzeuge ist der Luftraum der EU geschlossen. Ebenso sind EU-Häfen für alle russischen Schiffe geschlossen. Transaktionen mit der russischen Zentralbank sind verboten. Mehrere russische Banken wurden aus dem SWIFT-System ausgeschlossen. Neue Investitionen in den russischen Energiesektor wurden verboten. Es gilt ein Einfuhrverbot für Eisen und Stahl aus Russland in die EU sowie ein Einfuhrverbot für Kohle, Holz, Zement, Gold, Rohöl und raffinierte Erdölerzeugnisse (Rat 16.8.2022). Sanktionen gegen Russland verhängten außerdem u. a. die USA, Kanada, Großbritannien, Japan (WZ 27.6.2022) und die Schweiz (SW 3.8.2022). Die wirtschaftliche Entwicklung ist durch die Sanktionen des Westens beeinträchtigt (WIIW o.D.). Die Sanktionen haben zu einem Braindrain und einer Kapitalflucht geführt (HF o.D.). Eine Einschätzung der wirtschaftlichen Situation in Russland ist derzeit schwierig (NDR/Tagesschau.de 2.8.2022).

Gemäß vorläufigen Daten des Föderalen Diensts für Staatliche Statistik (Rosstat) ist das Bruttoinlandsprodukt im 2. Quartal 2022 gegenüber dem Vorjahr um 4 % gesunken (Reuters 12.8.2022; vgl. FAZ 28.7.2022). Die Inflation betrug im August 2022 15 % (Interfax 10.8.2022). Der Rubel wurde durch Maßnahmen der Zentralbank (Erhöhung der Zinssätze usw.) stabilisiert (FT 19.8.2022; vgl. WIIW o.D.). Der Finanzsektor wird von staatlich kontrollierten Banken beherrscht (HF o.D.).

Korruption ist weit verbreitet (BS 2022; vgl. HF o.D.). Eine Herausforderung für den Staat stellt die Schattenwirtschaft dar (BS 2022). Nach staatlichen Angaben betrug die Arbeitslosenrate im Juni 2022 3,9 % (Rosstat o.D.; vgl. Tass 27.7.2022). Russland zählt zu den weltweit größten Weizenexporteuren (WZ 9.6.2022). Die Wirtschaft ist wenig diversifiziert (BS 2022) und stark von Öl- und Gasexporten abhängig (HF o.D.). Exporte von Öl und Gas machen traditionell mehr als zwei Drittel der russischen Ausfuhren aus (WKO 4.2022). Im Jahr 2022 ist der Ölpreis infolge der russischen Invasion in der Ukraine stark gestiegen (HB 7.7.2022). Es gelten Exportbeschränkungen für Holzwaren und Agrarprodukte (WKO 4.2022). Um die sinkenden Exporte in die Europäische Union auszugleichen, handelt Russland verstärkt mit China, Indien und der Türkei (FT 19.8.2022).

Die meisten Hilfsprogramme zur Bekämpfung der Folgen der COVID-Pandemie sind Ende 2020 ausgelaufen (WKO 25.7.2022). Laut einem Bericht der Menschenrechts-Ombudsperson haben 4,5 Millionen kleine und mittlere Unternehmen während der Pandemie aufgehört zu existieren (ÖB 30.6.2021).

Grundversorgung:

Die Anzahl derjenigen Russen, welche in Armut leben, stieg gemäß der russischen Regierung zwischen dem vierten Quartal 2021 und dem ersten Quartal 2022 um 8,5 Millionen (ERev 3.7.2022). Im Jahr 2021 betrug der Anteil der Russen unter der Armutsgrenze 11 % (Rosstat 27.4.2022). Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern (v. a. Großfamilien), Alleinerziehende, Pensionisten und Menschen mit Beeinträchtigungen. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren Moskau und St. Petersburg ist die Armutsquote halb so hoch wie im Landesdurchschnitt. Prinzipiell ist die Armutsgefährdung auf dem Land höher als in den Städten (Russland-Analysen 21.2.2020a).

Gemäß der Weltbank hatten im Jahr 2020 (aktuellste verfügbare Daten) 76 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu sicher verwalteten Trinkwasserdiensten (WB o.D.a). Im Jahr 2021 wurden mehr als 450 Trinkwasserversorgungseinrichtungen und Wasseraufbereitungsanlagen errichtet und modernisiert. Dadurch erhöhte sich der Anteil derjenigen Bürger, welche mit hochwertigem Trinkwasser versorgt werden, auf 86 % (NP o.D.). Gemäß der Weltbank hatten im Jahr 2020 (aktuellste verfügbare Daten) 89 % der Bevölkerung Russlands Zugang zu einer (zumindest) Basisversorgung im Bereich Hygiene (WB o.D.b). Ein Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für große Teile der Bevölkerung unbezahlbar (AA 21.5.2021). Mietkosten variieren je nach Region (IOM 7.2022).

Russische Staatsbürger haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 7.2022). Der Mindestlohn darf das Existenzminimum nicht unterschreiten (Ria.ru 27.6.2022). Das Existenzminimum wird per Verordnung bestimmt (AA 21.5.2021). Im Juni 2022 betrug das Existenzminimum für die erwerbsfähige Bevölkerung pro Kopf RUB 15.172 [ca. EUR 251], für Kinder RUB 13.501 [ca. EUR 223] und für Pensionisten RUB 11.970 [ca. EUR 198] (Rosstat 22.6.2022). Der Mindestlohn beträgt seit 1.6.2022 RUB 15.279 [ca. EUR 251] und kann in jeder Region durch regionale Abkommen individuell festgelegt werden. Jedoch darf die Höhe des regionalen Mindestlohns nicht niedriger als der national festgelegte Mindestlohn sein. In der Stadt Moskau beträgt der Mindestlohn RUB 23.508 [ca. EUR 386] (Ria.ru 27.6.2022). Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen (AA 21.5.2021). Trotz der wiederholten Anhebungen der durchschnittlichen Bruttolöhne sind die real zur Verfügung stehenden Einkommen seit mehreren Jahren rückläufig. Expertenschätzungen zufolge gibt es derzeit mindestens 25 Mio. illegal Beschäftigte. Die Verarmungsentwicklung wird vorwiegend durch niedrige Löhne verursacht, die insbesondere eine Folge der auf die Schonung der öffentlichen Haushalte zielenden Lohnpolitik sind (zwei Drittel aller Einkommen werden von staatlichen Unternehmen oder vom Staat bezahlt, der die Löhne niedrig hält). Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15 - 20 % für abhängig Beschäftigte ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen der Arbeitgeber aufgrund fehlender Fortbildungen als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote bei den über 50-Jährigen verstärkt (AA 21.5.2021).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053304/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_21.05.2021.pdf , Zugriff 13.7.2022

 BS – Bertelsmann Stiftung (2022): BTI (Bertelsmann Transformation Index) 2022 Country Report: Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069600/country_report_2022_RUS.pdf , Zugriff 25.7.2022

 ERev – Eurasia Review (3.7.2022): Putin’s War Economy Leading To Decline In Russians’ Standard Of Living – OpEd, https://www.eurasiareview.com/03072022-putins-war-economy-leading-to-decline-in-russians-standard-of-living-oped/ , Zugriff 30.8.2022

 FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (28.7.2022): Russlands Wirtschaft schrumpft stark, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/russlands-wirtschaft-schrumpft-im-zweiten-quartal-18204774.html , Zugriff 19.8.2022

 FT – Financial Times (19.8.2022): Russia’s economy is staggering, but still on its feet, https://www.ft.com/content/eebc166b-0ab3-4a69-b61c-62908ee984e5 , Zugriff 19.8.2022

 HB – Handelsblatt (7.7.2022): Ölpreis könnte bis Ende 2023 um 50 Prozent einbrechen, https://www.handelsblatt.com/finanzen/maerkte/devisen-rohstoffe/rezessionsaengste-oelpreis-koennte-bis-ende-2023-um-50-prozent-einbrechen/28482722.html , Zugriff 1.9.2022

 HF – Heritage Foundation, The (o.D.): 2022 Index of Economic Freedom: Russia, https://www.heritage.org/index/country/russia , Zugriff 26.8.2022

 Interfax (10.8.2022): Дефляция в РФ в июле усилилась до 0,39% [Deflation in Russischer Föderation im Juli zog auf Wert von 0,39 % an], https://www.interfax.ru/russia/856123 , Zugriff 19.8.2022

 IOM – Internationale Organisation für Migration (7.2022): Russische Föderation: Länderinformationsblatt 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2021_Russia_DE.pdf , Zugriff 23.8.2022

 NDR/Tagesschau.de – Norddeutscher Rundfunk/Tagesschau (2.8.2022): Westliche Sanktionen und ihre Wirkung: Was über Russlands Wirtschaft bekannt ist, https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/russlands-wirtschaft-daten-101.html , Zugriff 19.8.2022

 NP – Nationale Projekte [Russland] (o.D.): Проекты/Жилье и городская среда/Инициативы: Чистая вода [Projekte/Unterkünfte und Städte/Initiativen: sauberes Wasser], https://национальныепроекты.рф/projects/zhile-i-gorodskaya-sreda/chistaya_voda, Zugriff 26.8.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2021): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2021 (Stand 30.6.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.7.2022

 Rat – Europäischer Rat (16.8.2022): Russische Invasion in die Ukraine: Reaktion der EU, https://www.consilium.europa.eu/de/policies/eu-response-ukraine-invasion/ , Zugriff 23.8.2022

 Reuters (12.8.2022): Russian economy shrinks 4% in second quarter as sanctions weigh, https://www.reuters.com/world/europe/russian-economy-shrinks-4-yy-q2-sanctions-weigh-2022-08-12/ , Zugriff 19.8.2022

 Ria.ru – RIA Nowosti (27.6.2022): МРОТ в 2022 году: на сколько вырос, как рассчитывается и на что влияет [Mindestlohn im Jahr 2022: um wie viel er anstieg, wie er berechnet wird und was er beeinflusst], https://ria.ru/20220627/mrot-1798493712.html , Zugriff 30.8.2022

 Rosstat (Föderaler Dienst für Staatliche Statistik) [Russland] (22.6.2022): Величина прожиточного минимума в целом по России и по субъектам Российской Федерации [Höhe des Existenzminimums insgesamt in Russland und in den Subjekten der Russischen Föderation], https://rosstat.gov.ru/storage/mediabank/2-1_pr_min.doc , Zugriff 31.8.2022

 Rosstat (Föderaler Dienst für Staatliche Statistik) [Russland] (27.4.2022): Численность населения с денежными доходами ниже границы бедности в целом по России и по субъектам Российской Федерации [Anteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze insgesamt in Russland und in den Subjekten der Russischen Föderation], https://rosstat.gov.ru/storage/mediabank/2-4_n.doc , Zugriff 31.8.2022

 Rosstat (Föderaler Dienst für Staatliche Statistik) [Russland] (o.D.): Оперативные показатели [Operative Kennziffern], https://rosstat.gov.ru/ , Zugriff 1.9.2022

 Russland-Analysen (Nr. 382) / Martin Brand (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 1.9.2022

 SW – Staatssekretariat für Wirtschaft [Schweiz] (3.8.2022): Ukraine: Schweiz setzt neue Sanktionen um, https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/seco/nsb-news.msg-id-89874.html , Zugriff 8.8.2022

 Tass [Russland] (27.7.2022): Безработица в России в июне сохранилась на уровне 3,9% [Arbeitslosigkeit in Russland im Juni blieb auf Niveau von 3,9 %], https://tass.ru/ekonomika/15326613 , Zugriff 19.8.2022

 WB – World Bank (o.D.a): People using safely managed drinking water services (% of population) - Russian Federation, https://data.worldbank.org/indicator/SH.H2O.SMDW.ZS?locations=RU , Zugriff 30.8.2022

 WB – World Bank (o.D.b): People using at least basic sanitation services (% of population) - Russian Federation, https://data.worldbank.org/indicator/SH.STA.BASS.ZS?locations=RU , Zugriff 30.8.2022

 WIIW – Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (o.D.): Russia – Overview, https://wiiw.ac.at/russia-overview-ce-10.html , Zugriff 19.8.2022

 WKO – Wirtschaftskammer Österreich (25.7.2022): Coronavirus: Situation in Russland, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-info-russland.html , Zugriff 25.7.2022

 WKO – Wirtschaftskammer Österreich (4.2022): Wirtschaftsbericht Russische Föderation, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/russische-foederation-wirtschaftsbericht.pdf , Zugriff 25.7.2022

 WZ – Wiener Zeitung (27.6.2022): Sanktionen: G7 verschärfen Kurs gegen Russland erheblich, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/2152420-G7-verschaerfen-Kurs-gegen-Russland-erheblich.html , Zugriff 8.8.2022

 WZ – Wiener Zeitung (9.6.2022): Ukraine war 2021 weltweit fünftgrößter Weizenexporteur, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wirtschaft/international/2150303-Ukraine-war-2021-weltweit-fuenftgroesster-Weizenexporteur.html , Zugriff 30.8.2022

 Nordkaukasus

Letzte Änderung: 13.09.2022

Die sozialwirtschaftlichen Unterschiede zwischen russischen Regionen sind beträchtlich. Die ländliche Peripherie, darunter der Nordkaukasus, ist von Entwicklungsproblemen betroffen (BS 2022). Im Vergleich zu den meisten anderen Regionen Russlands weist der Nordkaukasus eine hohe Armutsrate (BP 3.9.2021) und eine sehr hohe Arbeitslosigkeit auf (ÖB 30.6.2021). In Regionen des Nordkaukasus muss jeder Fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen (Russland-Analysen 21.2.2020a). Bei einer Sitzung der Regierungskommission zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Nordkaukasus im Juni 2021 wurde ausgeführt, dass in etwa die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung der Region im informellen Sektor beschäftigt ist (Government.ru 15.6.2021). Tschetschenien, Dagestan und andere nordkaukasische Gebiete gehören zu denjenigen Regionen Russlands, wo der Mittelschichtanteil unter der Bevölkerung am geringsten ist (Statista 7.2022). Im Jahr 2020 zählten Dagestan, Tschetschenien sowie andere nordkaukasische Regionen zu denjenigen russischen Regionen mit dem niedrigsten Bruttoregionalprodukt (Statista 3.2022).

Tschetschenien ist von großer Armut und Arbeitslosigkeit betroffen (BP 3.9.2021). Dennoch ist zu sagen, dass sich die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert haben (AA 21.5.2021). Tschetschenien ist von Moskau finanziell abhängig. Mehr als 80 % des Budgets stammen aus Zuwendungen (ORF 30.3.2022). Die Reallöhne der tschetschenischen Bevölkerung sind im Jahr 2021 um beinahe 5 % gesunken. Am besten bezahlt werden Beamte und Mitarbeiter im Finanzbereich (KR 29.8.2022). Im Juni 2022 betrug das Existenzminimum in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung pro Kopf RUB 14.565 [ca. EUR 241], für Kinder RUB 12.962 [ca. EUR 214] und für Pensionisten RUB 11.492 [ca. EUR 190] (Rosstat 22.6.2022). Im Jahr 2021 lebten 19,9 % der Bevölkerung in Tschetschenien unter der Armutsgrenze (Rosstat 27.4.2022).

Dagestan zählt zu den von Armut betroffenen Regionen in Russland (Standard 21.5.2022). Es herrscht Unsicherheit bei der Lebensmittelversorgung (FPRI 15.6.2022). Die Preise für Lebensmittel steigen (KR 29.8.2022). Im Juni 2022 betrug das Existenzminimum in Dagestan für die erwerbsfähige Bevölkerung pro Kopf RUB 13.806 [ca. EUR 228], für Kinder RUB 12.649 [ca. EUR 209] und für Pensionisten RUB 10.893 [ca. EUR 180] (Rosstat 22.6.2022). Im Jahr 2021 lebten 14,7 % der Bevölkerung in Dagestan unter der Armutsgrenze (Rosstat 27.4.2022). Dagestan wird in beträchtlichem Ausmaß subventioniert (FPRI 15.6.2022; vgl. MT 13.7.2022).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053304/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_21.05.2021.pdf , Zugriff 13.7.2022

 BP – Borgen Project, The (3.9.2021): The Nature of Poverty in the North Caucasus, https://borgenproject.org/poverty-in-the-north-caucasus/ , Zugriff 30.8.2022

 BS – Bertelsmann Stiftung (2022): BTI (Bertelsmann Transformation Index) 2022 Country Report: Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069600/country_report_2022_RUS.pdf , Zugriff 25.7.2022

 FPRI – Foreign Policy Research Institute (15.6.2022): The Shifting Political Hierarchy in the North Caucasus, https://www.fpri.org/article/2022/06/the-shifting-political-hierarchy-in-the-north-caucasus/ , Zugriff 10.8.2022

 Government.ru – Webseite der Regierung [Russland] (15.6.2021): Совещание с членами Правительственной комиссии по вопросам социально-экономического развития Северо-Кавказского федерального округа [Sitzung mit Mitgliedern der Regierungskommission in Fragen der sozial-ökonomischen Entwicklung des nordkaukasischen Föderalkreises], http://government.ru/news/42494/ , Zugriff 9.8.2022

 KR – Kavkaz.Realii (29.8.2022): Республики Северного Кавказа – худшие в рейтинге по рынку труда [Die Republiken des Nordkaukasus - die schlechtesten im Arbeitsmarkt-Rating], https://www.kavkazr.com/a/respubliki-severnogo-kavkaza-okazalisj-autsayderami-reytinga-po-rynku-truda/32008783.html , Zugriff 30.8.2022

 MT – Moscow Times (13.7.2022): В Чечне обнаружили бурный рост экономики на фоне войны [In Tschetschenien wurde ein rasantes Wirtschaftswachstum vor dem Hintergrund des Krieges festgestellt], https://www.moscowtimes.ru/2022/07/13/v-chechne-obnaruzhili-burnii-rost-ekonomiki-na-fone-voini-a22236 , Zugriff 31.8.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2021): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2021 (Stand 30.6.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.7.2022

 ORF – Österreichischer Rundfunk (30.3.2022): Ramsan Kadyrow: Putins Mann fürs Grobe mit tragender Rolle, https://orf.at/stories/3256468 , Zugriff 9.8.2022

 Rosstat (Föderaler Dienst für Staatliche Statistik) [Russland] (22.6.2022): Величина прожиточного минимума в целом по России и по субъектам Российской Федерации [Höhe des Existenzminimums insgesamt in Russland und in den Subjekten der Russischen Föderation], https://rosstat.gov.ru/storage/mediabank/2-1_pr_min.doc , Zugriff 31.8.2022

 Rosstat (Föderaler Dienst für Staatliche Statistik) [Russland] (27.4.2022): Численность населения с денежными доходами ниже границы бедности в целом по России и по субъектам Российской Федерации [Anteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze insgesamt in Russland und in den Subjekten der Russischen Föderation], https://rosstat.gov.ru/storage/mediabank/2-4_n.doc , Zugriff 31.8.2022

 Russland-Analysen (Nr. 382) / Martin Brand (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 1.9.2022

 Standard, Der (21.5.2022): Wer für Putin in den Krieg zieht: Russische Soldaten stammen oft aus ärmeren Landesteilen, https://www.derstandard.at/story/2000135922562/wer-fuer-putin-in-den-krieg-zieht-russische-soldaten-stammen , Zugriff 10.8.2022

 Statista (7.2022): Russian regions with the lowest share of the middle-class population from 2021 to 2022, https://www.statista.com/statistics/1039710/russia-regions-with-lowest-middle-class-share/ , Zugriff 31.8.2022

 Statista (3.2022): Federal subjects with the lowest gross regional product (GRP) per capita in Russia in 2020, https://www.statista.com/statistics/1039684/russia-regions-with-lowest-grp-per-capita/ , Zugriff 31.8.2022

 Sozialbeihilfen

Letzte Änderung: 16.11.2021

Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem. Dieses bietet bedürftigen Personen Hilfe an (IOM 2020). Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Pensionsfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Pensionsfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Alterspensionen gezahlt. Das Pensionsalter beträgt 60 Jahre bei Männern und 55 Jahre bei Frauen. Da dieses Modell aktuell die Pensionen nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Pensionsreform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert. Die Regierung hat am 14.6.2018 einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, womit das Pensionseintrittsalter für Frauen bis zum Jahr 2034 schrittweise auf 63 Jahre und für Männer auf 65 angehoben werden soll. Die Pläne der Regierung stießen auf Protest: Mehr als 2,5 Millionen Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen, in zahlreichen Städten fanden Demonstrationen gegen die geplante Pensionsreform statt. Präsident Putin reagierte auf die Proteste und gab eine Abschwächung der Reform bekannt. Das Pensionseintrittsalter für Frauen erhöht sich um fünf anstatt acht Jahre; Frauen mit drei oder mehr Kindern dürfen außerdem früher in Pension gehen (GIZ 1.2021c).

Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 1.2021c).

Vor allem auch zur Förderung einer stabileren demografischen Entwicklung gibt es ein umfangreiches Programm zur Unterstützung von Familien, vor allem mit Kindern unter drei Jahren: z.B. eine Aufstockung des Existenzminimums ab 2020 bis auf das Zweifache, das sogenannte Mutterschaftskapital in Form einer bargeldlosen, zweckgebundenen Leistung sowie besondere Leistungen zur Corona-Krise wie etwa eine einmalige Auszahlung an Kinder im Alter von drei bis 16 Jahre in Höhe von 10.000 Rubel [ca. 111 €], monatliche Auszahlungen an Kinder bis drei Jahre in Höhe von 5.000 Rubel [ca. 55 €] (dreimal für April, Mai und Juni ausgezahlt), monatliche Auszahlungen in Höhe von 3.000 Rubel [ca. 33 €] an Kinder bis 18 Jahre, deren Eltern offiziell als arbeitslos gemeldet sind (AA 2.2.2021).

Personen im Pensionsalter mit mindestens fünfjährigen Versicherungszahlungen haben das Recht auf eine Alterspension. Rückkehrende müssen für mindestens 10 Jahre Pensionsversicherungsbeiträge eingezahlt haben. Begünstigte müssen sich bei der lokalen Pensionskasse melden und erhalten dort, nach einer ersten Beratung, weitere Informationen zu den Verfahrensschritten. Informationen zu den erforderlichen Dokumenten erhält man ebenfalls bei der ersten Beratung. Eine finanzielle Beteiligung ist nicht notwendig. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab (IOM 2020). Seit dem Jahr 2010 werden Pensionen, die geringer als das Existenzminimum für Pensionisten sind, aufgestockt – insofern sind sie vor existenzieller Armut geschützt (Russland Analysen 21.2.2020a). Die Pensionen der nicht arbeitenden Pensionisten werden seit 2019 vor der jährlichen Indexierung auf die Höhe des Existenzminimums angehoben. Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension in Russland bei 14.904 Rubel [ca. 165 €] (AA 2.2.2021).

Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie ältere Menschen (IOM 2020). Das von EASO betriebene europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, welchen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden:

 Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern);

 Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten [Wasser, Gas, Elektrizität, etc.]);

 Familien mit geringem Einkommen;

 Studierende, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien (BDA 31.3.2015). 2018 profitierten von diesen Leistungen für bestimmte Kategorien von Bürgern auf föderaler Ebene 15,2 Millionen Menschen. In den Regionen könnte die Zahl noch höher liegen, da die Föderationssubjekte für den größten Teil der monatlichen Geldleistungen aufkommen (Russland Analysen 21.2.2020a).

Familienbeihilfe

Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei 3.142 Rubel (ca. 43 €). Beim zweiten Kind sowie bei weiteren Kindern liegt der Betrag bei 6.284 Rubel (ca. 86 €). Der maximale Betrag liegt bei 26.152 Rubel (ca. 358 €) (IOM 2020). Seit 2018 gibt es für einkommensschwache Familien für Kleinkinder (bis 1,5 Jahre) monetäre Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums (Russland Analysen 21.2.2020a).

Mutterschaft

Mutterschaftsurlaub kann für bis zu 140 Tage bei vollem Gehaltsbezug beantragt werden (70 Tage vor der Geburt, 70 Tage danach). Im Falle von Mehrlingsgeburten kann der Urlaub auf 194 Tage erhöht werden. Das Minimum der Mutterschaftshilfe liegt bei 100% des gesetzlichen Mindestlohns - bis zu einem Maximum im Vergleich zu einem 40-Stunden-Vollzeitjob. Der Mindestbetrag der Mutterschutzhilfe liegt bei 9.489 Rubel (ca. 130 €) und der Maximalbetrag bei 61.327 Rubel (ca. 840 €) (IOM 2020). Weiters gibt es landesweite Pauschalzahlungen für die Geburt und die medizinische Registrierung vor der 12. Schwangerschaftswoche und seit 2020 Lohnersatzzahlungen von 40% in den ersten drei Jahren der Elternzeit. Mütter haben auch Anspruch auf zwei zusätzliche bezahlte Urlaubstage bis zum 14. Lebensjahr des Kindes. Bezüglich Betreuungseinrichtungen von Kindern ist zu sagen, dass die Gebühren dafür niedrig sind und hohe Vergünstigungen bei zunehmender Kinderanzahl bieten. Obwohl das Angebot von Betreuungseinrichtungen regional variiert, gibt es im Allgemeinen ein breites Versorgungsnetz (Russland Analysen 21.2.2020b).

Mutterschaftskapital

Zu den wichtigen sozialen Unterstützungsleistungen zählt das Mutterschaftskapital (ÖB Moskau 6.2021). Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich (RBTH 22.4.2017). Es wurde eingeführt, um Eltern finanziell zu unterstützen und dadurch die Geburtenrate in Russland zu erhöhen. Die Einmalzahlung wird Familien (grundsätzlich der Mutter) für jedes (seit 2020 auch das erste) zur Welt gebrachte oder adoptierte Kind gewährt (2021: 483.881,83 Rubel (über 5.000 Euro) für das erste Kind, 639.431,83 Rubel (ca. 7.000 Euro) für das zweite und jedes weitere Kind) (ÖB Moskau 6.2021). Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt, und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil dies zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70% der Wohnkosten decken. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen (RBTH 22.4.2017; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Die Höhe des Mutterschaftskapitals entspricht etwa einem durchschnittlichen Jahresgehalt, und bisher profitierten über fünf Millionen Familien davon. Das Mutterschaftskapital soll laut Putin bis Ende 2026 fortgeführt werden (Russland Analysen 21.2.2020a). Das Mutterschaftskapital muss nicht versteuert werden und ist status- und einkommensunabhängig (Russland Analysen 21.2.2020b).

Behinderung

Arbeitnehmer mit einem Invalidenstatus haben das Recht auf eine Invaliditätspension. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Die Invaliditätspension wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Pensionsalters (IOM 2020). Zum 1. Jänner 2020 lag die Durchschnittspension beeinträchtigter Menschen bei 9.823 Rubel [ca. 109 €]. Menschen mit Beeinträchtigungen können eine Pension in Höhe von bis zu 14.093 Rubel [ca. 156 €] monatlich erhalten (AA 2.2.2021). Die Höhe der monatlichen Invaliditätspension ist abhängig vom Invaliditätsgrad. Es gibt staatliche Einrichtungen für ältere und behinderte Menschen (Erwachsene und Kinder), innerhalb derer sie leben können und kostenlose medizinische Behandlung erhalten. Die staatlichen Sozialzentren und Unterkünfte des Ministeriums für Arbeit und Sozialen Schutz gibt es für Erwachsene und für Kinder (ÖB Moskau 6.2021).

Arbeitslosenunterstützung

Personen können sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin bietet die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz an. Sollte dies nicht möglich sein, wird der Person ein Arbeitlosenstatus zuerkannt. Mit diesem erhält die Person monatlich eine Unterstützung. Arbeitsämter gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert (IOM 2020). Die Mindestarbeitslosenunterstützung pro Monat beträgt 1.500 Rubel (ca. 21 €) und die Maximalunterstützung 11.280 Rubel (ca. 141 €) (IOM 2020; vgl. ÖB Moskau 6.2020). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Außerdem darf die Person nicht in eine andere Region ziehen. Sollte die Person Fortbildungen zur Selbstständigkeit besuchen oder eine Rente beziehen, ist die Person von diesen Vorteilen ausgeschlossen. Arbeitssuchende, die sich bei der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung registriert haben, haben das Recht, an kostenlosen Fortbildungen teilzunehmen und so ihre Qualifikationen zu verbessern. Ebenfalls bieten private Schulen, Trainingszentren und Institute Schulungen an. Diese sind jedoch nicht kostenlos (IOM 2020).

Wohnmöglichkeiten und Sozialwohnungen

Ein weiteres Problem stellt die Versorgung mit angemessenem Wohnraum dar. Eigentums- oder angemessene Mietwohnungen sind für große Teile der Bevölkerung unbezahlbar (AA 2.2.2021). Personen ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbaren Unterkunft und sehr geringem Einkommen können kostenfreie Wohnungen beantragen. Dennoch ist dabei mit Wartezeiten von einigen Jahren zu rechnen. Informationen über die jeweiligen Kategorien zur Qualifizierung für eine kostenlose Unterkunft sowie die dazu notwendigen Dokumente erhält man bei den kommunalen Stadtverwaltungen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an. Junge Familien mit vielen Kindern können staatliche Zuschüsse (Mutterschaftszulagen) für wohnungswirtschaftliche Zwecke beantragen. Die Wohnungskosten sind regionenabhängig. Die durchschnittlichen monatlichen Nebenkosten liegen derzeit bei ca 3.200 Rubel (ca. 44 €) (IOM 2020).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021

 BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 18.2.2021

 IOM – International Organisation for Migration (2020): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/-/Russische_F%C3%B6deration_%2D_Country_Fact_Sheets_2020%2C_Deutsch.pdf?nodeid=22619450&vernum=-2 , Zugriff 14.10.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 14.10.2021

 RBTH – Russia beyond the Headlines (22.4.2017): Gratis-Studium und Steuerbefreiung: Russlands Wege aus der Geburtenkrise, https://de.rbth.com/gesellschaft/2017/04/22/gratis-studium-und-steuerbefreiung-russlands-wege-aus-der-geburtenkrise_747881 , Zugriff 18.3.2020

 Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 4.2.2020

 Russland Analysen/ Hornke, Theresa (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf , Zugriff 4.2.2020

 Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 16.11.2021

Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger der Russischen Föderation ist in der Verfassung verankert (GIZ 1.2021c; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Voraussetzung ist lediglich eine Registrierung des Wohnsitzes im Land [bitte vergleichen Sie hierzu die Kapitel zu Bewegungsfreiheit, insbesondere Meldewesen]. Am Meldeamt nur temporär registrierte Personen haben Zugang zu medizinischer Notversorgung, während eine permanente Registrierung stationäre medizinische Versorgung ermöglicht. Laut Gesetz hat jeder Mensch Anrecht auf kostenlose medizinische Hilfestellung in dem gemäß dem 'Programm der Staatsgarantien für kostenlose medizinische Hilfestellung' garantierten Umfang (ÖB Moskau 6.2021). Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der 'Nationalen Projekte', die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert sowie Präventions- und Unterstützungsprogramme für Mütter und Kinder entwickelt. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen (GIZ 1.2021c).

Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Staatsbürger haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung (IOM 2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021). Alle russischen Staatsbürger, egal ob sie einer Arbeit nachgehen oder nicht, sind von der Pflichtversicherung erfasst (ÖB Moskau 6.2021). Dies gilt somit auch für Rückkehrer, daher kann jeder russische Staatsbürger bei Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde (für Kinder bis 14) eine OMS-Karte erhalten. Diese muss bei der nächstliegenden Krankenversicherung eingereicht werden (IOM 2020). An staatlichen wie auch an privaten Kliniken sind medizinische Dienstleistungen verfügbar, für die man direkt bezahlen kann (im Rahmen der freiwilligen Krankenversicherung – Voluntary Medical Insurance DMS) (IOM 2020). Durch die Zusatzversicherung sind einige gebührenpflichtige Leistungen in einigen staatlichen Krankenhäusern abgedeckt. Für Leistungen privater Krankenhäuser müssen die Kosten selbst getragen werden (ÖB Moskau 6.2021).

Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, Vorsorge, Diagnose undambulante sowie stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Behandlungen innerhalb der OMS sind kostenlos. Für die zahlungspflichtigen Dienstleistungen gibt es Preislisten auf den jeweiligen Webseiten der öffentlichen und privaten Kliniken (IOM 2020; vgl. ÖB Moskau 6.2021), die zum Teil auch mit OMS abrechnen (GTAI 27.11.2018). Immer mehr russische Staatsbürger wenden sich an Privatkliniken (GTAI 27.11.2018; vgl. Ostexperte 22.9.2017). Das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem bleibt ineffektiv. Trotz der schrittweisen Anhebung der Honorare sind die Einkommen der Ärzte und des medizinischen Personals noch immer niedrig (GIZ 1.2021c). Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist (GIZ 1.2021c; vgl. AA 2.2.2021). Kostenpflichtig sind einerseits Sonderleistungen (Einzelzimmer u.Ä.), andererseits jene medizinischen Leistungen, die auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden (z.B. zusätzliche Untersuchungen, die laut behandelndem Arzt nicht indiziert sind) (ÖB Moskau 6.2021).

Personen haben das Recht auf freie Wahl der medizinischen Einrichtung und des Arztes, allerdings mit Einschränkungen. Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken geleistet wird, haben Personen das Recht, die medizinische Einrichtung nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. Dies bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen als dem 'zuständigen' Krankenhaus, bzw. bei einem anderen als dem 'zuständigen' Arzt, kostenpflichtig ist. In der ausgewählten Einrichtung können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Einrichtung durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbstständig, falls mehrere medizinische Einrichtungen zur Auswahl stehen. Abgesehen von den oben stehenden Ausnahmen sind Selbstbehalte nicht vorgesehen (ÖB Moskau 6.2021).

Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise erwartet wird (ÖB Moskau 6.2021). Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes (DIS 1.2015). Auch Leistungen, die vom Staat für eine bestimmte Personengruppe, wie z.B. Personen mit Beeinträchtigungen, bestimmt wurden, sind gedeckt. Eine kostenfreie 24-Stunden-Versorgung steht allen Patienten im OMS-System zu (IOM 2020). Weiters wird berichtet, dass die Qualität der medizinischen Versorgung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ausstattung von Krankenhäusern und der Qualifizierung der Ärzte landesweit variieren kann. Der Staat hat viele Finanzierungspflichten auf die Regionen abgewälzt, die in manchen Fällen nicht ausreichend Budget haben, weshalb die Zustände in manchen Krankenhäusern schlecht sind, medizinische Ausrüstungen veraltet und die Ärzte überlastet und unterbezahlt. Probleme gibt es deshalb mitunter bei der Diagnose und Behandlung von Patienten mit besonders seltenen Krankheiten in der Russischen Föderation, da meist die finanziellen Mittel für die teuren Medikamente und Behandlungen in den Regionen nicht ausreichen (ÖB Moskau 6.2021). Das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen sind meistens nur in den Großstädten vorhanden. Die Wege zu einer medizinischen Einrichtung auf dem Land können mehrere Hundert Kilometer betragen. Hauptprobleme stellen jedoch die strukturelle Unterfinanzierung des Gesundheitssystems und die damit verbundenen schlechten Arbeitsbedingungen dar. Sie führen zu einem großen Mangel an Ärzten und Pflegekräften. Die vom Staat vorgegebenen Wartezeiten auf eine Behandlung werden um das Mehrfache überschritten und können sogar mehrere Monate betragen. In vielen Regionen wie bspw. Tschetschenien wurden moderne Krankenhäuser und Behandlungszentren aufgebaut. Ihr Betrieb ist jedoch aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal oft erschwert (AA 2.2.2021).

Durch jüngste Reformen und Gesetze erfolgte eine Minderung der Dominanz staatlicher Anbieter sozialer Dienstleistungen. Die Anzahl nicht-staatlicher Träger, wie z.B. NGOs, nimmt tendenziell zu, wobei in den einzelnen Regionen unterschiedliche Entwicklungen zu verzeichnen sind. So werden in einigen Regionen Sozialleistungen fast ausschließlich von staatlichen Trägern übernommen, in anderen agieren vermehrt auch nicht-staatliche Einrichtungen in diesem Bereich (ÖB Moskau 6.2021).

Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land ist es für alle Bürger der Russischen Föderation möglich, bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) (vgl. dazu die Kapitel Bewegungsfreiheit und Meldewesen) (DIS 1.2015).

Staatenlose, die dauerhaft in Russland leben, sind bezüglich ihres Rechts auf medizinische Hilfe russischen Staatsbürgern gleichgestellt. Bei Anmeldung in der Klinik muss die Krankenversicherungskarte (oder die Polizze) vorgelegt werden, womit der Zugang zur medizinischen Versorgung im Gebiet der Russischen Föderation gewährleistet ist (ÖB Moskau 6.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 17.2.2021

 GTAI – German Trade and Invest (27.11.2018): Russlands Privatkliniken glänzen mit hohem Wachstum, https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/suche ,t=russlands-privatkliniken-glaenzen-mit-hohem-wachstum,did=2183416.html, Zugriff 17.2.2021

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 17.2.2021

 IOM – International Organisation of Migration (2020): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/OTCS/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/-/Russische_F%C3%B6deration_%2D_Country_Fact_Sheets_2020%2C_Deutsch.pdf?nodeid=22619450&vernum=-2 , Zugriff 14.10.2021

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 14.10.2021

 Ostexperte.de (22.9.2017): Privatkliniken in Russland immer beliebter, https://ostexperte.de/russland-privatkliniken/ , Zugriff 17.2.2021

 Tschetschenien

Letzte Änderung: 10.06.2021

Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung, inklusive Notfall- und spezialisierter Gesundheitsversorgung, zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird die multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele vor nicht allzu langer Zeit erbaut wurden (DIS 1.2015).

Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes. Auch gibt es bestimmte Personengruppen, die bestimmte Medikamente kostenfrei erhalten. Dazu gehören Kinder unter drei Jahren, Kriegsveteranen, Schwangere und Onkologie- und HIV-Patienten. Verschriebene Medikamente werden in staatlich lizensierten Apotheken kostenfrei gegen Vorlage des Rezeptes abgegeben (DIS 1.2015). Weitere Krankheiten, für die Medikamente kostenlos abgegeben werden (innerhalb der obligatorischen Krankenversicherung), sind:

 infektiöse und parasitäre Krankheiten

 Tumore

 endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten

 Krankheiten des Nervensystems

 Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems

 Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde

 Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes

 Krankheiten des Kreislaufsystems

 Krankheiten des Atmungssystems

 Krankheiten des Verdauungssystems

 Krankheiten des Urogenitalsystems

 Schwangerschaft, Geburt, Abort und Wochenbett

 Krankheiten der Haut und der Unterhaut

 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes

 Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen

 Geburtsfehler und Chromosomenfehler

 bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben

 Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die nicht in der Kategorie der Internationalen Klassifikation von Krankheiten gelistet sind (BDA CFS 31.3.2015).

Die obligatorische Krankenversicherung deckt unter anderem auch klinische Untersuchungen von bestimmten Personengruppen, wie Minderjährigen, Studierenden, Arbeitern usw., und medizinische Rehabilitation in Gesundheitseinrichtungen. Weiters werden zusätzliche Gebühren von Allgemeinmedizinern und Kinderärzten, Familienärzten, Krankenpflegern und Notfallmedizinern finanziert. Peritoneal- und Hämodialyse werden auch unterstützt (nach vorgegebenen Raten), einschließlich der Beschaffung von Materialien und Medikamenten. Die obligatorische Krankenversicherung in Tschetschenien ist von der föderalen obligatorischen Krankenversicherung subventioniert (BDA CFS 31.3.2015). Trotzdem muss angemerkt werden, dass auch hier aufgrund der niedrigen Löhne der Ärzte das System der Zuzahlung durch die Patienten existiert (BDA CFS 31.3.2015; vgl. GIZ 1.2021c, AA 2.2.2021). Es gibt dennoch medizinische Einrichtungen, wo die Versorgung kostenfrei bereitgestellt wird, beispielsweise im Distrikt von Gudermes [von hier stammt Ramsan Kadyrow]. In kleinen Dörfern sind die ärztlichen Leistungen günstiger (BDA CFS 31.3.2015).

In Tschetschenien gibt es nur einige private Gesundheitseinrichtungen, die normalerweise mit Fachärzten arbeiten, welche aus den Nachbarregionen eingeladen werden. Die Preise sind hier um einiges höher als in öffentlichen Institutionen, und zwar aufgrund von komfortableren Aufenthalten, besser qualifizierten Spezialisten und modernerer medizinischer Ausstattung (BDA CFS 31.3.2015).

Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA CFS 31.3.2015).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 24.2.2021

 BDA – Belgium Desk on Accessibility [EU] (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 18.3.2020

 GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH [Deutschland] (1.2021c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 17.2.2021

 Gesundheitseinrichtungen in Tschetschenien

Letzte Änderung: 10.06.2021

Gesundheitseinrichtungen, die die ländlichen Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:

'Achkhoy-Martan RCH' (regional central hospital), 'Vedenskaya RCH', 'Grozny RCH', 'Staro-Yurt RH' (regional hospital), 'Gudermessky RCH', 'Itum-Kalynskaya RCH', 'Kurchaloevskaja RCH', 'Nadterechnaye RCH', 'Znamenskaya RH', 'Goragorsky RH', 'Naurskaya RCH', 'Nozhai-Yurt RCH', 'Sunzhensk RCH', Urus-Martan RCH', 'Sharoy RH', 'Shatoïski RCH', 'Shali RCH', 'Chiri-Yurt RCH', 'Shelkovskaya RCH', 'Argun municipal hospital N° 1' und 'Gvardeyskaya RH' (BDA CFS 31.3.2015).

Gesundheitseinrichtungen, die alle Gebiete Tschetscheniens abdecken, sind:

'The Republican hospital of emergency care' (former Regional Central Clinic No. 9), 'Republican Centre of prevention and fight against AIDS', 'The National Centre of the Mother and Infant Aymani Kadyrova', 'Republican Oncological Dispensary', 'Republican Centre of blood transfusion', 'National Centre for medical and psychological rehabilitation of children', 'The Republican Hospital', 'Republican Psychiatric Hospital', 'National Drug Dispensary', 'The Republican Hospital of War Veterans', 'Republican TB Dispensary', 'Clinic of pedodontics', 'National Centre for Preventive Medicine', 'Republican Centre for Infectious Diseases', 'Republican Endocrinology Dispensary', 'National Centre of purulent-septic surgery', 'The Republican dental clinic', 'Republican Dispensary of skin and venereal diseases', 'Republican Association for medical diagnostics and rehabilitation', 'Psychiatric Hospital ‘Samashki’, 'Psychiatric Hospital ‘Darbanhi’', 'Regional Paediatric Clinic', 'National Centre for Emergency Medicine', 'The Republican Scientific Medical Centre', 'Republican Office for forensic examination', 'National Rehabilitation Centre', 'Medical Centre of Research and Information', 'National Centre for Family Planning', 'Medical Commission for driving licenses' und 'National Paediatric Sanatorium ‘Chishki’' (BDA CFS 31.3.2015).

Städtische Gesundheitseinrichtungen in Grosny sind:

'Clinical Hospital N° 1 Grozny', 'Clinical Hospital for children N° 2 Grozny', 'Clinical Hospital N° 3 Grozny', 'Clinical Hospital N° 4 Grozny', 'Hospital N° 5 Grozny', 'Hospital N° 6 Grozny', 'Hospital N° 7 Grozny', 'Clinical Hospital N° 10 in Grozny', 'Maternity N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 1 in Grozny', 'Polyclinic N° 2 in Grozny', 'Polyclinic N° 3 in Grozny', 'Polyclinic N° 4 in Grozny', 'Polyclinic N° 5 in Grozny', 'Polyclinic N° 6 in Grozny', 'Polyclinic N° 7 in Grozny', 'Polyclinic N° 8 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 1', 'Paediatric polyclinic N° 3 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 4 in Grozny', 'Paediatric polyclinic N° 5', 'Dental complex in Grozny', 'Dental Clinic N° 1 in Grozny', 'Paediatric Psycho-Neurological Centre', 'Dental Clinic N° 2 in Grozny' und 'Paediatric Dental Clinic of Grozny' (BDA CFS 31.3.2015).

Quellen:

 BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

 Dagestan

Letzte Änderung: 10.06.2021

Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Dagestan eine eigene Gesundheitsverwaltung, welche die regionalen Gesundheitseinrichtungen (spezialisierte und zentrale Krankenhäuser, Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfallambulanzen, etc.) umfasst. Auch in Dagestan gibt es sowohl öffentliche als auch private Gesundheitseinrichtungen. Öffentliche Einrichtungen haben keine offiziellen Preislisten ihrer Behandlungen, da prinzipiell Untersuchungen, Behandlungen und Konsultationen kostenfrei sind. Jedoch muss auf die informelle Zuzahlung hingewiesen werden (beispielsweise, um die Wartezeit zu verkürzen). Die Zahlungen sind jedoch geringer als in privaten Institutionen. Die Qualität der Behandlung ist in öffentlichen Einrichtungen nicht schlechter – viele Fachärzte arbeiten sowohl in öffentlichen als auch privaten Einrichtungen. Die Ausstattung und die Geräte sind meist in privaten Einrichtungen besser (BDA CFS 25.3.2016).

Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA CFS 31.3.2015).

Quellen:

 BDA – Belgium Desk on Accessibility [EU] (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

 BDA – Belgium Desk on Accessibility [EU] (25.3.2016): Accessibility of healthcare: Dagestan, Country Fact Sheet via MedCOI

 Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Krankheiten, z.B. Posttraumatisches Belastungssyndrom PTBS/PTSD, Depressionen, etc.

Letzte Änderung: 10.06.2021

Psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Störungen und Krankheiten sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar. Es gibt auch psychiatrische Krisenintervention bei Selbstmordgefährdeten (BMA 12248).

Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind in der gesamten Russischen Föderation behandelbar (BMA 12248). Dies gilt auch für Tschetschenien (BMA 14483). Während es in Moskau unterschiedliche Arten von Therapien gibt (Kognitive Verhaltenstherapie, Desensibilisierung und Aufarbeitung durch Augenbewegungen [EMDR] und Narrative Expositionstherapie), um PTBS zu behandeln (BMA 14271), gibt es in Tschetschenien eine begrenzte Anzahl von Psychiatern, die Psychotherapien wie kognitive Verhaltenstherapie und Narrative Expositionstherapie anbieten (BMA 14483). Diverse Antidepressiva sind in der gesamten Russischen Föderation verfügbar (BMA 12132, BMA 14483).

Wie in anderen Teilen Russlands werden auch in Tschetschenien psychische Krankheiten hauptsächlich mit Medikamenten behandelt, und es gibt nur selten eine Therapie. Die Möglichkeiten für psychosoziale Therapie oder Psychotherapie sind aufgrund des Mangels an notwendiger Ausrüstung, Ressourcen und qualifiziertem Personal in Tschetschenien stark eingeschränkt. Es gibt keine spezialisierten Institutionen für PTBS, jedoch sind Nachsorgeuntersuchungen und Psychotherapie möglich. Ambulante Konsultationen und Krankenhausaufenthalte sind im Republican Psychiatric Hospital of Grozny für alle in Tschetschenien lebenden Personen kostenlos. Auf die informelle Zuzahlung wird hingewiesen. Üblicherweise zahlen Personen für einen Termin wegen psychischer Probleme zwischen 700-2.000 Rubel (ca. 8-24€). In diesem Krankenhaus ist die Medikation bei stationärer und ambulanter Behandlung kostenfrei (BDA 31.3.2015).

Folgende häufig angefragte Inhaltsstoffe von Antidepressiva sind verfügbar (v.a. auch in Tschetschenien):

Sertralin (BMA 12132, BMA 14483)

Escitalopran (BMA 12248, BMA 12977)

Paroxetin (BMA 12863, BMA 14483)

Citalopram (BMA 12977)

Fluoxetin (BMA 14483)

Quellen:

 BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

 International SOS via MedCOI (3.4.2019): BMA 12248

 International SOS via MedCOI (18.11.2019): BMA 12977

 International SOS via MedCOI (12.2.2021): BMA 14483

 International SOS via MedCOI (10.3.2020): BMA 12863

 International SOS via MedCOI (25.2.2019): BMA 12132

 International SOS via MedCOI (14.12.2020): BMA 14271

 Behandlungsmöglichkeiten HIV/AIDS / Hepatitis / Tuberkulose

Letzte Änderung: 16.11.2021

Ein ernstes Problem bleibt die Bekämpfung von HIV/AIDS. Der Anteil der AIDS-Kranken an der Bevölkerung wächst in Russland schneller als im Rest der Welt. Bis zu 1,7% der Bevölkerung sind mit HIV infiziert. Bei den 35–39-Jährigen sind es sogar 3,2%. Die Zahl der Neuinfizierten steigt jährlich um mehr als 100.000. Die Krankheit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Eine 'Nationale Strategie der AIDS-Bekämpfung' soll die Verbreitung eindämmen. Da jedoch ein korrespondierender Umsetzungsplan fehlt, bleibt die Lage weiterhin außer Kontrolle. Die Kosten der Behandlung werden nur für russische Bürger übernommen. Infizierte Migranten werden nicht behandelt (AA 2.2.2021). HIV/AIDS ist in der Russischen Föderation mittels bestimmter antiretroviraler Medikamente generell behandelbar (BMA 13876). Dies gilt auch für Tschetschenien (BDA 6757).

Hepatitis ist in der Russischen Föderation generell behandelbar (BMA 12364).

Tuberkulose ist beispielsweise im Central Scientific Research Institute of Tuberculosis in Moskau behandelbar (BMA 13699). In Tschetschenien beispielsweise ist Tuberkulose in jedem Teil der Republik generell behandelbar, z.B. in Gudermes, Naderetchnyj, Shali, Shelkovskyj und Grosny. Es gibt in Grosny auch eine eigene Tuberkulose-Abteilung für Kinder (BDA 31.3.2015). In Moskau beispielsweise werden auch die Kosten für die Behandlung der häufig vorkommenden Krankheit Tuberkulose vom Moskauer Forschungs- und Klinikzentrum für Tuberkulosebekämpfung übernommen. Jeder, auch Migranten oder Obdachlose, haben Zugang zu diesen kostenlosen Gesundheitsleistungen (ÖB Moskau 6.2021).

Quellen:

 AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (2.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2045865/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_02.02.2021.pdf , Zugriff 25.2.2021

 International SOS via MedCOI (7.8.2020): BMA 13876

 International SOS via MedCOI (13.5.2019): BMA 12364

 International SOS via MedCOI (19.6.2020): BMA 13699

 Belgian Immigration Office (29.6.2018): Question & Answer, BDA 6757

 BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

 ÖB Moskau - Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (6.2021): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.10.2021

 Behandlungsmöglichkeiten Nierenerkrankungen, Dialyse, Lebertransplantationen, Diabetes

Letzte Änderung: 10.06.2021

Nierenerkrankungen und (Hämo-)Dialyse sind sowohl in der Russischen Föderation als auch in Tschetschenien behandelbar bzw. verfügbar (BMA 12506, BDA 31.3.2015). Auch Diabetes ist in der Russischen Föderation behandelbar (BMA 12353). Es werden in Russland auch prinzipiell Transplantationen durchgeführt, jedoch muss man sich auf eine Warteliste setzen lassen (BDA 31.3.2015). Leberfunktionstests sind in der RF generell verfügbar, Lebertransplantationen sind in Moskau grundsätzlich verfügbar (AVA 14382). Krankenhäuser haben bestimmte Quoten bezüglich der Behandlungen von Personen (z.B. Lebertransplantation) aus anderen Regionen oder Republiken der Russischen Föderation. Um solch eine Behandlung außerhalb der Region des permanenten Aufenthaltes zu erhalten, braucht die Person eine Garantie von der regionalen Gesundheitsbehörde, dass die Kosten für die Behandlung rückerstattet werden (BDA 31.3.2015).

Quellen:

 BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

 International SOS via MedCOI (12.7.2019): BMA 12506

 International SOS via MedCOI (8.5.2019): BMA 12353

 International SOS via MedCOI (7.1.2021): AVA 14382

 Behandlungsmöglichkeiten: Drogenabhängigkeit

Letzte Änderung: 29.08.2022

In Moskau bieten öffentliche Einrichtungen psychiatrische Behandlungen sowie stationäre psychologische Betreuung für Drogenabhängige an. In Privateinrichtungen in Moskau besteht die Möglichkeit, Psychotherapien (beispielsweise kognitive Verhaltenstherapie) in Anspruch zu nehmen. Verfügbar sind in Moskau folgende Medikamente: Naloxon, Naltrexonhydrochlorid, Disulfiram und Nalmefen. Nicht verfügbar sind Substitol und Acamprosat (AVA 15556). Methadon, ein Medikament zur Behandlung von Drogensucht, ist in Russland offiziell verboten (NG 1.10.2021; vgl. AVA 15556, AAC 13.11.2020). Gemäß dem UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung unterzogen sich im Jahr 2019 in Russland 401.233 Personen einer Drogentherapie (UNODC o.D.). Der Föderale Dienst für Staatliche Statistik (Rosstat) beziffert die Anzahl derjenigen Drogenabhängigen, welche im Jahr 2020 in Heilanstalten und prophylaktischen Einrichtungen registriert waren, mit 212.400 (Rosstat 30.11.2021). Drogenabhängige Patienten, welche an einem Entzugsprogramm teilnehmen, müssen sich staatlich registrieren und werden nach Abschluss des Programms noch jahrelang überwacht (AAC 13.11.2020). Gerichtlich können Drogenabhängige zu einer Therapie verpflichtet werden (MFZ-GČ o.D.; vgl. AAC 13.11.2020).

Tschetschenien:

Öffentliche Einrichtungen bieten in Groznyj, der Hauptstadt Tschetscheniens, psychiatrische Behandlungen und stationäre psychologische Betreuung für Drogenabhängige an. Verfügbar sind in Groznyj die Medikamente Buprenorphin, Morphin sowie Naloxon. Nicht verfügbar ist Substitol. Morphin, Buprenorphin und Naloxon sind für gewöhnlich ausschließlich stationär erhältlich. Patienten, welchen diese Medikamente ambulant verschrieben werden, benötigen ein spezielles Rezept, um die besagten Medikamente in Apotheken zu erhalten (BMA 13939).

Quellen:

 AAC – American Addiction Centers (13.11.2020): Substance Abuse in Russia, https://alcoholrehab.com/drug-addiction/substance-abuse-in-russia/ , Zugriff 4.8.2022

 International SOS via MedCOI (24.2.2022): AVA 15556

 International SOS via MedCOI (24.8.2020): BMA 13939

 MFZ-GČ – Multifunktionszentrum des Gebiets Čeljabinsk [Russland] (o.D.): Оформление на принудительное лечение [Formalitäten für eine Zwangsbehandlung], https://mfc74.ru/zhaloby/oformlenie-na-prinuditelnoe-lechenie.html , Zugriff 4.8.2022

 NG – Nezavisimaja Gazeta (1.10.2021): Зачем России приписывают ВИЧ-катастрофу [Warum Russland die HIV-Katastrophe zugeschrieben wird], https://www.ng.ru/health/2021-10-01/100_161701102021.html , Zugriff 4.8.2022

 Rosstat (Föderaler Dienst für Staatliche Statistik) [Russland] (30.11.2021): Заболеваемость населения наркоманией [Anzahl Drogenabhängiger], https://rosstat.gov.ru/storage/mediabank/zdr2-4.xls , Zugriff 4.8.2022

 UNODC – United Nations Office on Drugs and Crime (o.D.): Primary Drug of Use among Persons Treated for Drug Problems: Number of Treatment Provided by Drug Classes, https://dataunodc.un.org/dp-drug-use-treatment , Zugriff 4.8.2022

 Rückkehr

Letzte Änderung: 29.08.2022

Gemäß der Verfassung und gesetzlichen Vorgaben haben russische Staatsbürger das Recht, ungehindert in die Russische Föderation zurückzukehren (RI 4.7.2020; vgl. RI 14.7.2022, ÖB 4.4.2022). Jedoch kommt es de facto beispielsweise im Zuge von Grenzkontrollen zu Befragungen Einreisender durch Grenzkontrollorgane (ÖB 4.4.2022). Es liegen Hinweise vor, dass die Sicherheitsdienste einige Personen bei Ein- und Ausreisen überwachen. Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente, wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments wieder in die Russische Föderation einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 21.5.2021). Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation über die Rückübernahme (ÖB 30.6.2021; vgl. EUR-Lex 17.5.2007). Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach welchem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, kann diese Person in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB 30.6.2021).

Rückkehrende haben wie alle anderen russischen Staatsbürger Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Pensionssystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen (IOM 7.2022). Im Allgemeinen stehen Rückkehrer, insbesondere im Nordkaukasus, vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen. Auch gibt es bürokratische Schwierigkeiten, beispielsweise bei der Beschaffung von Dokumenten. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, vor allem für junge Mädchen, wenn diese in einem westlichen Umfeld aufgewachsen sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf eine mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt (ÖB 30.6.2021).

Nach Einschätzung eines Experten für den Kaukasus ist allein die Tatsache, dass im Ausland ein Asylantrag gestellt wurde, noch nicht mit Schwierigkeiten bei der Rückkehr verbunden (ÖB 30.6.2021; vgl. AA 21.5.2021). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien aber für diejenigen Personen ergeben, welche bereits vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB 30.6.2021). Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von willkürlichem Vorgehen der Polizei. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (auch ohne Durchsuchungsbefehle) finden bei diesen Personen häufiger statt (AA 21.5.2021).

Quellen:

 AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.5.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2053304/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Russischen_F%C3%B6deration_%28Stand_Oktober_2020%29%2C_21.05.2021.pdf , Zugriff 13.7.2022

 EUR-Lex (EU-Rechtsdatenbank) (17.5.2007): Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Russischen Föderation über die Rückübernahme - Gemeinsame Erklärungen (ABl. L 129 vom 17.5.2007), https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=uriserv%3AOJ.L_.2007.129.01.0040.01.DEU&toc=OJ%3AL%3A2007%3A129%3ATOC , Zugriff 29.7.2022

 IOM – Internationale Organisation für Migration (7.2022): Russische Föderation: Länderinformationsblatt 2021, https://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2021_Russia_DE.pdf , Zugriff 23.8.2022

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (4.4.2022): Auskunft der Botschaft, per E-Mail

 ÖB – Österreichische Botschaft Moskau [Österreich] (30.6.2021): Asylländerbericht zur Russischen Föderation 2021 (Stand 30.6.2021), https://www.ecoi.net/en/file/local/2059888/RUSS_%C3%96B_Bericht_2021_06.docx , Zugriff 13.7.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (14.7.2022): ФЕДЕРАЛЬНЫЙ ЗАКОН 'О порядке выезда из Российской Федерации и въезда в Российскую Федерацию' [Föderales Gesetz 'Über den Ablauf der Aus- und Einreise in die Russische Föderation'] (Nr. 357-ФЗ), http://pravo.gov.ru/proxy/ips/?docbody&nd=102043016 , Zugriff 29.7.2022

 RI – Rechtsinformationen (Официальный интернет-портал правовой информации) [Russland] (4.7.2020): Конституция Российской Федерации [Verfassung der Russischen Föderation], http://publication.pravo.gov.ru/File/GetFile/0001202007040001?type=pdf , Zugriff 13.7.2022

(…)“

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Identitäten und den persönlichen Verhältnissen der beschwerdeführenden Parteien:

2.1.1. Die Feststellungen zu den Identitäten und den persönlichen Verhältnissen der beschwerdeführenden Parteien ergeben sich aus dem Akteninhalt sowie aus ihren diesbezüglich nachvollziehbaren Angaben im Zuge der Einvernahmen.

2.1.2. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der Erstbeschwerdeführerin ergeben sich aus den in Vorlage gebrachten medizinischen Befunden. Seitens der rechtsfreundlichen Vertretung der beschwerdeführenden Parteien wurden ferner telefonische Auskünfte hinsichtlich der aktuellen (medikamentösen) Behandlung der Erstbeschwerdeführerin bei den sie betreuenden Ärzten eingeholt, welche dem BVwG nachweislich zur Kenntnis gebracht wurden.

Hinsichtlich den Zweit- und die Drittbeschwerdeführer/in wurden zu keiner Zeit gesundheitliche Beschwerden geäußert; es wird daher angenommen, dass sie zumindest an keinen Erkrankungen leiden, welche die hohe Schwelle des Art. 3 EMRK tangieren.

2.1.3. Zur Feststellung hinsichtlich der Gründe für die Zuerkennung ihres subsidiären Schutzstatus wurden die im Verwaltungsakt einliegenden Bescheide des Bundesasylamtes herangezogen; selbiges gilt für die Bescheide mit welchen den beschwerdeführenden Parteien ihr Schutzstatus regelmäßig verlängert wurde.

2.2. Zu ihrer (individuellen) Lage im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat:

2.2.1. Aus einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation in Zusammenhang mit den angeführten Länderfeststellungen zur Lage im Herkunftsland konnte entnommen werden, dass die medizinische Behandlung von an multipler Sklerose erkrankter Personen in der Russischen Föderation (mittlerweile) gewährleistet ist und dort auch die für die Erstbeschwerdeführerin konkret erforderlichen Medikamente zur Verfügung stehen. Sofern die darin angeführten Behandlungsmöglichkeiten lediglich in der Hauptstadt Moskau verfügbar sind; wird hierzu auf die in den Länderfeststellungen dokumentierte Bewegungsfreiheit in Russland verwiesen.

2.2.2. Die Feststellung, wonach auch sonst keine Gründe vorliegen, derentwegen die beschwerdeführenden Parteien im Fall ihrer Rückkehr in die Russische Föderation in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wären, ergibt sich ebenso aus den angeführten Länderfeststellungen zur Lage im Herkunftsland in Zusammenschau mit dem Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien. Es herrscht demnach in der Russischen Föderation, respektive Tschetschenien kein (Bürger-)Krieg oder eine besorgniserregende Versorgungslage und eine allfällig individuelle Gefährdungslage wurde nicht substantiiert vorgebracht. Aus einer in der Verhandlung vom 22.06.2022 von der belangten Behörde vorgelegten Anfragebeantwortung lässt sich ferner entnehmen, dass Rückkehrer, welche schon lange im Ausland lebten, z.B. als Folge der europäischen (wirtschaftlichen) Sanktionen gegen die Russische Föderation auch keine Repressalien zu befürchten haben.

Die Feststellung, dass der Zweitbeschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr auch nicht die Einziehung in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu befürchten hätte, stützt sich ferner auf die Umstände, dass der zum Entscheidungszeitpunkt erst XXXX jährige Zweitbeschwerdeführer (noch) nicht wehrpflichtig ist und er bislang auch keine militärische Ausbildung erhalten hat. Insofern ist er auch nicht von der am 21.09.2022 von Präsident Putin verkündeten Teilmobilmachung von 300.000 Reservisten betroffen; wobei angemerkt wird, dass ebendiese zwischenzeitig wieder für beendet erklärt wurde.

2.2.3. Die Feststellungen zu dem im Herkunftsland aufhältigen Familiennetz ergeben sich aus den Einvernahmen der beschwerdeführenden Parteien und dem Akteninhalt.

Daraus geht hervor, dass der (frühere) Ehemann der Erstbeschwerdeführerin, nunmehr in die russische Föderation abgeschoben wurde; nachdem er sich zuvor - nach Aberkennung seines subsidiären Schutzstatus im Jahr 2016 - weiterhin illegal bei der Erstbeschwerdeführerin aufgehalten hatte. Das zur Entscheidung berufene Gericht geht insofern auch von einem nach wie vor bestehenden Naheverhältnis betreffend die geschiedenen Eheleute aus. Selbst wenn aktuell kein Kontakt (mehr) bestehen sollte, ist davon auszugehen, dass eine Verbindung (etwa über andere im Herkunftsland aufhältige Verwandte und Bekannte) wiederaufgenommen werden kann.

Der Zweit- und die Drittbeschwerdeführer/in machten ferner Angaben zu weiteren im Herkunftsland aufhältigen Verwandten; auf welchen die entsprechenden Feststellungen beruhen.

Dass die Russische Föderation über ein ausgeprägtes Sozialversicherungssystem verfügt, ergibt sich (wiederum) aus den Länderfeststellungen zur Lage im Herkunftsland. Sofern hierzu moniert wurde, dass sich die Sicherheits- und Versorgungslage in der Russischen Föderation, aufgrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und damit einhergehenden Sanktionen gegen Russland verschlechtert habe, so ist ebenso auf eine im Zuge der am 22.06.2022 durchgeführten Verhandlung von der belangten Behörde vorgelegten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu verweisen, aus der in Bezug auf für russische Staatsangehörige zur Verfügung gestellte Sozialleistungen hervorgeht, dass für das russische Budget 2022 zwar eine Verminderung der Ausgaben vorgesehen ist. Gleichzeitig sollen aber neue Sozialleistungen eingeführt werden; beispielsweise neue monatliche Unterstützungszahlungen für 8 bis 17-jährige Kinder bedürftiger Familien.

Aus alledem ergibt sich, dass die beschwerdeführenden Parteien im Falle der Rückkehr auch nicht zu befürchten haben, in eine ihre Existenz gefährdende Notlage zu geraten.

2.3. Zu ihren privaten- und familiären Anknüpfungspunkten zu Österreich:

2.3.1./2. Die Feststellungen zum Aufenthalt im Bundesgebiet bzw. hinsichtlich des Privat- und Familienlebens der beschwerdeführenden Parteien in Österreich ergeben sich aus der Aktenlage, dem Beschwerdevorbringen und den vorgelegten Integrationsunterlagen sowie den im Rahmen der Beschwerdeverhandlung getätigten Angaben. Des Weiteren wurde eine Abfrage des Zentralen Melderegisters, des Strafregisters und des Zentralen Fremdenregisters die beschwerdeführenden Parteien und ihre in Österreich aufhältigen Familienangehörigen betreffend durchgeführt.

2.3.3. Die Feststellungen zum delinquenten Verhalten des Zweitbeschwerdeführers stützen sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister der Republik Österreich, in Zusammenschau mit den im Akt einliegenden Anzeigen und den gekürzten und in Rechtskraft erwachsenen Urteilsausfertigungen des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 29.06.2022, HV 29/2002y, und vom 25.08.2022, HV 62/2022a.

2.4. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:

Die zur Lage in der Russischen Föderation getroffenen Feststellungen basieren auf Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen und stellen angesichts des bereits Ausgeführten im konkreten Fall eine hinreichende Basis zur Beurteilung des Vorbringens der beschwerdeführenden Parteien dar. Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen, sowie des Umstandes, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Abweisung der Beschwerden:

3.1. Zu Spruchpunkt I. und II. der angefochtenen Bescheide - Aberkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten:

3.1.1. Gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht (1. Fall) oder nicht mehr (2. Fall) vorliegen.

§ 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 enthält demnach zwei unterschiedliche Aberkennungstatbestände. Der erste Fall erfasst die Konstellation, in der der Fremde schon im Zeitpunkt der Zuerkennung von subsidiärem Schutz die dafür notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt hat. § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 betrifft hingegen jene Konstellationen, in denen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nachträglich weggefallen sind (VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153).

Der Verwaltungsgerichtshof hat zu einer Konstellation nach § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 ausgesprochen, dass es unter Berücksichtigung der Rechtskraftwirkungen von Bescheiden nicht zulässig ist, die Aberkennung auszusprechen, obwohl sich der Sachverhalt seit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes bzw. der erfolgten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 (die nur im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung erteilt werden darf) nicht geändert hat (VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0155). Diese Überlegungen hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 27. Mai 2019, Ra 2019/14/0153, auch auf jene Fälle übertragen, in denen - wie im gegenständlichen Fall - die Aberkennung auf § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 gestützt wird. Demnach bringt die Behörde durch die Entscheidung, die befristete Aufenthaltsberechtigung zu verlängern, vor dem Hintergrund der dafür nach dem Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen zum Ausdruck, dass sie davon ausgeht, es seien im Zeitpunkt ihrer Entscheidung, mit der sie die Verlängerung bewilligt, weiterhin jene Umstände gegeben, die für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz maßgeblich waren. Hat die Behörde keine konkreten Hinweise dafür, dass im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung die für dessen Bewilligung notwendigen Voraussetzungen nicht mehr bestehen könnten, also die diesbezüglich maßgeblichen Umstände sich nicht im Sinn der unionsrechtlichen Vorgaben in hinreichend bedeutsamer und endgültiger Weise geändert haben, werden insoweit weitere Ermittlungen unterbleiben können.

In Bezug auf die Frage, ob sich die Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend verändert haben, sodass Anspruch auf subsidiären Schutz nicht länger besteht, kommt es regelmäßig nicht allein auf den Eintritt eines einzelnen Ereignisses an. Der Wegfall der Notwendigkeit, auf den Schutz eines anderen Staates angewiesen zu sein, kann sich durchaus auch als Ergebnis unterschiedlicher Entwicklungen von Ereignissen, die sowohl in der Person des Fremden als auch in der in seinem Herkunftsland gegebenen Situation liegen können, darstellen. In diesem Sinn kann bei einem Fremden, dem als Minderjähriger subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, das Erreichen der Volljährigkeit eine Rolle spielen, etwa dadurch, dass im Lauf des fortschreitenden Lebensalters in maßgeblicher Weise Erfahrungen in diversen Lebensbereichen hinzugewonnen werden (vgl. VwGH 01.02.2021, Ra 2021/20/0010, mwN; vgl. dazu auch jüngst VwGH 19.04.2021, Ra 2020/20/0250).

3.1.1.1. Zur Aberkennung des Schutzstatus die Erstbeschwerdeführerin betreffend:

Der Erstbeschwerdeführerin wurde mit Bescheid des (ehemaligen) Bundesasylamtes vom 17.09.2008, Zl. 07 05.905-BAS, der Status der subsidiär Schutzberechtigten aufgrund ihrer Erkrankung – Multipler Sklerose - gewährt und dazu näher ausgeführt, dass auf Basis allgemeiner Feststellungen zur aktuellen Versorgungslage in der Russischen Föderation eine ausreichende ärztliche Versorgung nicht sichergestellt und die menschenwürdige Existenz ebenso gefährdet sei wie die Versorgung ihrer Kinder.

Wie beweiswürdigend dargelegt, geht aus den Länderfeststellungen zur Lage im Herkunftsland nun aber zweifelsfrei hervor, dass die medizinische Versorgung in der Russischen Föderation sichergestellt ist; wobei russische Staatsbürger:innen im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zur kostenlosen medizinischen Versorgung haben. Weiters konnte aufgrund einer eingeholten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation ermittelt werden, dass in der Russischen Föderation zahlreiche Behandlungsmöglichkeiten für an Multipler Sklerose erkrankter Personen vorhanden sind und dass die Erstbeschwerdeführerin dort auch Zugang zu den entsprechend ihrem individuellen Medikationsplan erforderlichen Arzneimitteln hat.

Eine akute lebensbedrohende Krankheit, welche eine Überstellung in den Herkunftsstaat gemäß der Judikatur des EGMR verbieten würde, liegt im konkreten Fall nicht vor. Bei der Krankheit der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich um eine sekundär progrediente Form der Multiplen Sklerose, bei welcher es zu einer kontinuierlichen funktionellen Verschlechterung kommt, wobei es auch gelegentliche Schübe und kleinere Remissionen geben kann. Unabhängig von ihrem Aufenthaltsort wird sich ihr Zustand daher mit der Zeit verschlechtern und erfordert der Zustand eine dauerhafte Betreuung.

Wie festgestellt, ist eine medizinische Versorgung im Herkunftsstaat aber gewährleistet. Dass die diesbezüglichen Behandlungsmöglichkeiten im Zielland allenfalls schlechter sind als im Aufenthaltsland, und allfälligerweise größere Kosten verursachen, ist nicht ausschlaggebend. Darüber hinaus wäre auch der Transport in die Russische Föderation unter möglichster Schonung und unter Berücksichtigung ihres Gesundheitszustandes zumutbar.

Folglich ist es der Erstbeschwerdeführerin inzwischen möglich, ohne in eine ausweglose Lage zu geraten, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren und sich ebendort behandeln und betreuen zu lassen. Die stetige Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes ist ihrer Erkrankung geschuldet und es vermag auch ein Verbleib in Österreich diesen Umstand nicht zu revidieren.

Darüber hinaus haben sich jüngst auch hinsichtlich ihrer persönlichen Umstände Änderungen ergeben, welche ihre Rückkehr begünstigen:

So ist in diesem Kontext zu berücksichtigen, dass ihr (früherer) Ehemann, welcher nach rechtskräftiger Aberkennung seines Schutzstatus im Jahr 2016 vorerst illegal im Bundegebiet verblieb, zuletzt am 15.07.2021 abgeschoben wurde. Ferner wurde mit rechtskräftiger Entscheidung vom 18.11.2021 auch bereits der Schutzstatus ihres ältesten Sohnes, XXXX aberkannt. Dieser ist ausreisepflichtig und es besteht ihn betreffend ein mehrjähriges Einreiseverbot. Die Erstbeschwerdeführerin kann demnach in ihrer Heimat auf familiäre Unterstützung von Mitgliedern ihrer Kernfamilie zählen. Hinzu kommt, dass der/die Zweit- und die Drittbeschwerdeführer/in ebenso von den gegenständlichen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen sind (siehe hierzu sogleich). Insofern könnte die Erstbeschwerdeführerin auch im Herkunftsland weiterhin von ihrer Mutter, der Drittbeschwerdeführerin, gepflegt werden, und es ist dem (zum Entscheidungszeitpunkt) bereits XXXX -jährigen Zweitbeschwerdeführer inzwischen auch durchaus möglich und zumutbar, seine Großmutter dabei zu unterstützten oder (zumindest im geringen Umfang) einen Beitrag zum Familieneinkommen zu leisten. Abgesehen davon verfügt die Erstbeschwerdeführerin im Herkunftsland über sonstige Verwandte, die ihr bei ihrer Wiedereingliederung behilflich sein könnten und es wird letztlich darauf hingewiesen, dass die Russische Föderation auch über ein ausgeprägtes Sozialsystem verfügt.

Insgesamt kann aus jetziger Perspektive sohin keine Gefahr (mehr) erkannt werden, wonach die Erstbeschwerdeführer im Falle ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat in eine unmenschliche oder ihre Existenz bedrohende Lage geraten würde. Vielmehr hat sich ihre Situation wesentlich und nachhaltig verändert; und zwar auch unter Berücksichtigung von Umständen, welche erst nach letztmaliger Verlängerung der ihr erteilten Aufenthaltsberechtigungen im Jahr 2018 zu Tage getreten sind. die Voraussetzungen für die Aberkennung ihres Schutzstatus nach § 9 Abs. 1 AsylG 2005 waren sohin zu bejahen.

3.1.1.2. Zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten den Zweitbeschwerdeführer betreffend:

Dem Zweitbeschwerdeführer wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten abgeleitet von seiner Mutter im Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 zuerkannt. Die Prüfung, ob auch in Bezug auf den Mitbeteiligten eine in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 umschriebene Gefährdung gegeben war, wurde infolgedessen nicht vorgenommen. Auch anlässlich der mehrfachen Verlängerungen der nach § 8 AsylG 2005 erteilten befristeten Aufenthaltsberechtigung des Mitbeteiligten erfolgte eine solche Beurteilung nicht.

Der in § 34 AsylG 2005 verwendete Begriff des Familienangehörigen - anders als etwa bei der Anwendung des § 35 AsylG 2005, der in seinem Abs. 5 festlegt, wer nach dieser Bestimmung als Familienangehöriger anzusehen ist - ist im Sinn der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 zu verstehen (vgl. VwGH 14.9.2022, Ra 2022/20/0191, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits dargelegt, dass § 34 AsylG 2005 der Beschleunigung der Asylverfahren von Asylwerbern im Familienverband dient. Ziel der Bestimmungen ist es, Familienangehörigen (im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005) den gleichen Schutz zu gewähren, ohne sie um ihr Verfahren im Einzelfall zu bringen (vgl. VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0105; 24.10.2018, Ra 2018/14/0040 bis 0044, jeweils mwN).

Der Verwaltungsgerichtshof hat auch bereits festgehalten, dass Art. 3 StatusRL nach dem Urteil des EuGH vom 4. Oktober 2018, C-652/16, Ahmedbekova und Ahmedbekov, dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat gestattet, in Fällen, in denen einem Angehörigen einer Familie nach der mit dieser Richtlinie geschaffenen Regelung internationaler Schutz gewährt wird, die Erstreckung dieses Schutzes auf andere Angehörige dieser Familie vorzusehen, sofern diese nicht unter einen der in Art. 12 der Richtlinie genannten Ausschlussgründe fallen und sofern ihre Situation wegen der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweist (s. Pkt. 3 des Tenors des Urteils C-652/16 sowie Rn 72 bis 74 der Begründung). Vor diesem Hintergrund stellen sich die im Sinn des Art. 3 StatusRL gegenüber den Vorgaben der StatusRL für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des Status des subsidiär Schutzberechtigten günstigeren Regelungen des § 34 AsylG 2005 mit der StatusRL als vereinbar dar (vgl. erneut VwGH Ra 2018/14/0040 bis 0044; dies gilt jedenfalls, soweit es die dortige Konstellation der gemeinsamen Einreise betrifft).

Als Voraussetzung dafür, dass der Familienangehörige - wie hier im Hinblick auf die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten - die Begünstigung im Familienverfahren, nämlich die Gewährung desselben Schutzes der Bezugsperson ohne Prüfung der sonst für die Erlangung dieses Status erforderlichen Voraussetzungen erhält, sieht § 34 Abs. 3 AsylG 2005 vor, dass der Antragsteller, neben seiner Eigenschaft als Familienangehöriger der Bezugsperson im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005, nicht straffällig (im Sinn des § 2 Abs. 3 AsylG 2005; vgl. VwGH 27.4.2020, Ra 2019/19/0421, im Zeitpunkt der Zuerkennung) geworden und gegen die Bezugsperson kein Verfahren zur Aberkennung des eingeräumten Schutzstatus anhängig ist.

Im gegenständlichen Fall lagen diese Voraussetzungen beim Zweitbeschwerdeführer unzweifelhaft vor. Er war damals der minderjährige Sohn einer subsidiär Schutzberechtigten. Gegen seine Mutter war ein Aberkennungsverfahren nicht anhängig. Er war zu dieser Zeit (noch) nicht straffällig geworden. Eigene Fluchtgründe hatte der Zweitbeschwerdeführer nicht vorgebracht.

Das BFA hat die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auch hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers auf § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005, also den nachträglichen Wegfall der Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Status, gestützt.

In der Beschwerde sowie in der Stellungnahme vom 26.07.2022 wurde diesbezüglich - mit Verweis auf die Entscheidung des VwGH vom 23.09.2019, Ra 2019/19/0059 – unter anderem bemängelt, dass aufgrund der von der Mutter im Familienverfahren abgeleiteten Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Zweitbeschwerdeführer die Beurteilung des Schutzbedarfes der Bezugsperson – der Mutter – maßgeblich sei, die Behörde hierzu aber überhaupt keine Ermittlungen angestellt habe.

Unabhängig davon, dass nach durchgeführtem Ermittlungsverfahren seitens des BVwG nun feststeht, dass die Gründe, die zur Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf die Bezugsperson des Zweitbeschwerdeführer geführt haben, nicht mehr vorliegen (siehe hierzu 3.1.1.1.), kommt es – wie der VwGH in seiner jüngst ergangen Entscheidung vom 09.11.2022, Ro 2021/14/0001-6, festgehalten hat, darauf aber gar nicht an, sondern es ist stattdessen wie folgt zu beachten:

„In diesem Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass die Bestimmungen des § 34 AsylG 2005 über das Familienverfahren im Inland nur das Verfahren zur Zuerkennung von internationalem Schutz regeln. Im AsylG 2005 finden sich aber keine (eigenen) Normen, unter welchen Voraussetzungen einem Familienangehörigen, dem internationaler Schutz im Weg des Familienverfahrens (ohne eigene Gründe) gewährt wurde, dieser Schutzstatus abzuerkennen ist (vgl. (vgl. Nedwed, Familienverfahren - Schutz des Einzelnen und des Kollektivs, in Filzwieser/Taucher, Asyl- und Fremdenrecht. Jahrbuch 2019 [2019] 229).

Weiters ist festzuhalten, dass die Bestimmungen des § 7 AsylG 2005 über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten und jene des § 9 AsylG 2005 über die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (deutlich) unterschiedlich formuliert sind.

Es erscheint an dieser Stelle zweckmäßig, zunächst die für Asylberechtigte maßgeblichen Bestimmungen in den Blick zu nehmen.

§ 7 Abs. 1 AsylG 2005 sieht die Aberkennung des Status des Asylberechtigten in jenen Konstellationen vor, in denen (Z 1) ein Asylausschlussgrund nach § 6 vorliegt, (Z 2) einer der in Art. 1 Abschnitt C GFK angeführten Endigungsgründe eingetreten ist oder (Z 3) der Asylberechtigte den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in einem anderen Staat hat.

Schon an dieser Stelle muss hervorgehoben werden, dass § 7 AsylG 2005 - im Gegensatz zu § 9 AsylG 2005 - keine Reihenfolge, in der die Aberkennungsgründe geprüft werden müssen, vorsieht.

Bei der auf das Vorliegen eines Ausschlussgrundes nach § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 1 bis Z 4 AsylG 2005 gestützten Aberkennung des Status des Asylberechtigten kommt es auf die Art der Zuerkennung dieses Schutzstatus, sohin ob er originär oder abgeleitet erworben wurde, nicht an (vgl. in diesem Sinn VwGH 5.4.2022, Ra 2022/14/0001, Rn. 15, dort betreffend das Vorliegen eines Ausschlussgrundes nach § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005). Allein maßgeblich ist, ob der Asylberechtigte ein Verhalten gesetzt hat, das einer der in § 6 AsylG 2005 aufgezählten Fallkonstellationen unterliegt. Ist ein solcher Ausschlussgrund verwirklicht, ist der Status des Asylberechtigten mit Bescheid abzuerkennen und (nach § 7 Abs. 4 AsylG 2005) mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt. Darauf, ob die Bezugsperson, von der der Status als Asylberechtigter zuvor im Familienverfahren abgeleitet worden war, im Herkunftsstaat weiterhin asylrechtlich relevante Verfolgung zu befürchten hat, kommt es dabei nicht an.

Anderes hat jedoch im Fall der auf § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK gestützten Aberkennung zu gelten, mit der sich der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 23. Oktober 2019, Ra 2019/19/0059, befasst hat. Dort ist er zum Ergebnis gelangt, dass es bei der Aberkennung nach § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK des einem Familienangehörigen zuvor im Familienverfahren (oder nach früheren Asylgesetzen durch Asylerstreckung) zuerkannten Status des Asylberechtigten wegen Wegfalls der fluchtauslösenden Umstände darauf ankommt, ob die Umstände, auf Grund deren die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und es diese daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen. Diese Frage hat die Behörde (im Beschwerdeverfahren: das Verwaltungsgericht) - als Vorfrage - selbständig zu beurteilen. Gelangt die Behörde - oder im Beschwerdeverfahren das Verwaltungsgericht - in einem solchen Fall zu der Beurteilung, dass diese Umstände nicht mehr vorliegen, ist der Status des Asylberechtigten eines Familienangehörigen, dem dieser Status im Familienverfahren oder durch Asylerstreckung zuerkannt worden war, abzuerkennen, sofern im Entscheidungszeitpunkt hinsichtlich des Familienangehörigen nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (drohende Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK) vorliegen. Für die Asylaberkennung in einem solchen Fall ist hingegen nicht maßgeblich, ob alle Voraussetzungen des § 34 AsylG 2005 für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten im Familienverfahren noch vorliegen.

Dies wurde maßgeblich damit begründet, dass im Unterschied zu anderen Aberkennungstatbeständen des § 7 Abs. 1 AsylG 2005 die in Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK vorgesehene „Wegfall der Umstände“-Klausel nicht gesondert für einen Familienangehörigen, der seinen Asylstatus von einer Bezugsperson abgeleitet hat, geprüft werden könne. Es sei nämlich bei einer Person, welcher die Flüchtlingseigenschaft unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK zukommt, der Wegfall solcher Umstände von vornherein nicht denkbar (vgl. dazu nochmals das bereits zitierte Erkenntnis vom 23.10.2019, Rn 26, dem folgend VwGH 3.9.2021, Ra 2021/14/0108, mwN). Es habe aber dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden können, dass Familienangehörigen dieser Status selbst dann nicht aberkannt werden könnte, wenn sich die Umstände, auf Grund deren ihre Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden war, nicht mehr bestehen und die Bezugsperson es nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen (Rn. 27 des zitierten Erkenntnisses Ra 2019/19/0059).

Die in § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 enthaltenen Gründe für die Aberkennung von subsidiärem Schutz, die auf das Nicht-Vorliegen oder das Nicht-mehr-Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz abstellen, unterscheiden sich - wie bereits oben erwähnt - in ihrem Wortlaut deutlich von § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005.

Zudem sieht § 9 AsylG 2005 im Gegensatz zu § 7 AsylG 2005 - wie ebenfalls bereits erwähnt - eine Reihenfolge der Prüfung (zunächst) der in Abs. 1 und (erst im Fall des Bejahens einer maßgeblichen Gefährdung) der in Abs. 2 enthaltenen Aberkennungsgründe vor. Daraus sowie aus den nachstehenden Überlegungen ergibt sich, dass die in Ra 2019/19/0059 zu § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK angestellten Überlegungen nicht auf § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 zu übertragen sind.

Würde man, wie das Bundesverwaltungsgericht meint, die in Ra 2019/19/0059 für die Aberkennung von Asyl dargelegten Grundsätze auch für das Aberkennungsverfahren von (im Familienverfahren abgeleiteten) subsidiär Schutzberechtigten als maßgeblich ansehen, müsste für eine auf § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 gestützte Aberkennung das Vorliegen einer (weiteren) Gefährdung im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 für die Bezugsperson einer Prüfung unterzogen werden. Erst wenn eine solche Gefährdung der Bezugsperson zu verneinen wäre, wäre zu prüfen, ob der betreffende Fremde im Fall seiner Rückführung selbst eine solche Gefährdung zu gewärtigen hätte.

Ergäbe aber eine solche Prüfung, dass jene Gründe, die ursprünglich für die Bezugsperson zur Zuerkennung von subsidiärem Schutz geführt haben, weiterhin bestünden, wäre - ginge man von den Erwägungen zu § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 in Ra 2019/19/0059 aus - kein Raum für die Beurteilung, ob in Bezug auf den Familienangehörigen der Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 wegen Fehlens einer ihn betreffenden Gefährdung aberkannt werden könnte.

Dies hätte - läge auch sonst kein Grund des § 9 Abs. 1 AsylG 2005 vor - zur Folge, dass eine Aberkennung nach Abs. 1 des § 9 AsylG 2005 nicht möglich wäre und im Fall der Verwirklichung eines in § 9 Abs. 2 AsylG 2005 enthaltenen Tatbestandes die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten selbst dann zwingend mit der Feststellung zu verbinden wäre, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, obwohl für ihn eine reale Gefahr der Verletzung der im Abs. 2 genannten Rechte (von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention) oder die dort genannte ernsthafte Bedrohung (des Lebens oder der Unversehrtheit als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes) gar nicht gegeben ist.

Für den vorliegenden Fall würde dies bei einer solchen Sichtweise bedeuten, dass geprüft werden müsste, ob jene Gründe, die zur Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten an die Mutter geführt haben (ob also ihr Gesundheitszustand und die diesbezüglichen Möglichkeiten der Versorgung im Herkunftsstaat im Fall ihrer Rückführung [insbesondere] zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen), weiterhin vorlägen. Wäre zu bejahen, dass die Mutter des Mitbeteiligten weiterhin Anspruch auf die Gewährung von subsidiärem Schutz erheben könnte, dürfte die Aberkennung des dem in Österreich straffällig gewordenen Mitbeteiligten im Familienverfahren zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten nur nach dem Abs. 2 des § 9 AsylG 2005 mit der Folge, dass (insbesondere) seine Abschiebung für unzulässig zu erklären wäre, erfolgen.

Das bedeutet aber auch, dass diesfalls einem straffällig gewordenen subsidiär Schutzberechtigten, der selbst im Heimatland keine Gefährdung im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu befürchten hat, Schutz vor Abschiebung zu Teil werden würde. Im Gegensatz dazu kommt einem Asylberechtigten im Fall der gravierenden Straffälligkeit ein solcher Schutz nicht zu, weil die Aberkennung von Asyl nach § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 AsylG 2005 - wie oben dargelegt - losgelöst von der Frage der (weiteren) Verfolgung der Bezugsperson auszusprechen ist und sich die daran anschließende Beurteilung nach § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 nur auf ihn, nicht aber auf die Bezugsperson zu beziehen hat.

Somit käme es bei der Anwendung der zu § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK im Erkenntnis vom 23. Oktober 2019, Ra 2019/19/0059, enthaltenen Grundsätze - gerade im Fall der Straffälligkeit eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Familienverfahren zuerkannt worden war - zu einem unüberbrückbaren und verfassungsrechtlich bedenklichen Wertungswiderspruch.

Unter Einbeziehung der oben dargestellten Erwägungen des Gesetzgebers zur Schaffung des § 9 Abs. 2 AsylG 2005, aus denen abzuleiten ist, dass im Fall von straffällig gewordenen Fremden vorrangig zu prüfen ist, ob der Rückführung in den Herkunftsstaat ein ihn betreffendes Hindernis entgegensteht und eine solche aus diesem Blickwinkel betrachtet nur dann unterbleiben soll, wenn der betreffende Fremde selbst eine in § 9 Abs. 2 AsylG 2005 genannte Gefahr zu befürchten hat, ist nicht zu sehen, dass der Gesetzgeber eine solche von einem Wertungswiderspruch gekennzeichnete Rechtslage hätte schaffen wollen. Im Ergebnis würde dies nämlich nach dem Gesagten dazu führen, dass insoweit ein Asylberechtigter schlechter gestellt wäre als ein straffällig gewordener subsidiär Schutzberechtigter.

Um den angesprochenen Wertungswiderspruch, der dem Gesetzgeber nicht als beabsichtigt unterstellt werden kann, zu vermeiden, geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass die in § 9 AsylG 2005 enthaltenen Anordnungen in Bezug auf Fremde, denen der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Familienverfahren zuerkannt wurde, in folgender Weise zu verstehen sind:

Nach § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten vorzunehmen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht oder nicht mehr vorliegen.

Zwar verweist § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 im dort vorhandenen Klammerausdruck auf § 8 Abs. 1 AsylG 2005. Für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Familienverfahren kommt es aber nach § 34 AsylG 2005 gerade nicht darauf an, dass der Familienangehörige einen Schutzbedarf haben muss, um in den Genuss der daraus resultierenden Rechtsstellung zu kommen.

Um den zuvor erwähnten Wertungswiderspruch aufzulösen, ist § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 sohin dahin zu verstehen, dass der Blick nicht allein auf die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu richten ist. Vielmehr ist auf die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Familienverfahren abzustellen. Es ist somit insoweit zu prüfen, ob die Voraussetzungen nach § 34 AsylG 2005 für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht oder nicht mehr vorliegen.

Zu ergänzen ist, dass der Frage, ob dies angesichts der Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofes in seinem Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23. Jänner 2003, 2001/01/0429, auch für den Wegfall der Eigenschaft als Familienangehöriger gilt, hier aufgrund der Lage des Falles nicht nachgegangen werden muss. Es sei aber an dieser Stelle angemerkt, dass sich die frühere Rechtslage nach dem Asylgesetz 1997, die dort zur Beurteilung anstand, maßgeblich von der aktuell geltenden Rechtslage unterschieden hatte, weil nach dem Asylgesetz 1997 die Eigenschaft als Familienangehöriger (im Sinn des Asylgesetzes 1997) als Prozessvoraussetzung für die Erstreckung von Asyl festgelegt war. Zudem hat der Gesetzgeber mittlerweile Bestimmungen geschaffen, die einem subsidiär Schutzberechtigten ermöglichen, einen Aufenthaltstitel nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zu erhalten (§ 45 Abs. 12 NAG). Weiters ist der Wegfall der Voraussetzungen für den subsidiären Schutz nicht automatisch mit einer Beendigung des Aufenthalts verbunden (vgl. insbesondere § 9 Abs. 3 BFA-VG und § 58 Abs. 2 AsylG 2005 sowie § 55 AsylG 2005).

Wie bereits angesprochen, hat der Gesetzgeber - mit dem Ziel der Verwaltungsvereinfachung und der Beschleunigung von Asylverfahren - (auch) für den Fall der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Weg des Familienverfahrens die Prüfung einer allfälligen Gefährdung im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 des Familienangehörigen als nicht erforderlich erachtet.

Somit ist es zur Vermeidung einer Rechtsschutzlücke erforderlich, in jenem Fall, in dem die Voraussetzungen des § 34 AsylG 2005 für die Aufrechterhaltung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht länger vorliegen, auch zu prüfen, ob der Familienangehörige aufgrund ihn selbst betreffender Gründe die Voraussetzungen nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erfüllt. Nur so kann der in der Rechtsprechung getätigten - oben wiedergegebenen - Aussage, wonach § 34 AsylG 2005 der Beschleunigung der Asylverfahren von Asylwerbern im Familienverband dient und Ziel der Bestimmungen ist, Familienangehörigen den gleichen Schutz zu gewähren, sie aber nicht um ihr Verfahren im Einzelfall gebracht werden sollen (vgl. VwGH 30.4.2018, Ra 2017/01/0418, mwN), ausreichend Rechnung getragen werden.

Ergibt die - im Rahmen des Verfahrens zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten dann erstmalig vorgenommene - Prüfung, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, ist eine Aberkennung des - wenn auch bloß abgeleiteten - Schutzstatus nach § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 nicht zulässig, weil ein (nunmehr originärer) Schutzbedarf des Fremden besteht.

Erst in diesem Fall (sofern nicht ausnahmsweise eine Aberkennung nach der Z 2 oder Z 3 des § 9 Abs. 1 AsylG 2005 vorzunehmen wäre) ist in einem weiteren Schritt zu klären, ob eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 9 Abs. 2 AsylG 2005 erfolgen kann. Eine solche Aberkennung wäre sodann nach § 9 Abs. 2 AsylG 2005 zwingend (u.a.) mit der Feststellung der Unzulässigkeit der (insbesondere) Abschiebung zu verbinden.“

Wie schon zuvor angemerkt, kommt es demnach bei der Frage, ob dem Zweitbeschwerdeführer der im Familienverfahren zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt werden kann, nicht auf die Beurteilung des Schutzbedarfs seiner Bezugsperson an.

Vielmehr ist im Konkreten zu prüfen, ob beim Zweitbeschwerdeführer die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (im Familienverfahren) nicht länger vorliegen; was angesichts der - zum Entscheidungszeitpunkt - ihn betreffend vorliegenden Urteile nicht zweifelhaft sein kann.

Anhaltspunkte dafür, dass der Zweitbeschwerdeführer selbst die Voraussetzungen nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erfüllt, liegen ferner mit Hinblick auf die in der Beweiswürdigung dargelegten Gründe keine vor; die Voraussetzungen für die Aberkennung seines Schutzstatus nach § 9 Abs. 1 AsylG 2005 waren sohin jedenfalls zu bejahen.

3.1.1.3. Zur Aberkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten die Drittbeschwerdeführerin betreffend:

Die Drittbeschwerdeführer hat ihren Schutzstatus zwar ihr nicht im Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 zuerkannt bekommen. Dennoch wurde auch ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten allein aufgrund ihrer Tochter, der Erstbeschwerdeführerin, gewährt und hierzu ausgeführt, dass ebendiese auf die Anwesenheit und die Pflege der Mutter angewiesen ist.

Da sich aus obangeführten Erwägungen nun aber ergibt, dass die Gründe, die zur Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf die Erstbeschwerdeführerin nicht mehr vorliegen, gilt dies – in konsequenter Weise – auch für die Drittbeschwerdeführerin. Sonstige Gründe, wonach diese selbst die Voraussetzungen nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 erfüllt, sind nicht zu erblicken, weshalb die Drittbeschwerdeführerin betreffend die Voraussetzungen für die Aberkennung ihres Schutzstatus nach § 9 Abs. 1 AsylG 2005 ebenso zu bejahen sind.

3.1.2. Einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, ist gemäß § 8 Abs. 4 AsylG vom Bundesamt oder vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

Die Aberkennung des Status des subsidiären Schutzberechtigten ist gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 mit dem Entzug der Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu verbinden. Der Beschwerdeführer hat nach Rechtskraft der Aberkennung Karten, die den Status des subsidiär Schutzberechtigten bestätigen, der Behörde zurückzustellen.

Wie soeben ausgeführt, liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vor, weshalb folgerichtig die Erstbeschwerdeführerin betreffend ihr Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung für subsidär Schutzberechtigte vom 12.11.2021 abzuweisen war. Betreffend den Zweit- und die Drittbeschwerdeführer/in waren die ihnen befristet gewährten Aufenthaltsberechtigungen zu entziehen.

Dementsprechend waren die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. und II. der Bescheide abzuweisen.

3.2. Zu Spruchpunkt III. – VI. der angefochtenen Bescheide – Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung, Abschiebung und Frist für die freiwillige Ausreise

3.2.1. Gemäß § 58 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen, wenn einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird. Die formellen Voraussetzungen des § 57 AsylG 2005 sind allerdings nicht gegeben und werden in den Beschwerden auch nicht behauptet. Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz war den beschwerdeführenden Parteien daher nicht zuzuerkennen.

Gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

Die beschwerdeführenden Parteien sind als Staatsangehörige der Russischen Föderation keine begünstigten Drittstaatsangehörige. Es kommt ihnen kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu.

Da den beschwerdeführenden Parteien ihr Status der subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wurde, ihnen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht zu erteilen ist, und sie weder begünstigte Drittstaatsangehörige noch aufgrund eines anderen Bundesgesetzes (oder des Unionsrechts) zum Aufenthalt berechtigt sind, liegen die Voraussetzungen für die Prüfung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG vor.

3.2.2. Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere zu berücksichtigen: die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9).

Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.

Nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Privat- und Familienleben nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.

Bei dieser Interessenabwägung sind - wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird - die oben genannten Kriterien zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 18.224/2007; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; 26.01.2006, 2002/20/0423).

3.2.2.1. Was einen allfälligen Eingriff in das Familienleben der beschwerdeführenden Parteien betrifft, lässt sich das Bundesverwaltungsgericht von nachstehenden Erwägungen leiten:

Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt (vgl. dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art8 Abs1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl EGMR 21.6.1988, Fall Berrehab, Appl 10.730/84 [Z21]; 26.5.1994, Fall Keegan, Appl 16.969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR 19.2.1996, Fall Gül, Appl 23.218/94 [Z32]). Ferner ist es nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können; die Familienbeziehung wird insbesondere nicht dadurch beendet, dass das Kind in staatliche Pflege genommen wird (vgl VfSlg 16.777/2003 mit Hinweis auf EGMR 25.2.1992, Fall Margareta und Roger Andersson, Appl 12963/87 [Z72] mwN; zu den Voraussetzungen für ein [potentielles] Familienleben zwischen einem Kind und dessen Vater siehe auch EGMR 15.9.2011, Fall Schneider, Appl 17.080/07 [Z81] mwN). Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art8 EMRK führen (vgl VfGH 28.2.2012, B1644/10 mit Hinweis auf EGMR 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl 50.435/99 sowie insbesondere EGMR 28.6.2011, Fall Nunez, Appl 55.597/09; VfGH 12.10.2016, E1349/2016).

Durch die gemeinsame Ausweisung bzw. Rückkehrentscheidung betreffend eine Familie wird nicht in das Familienleben der Fremden eingegriffen (VwGH 18.03.2010, 2010/22/0013; 19.09.2012, 2012/220143; 19.12.2012, 2012/22/0221; vgl. EGMR 09.10.2003, Fall Slivenko, NL 2003, 263).

Alle beschwerdeführenden Parteien sind im gleichen Maße von der aufenthaltsbeendenden Maßnahme betroffen, sodass im Fall der gemeinsamen Rückkehr kein Eingriff in das zwischen ihnen bestehende Familienleben zu erkennen ist.

Hinsichtlich der übrigen in Österreich aufhältigen (volljährigen) Söhne der Erstbeschwerdeführerin bzw. der Brüder des Zweitbeschwerdeführers ist anzumerken, dass der Schutzstatus von XXXX bereits rechtskräftig aberkannt wurde. Er ist ausreisepflichtig und es wurde gegen ihn ein mehrjähriges befristetes Einreiseverbot erlassen. Zumal auch gegenüber dem anderen Sohn bzw. Bruder, XXXX , ein Aberkennungsverfahren eingeleitet wurde, welches derzeit (erneut) beim BVwG anhängig ist, können die beschwerdeführenden Parteien folglich auch diesen betreffend nicht darauf vertrauen, dass er langfristig in Österreich verbleiben wird können.

Selbst wenn in Bezug auf letztgenannten ein Familienleben iSd Rechtsprechung aufgrund besonders enger Beziehungsintensität besteht, da dieser aktuell die Vormundschaft gegenüber dem minderjährigen Zweitbeschwerdeführer innehat und die beiden im gemeinsamen Haushalt leben. So ist anzumerken, dass alle drei Brüder wegen von ihnen verübten Straftaten jeweils mehrmonatige Haftstrafen zu verbüßen hatten. Die persönlichen Kontakte zueinander und zu den übrigen Familienangehörigen waren sohin auch in der Vergangenheit längerfristig eingeschränkt; was durch ihr delinquentes Verhalten bewusst in Kauf genommen wurde.

Die regelmäßigen Kontakte zur weiteren in Österreich aufhältigen Großmutter des Zweitbeschwerdeführers beschränken sich, da dieser nun wieder bei der Mutter, der Großmutter (mütterlicherseits) und seinem Bruder XXXX wohnt, lediglich auf regelmäßige Besuche; eine besonders enge Beziehung ist demnach nicht zu erblicken. Abgesehen davon müsste der Kontakt im Falle der Rückkehr auch nicht gänzlich abgebrochen werden, da dieser im Wege von modernen Telekommunikationsmittel aufrecht erhalten bleiben kann.

Da die beschwerdeführenden Parteien somit keine schützenswerten familiären Verbindungen im Bundesgebiet haben, stellen die ihnen gegenüber ergehenden Rückkehrentscheidungen keinen Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Familienlebens iSd Art. 8 EMRK dar. Die aufenthaltsbeendenden Maßnahmen greifen daher lediglich in ihr Privatleben ein.

3.2.2.2. Unter dem „Privatleben“ sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua. v. Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.

Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, in ÖJZ 2007, 852 ff.). Die zeitliche Komponente ist insofern wesentlich, weil – abseits familiärer Umstände – eine von Art. 8 EMRK geschützte Integration erst nach einigen Jahren im Aufenthaltsstaat anzunehmen ist (vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541).

Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 25.04.2018, Ra 2018/18/0187; 06.09.2017, Ra 2017/20/0209; 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072; 20.06.2017, Ra 2017/22/0037, jeweils mwN). Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen "kann" und somit schon allein auf Grund eines Aufenthaltes von weniger als drei Jahren von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. etwa VwGH 10.04.2019, Ra 2019/18/0058, mwN).

Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (VwGH 10.11.2015, 2015/19/0001; VwGH 26.03.2015, 2013/22/0303; VwGH 16.12.2014, 2012/22/0169; VwGH 19.11.2014, 2013/22/0270; VwGH 10.12.2013, 2013/22/0242).

Die "Zehn-Jahres-Grenze" in der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes spielt jedoch nur dann eine Rolle, wenn einem Fremden kein - massives - strafrechtliches Fehlverhalten vorzuwerfen ist. Hierbei kommt es ebenso auf den Zeitpunkt und die Art des jeweiligen Fehlverhaltens sowie das seither erfolgte Wohlverhalten an (vgl. VwGH 03.09.2015, Zl. 2015/21/0121; aber auch VwGH 10.11.2015, Zl. 2015/19/0001).

Art. 24 Abs. 2 GRC (der Art. 1 Satz 2 BVG über die Rechte von Kindern entspricht) normiert, dass das Kindeswohl bei allen Kindern betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Kindeswohl eine vorrangige Erwägung sein muss. Eine absolute Priorisierung ist damit gleichwohl nicht gefordert; im Einzelfall kann die volle Entfaltung auch zugunsten der (höheren) Schutzwürdigkeit anderer Interessen zurücktreten (Fuchs ins Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar (2014) Art 24 Rz 33).

3.2.2.2.1. Die Erstbeschwerdeführerin reiste im Juni 2007 ins Bundesgbiet ein und stellte in der Folge einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Mit Bescheid des ehemaligen BBA vom 17.09.2008 wurde ihrem Antrag in Bezug auf den Status der subsidiär Schutzberechtigten stattgegeben und ihr ebendieser wegen ihrer Erkrankung – Multipler Sklerose - zuerkannt. Am 21.11.2007 wurde der minderjährige Zweitbeschwerdeführer in Österreich geboren und ihm der subsidiäre Schutzstatus im Familienverfahren abgeleitet von der Mutter gewährt. Gleichfalls wurde auch der spätestens am 12.11.2015 in das Bundesgebiet einreisenden Drittbeschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigten wegen ihrer Tochter, der Erstbeschwerdeführerin, gewährt.

Die Erstbeschwerdeführerin hält sich demnach seit mehr als fünfzehn Jahren rechtmäßig in Österreich auf, integrative Schritte konnten aufgrund ihres Gesundheitszustandes allerdings keine gesetzt werden. Es war ihr im Konkreten nicht möglich, die deutsche Sprache zu erlernen, sonstige Bildungsmaßnahmen zu setzen oder einer Erwerbstätigkeit bzw. ehrenamtlichen Tätigkeit nachzugehen. Ihre sozialen Kontakte konzentrieren sich auf die Mitglieder der Kernfamilie. Inzwischen befindet sich die Erstbeschwerdeführerin in der höchsten Pflegestufe (7), sie ist rollstuhlpflichtig bzw. bettlägerig und auf ständige Betreuung angewiesen. Sie wird von ihrer Mutter, der Drittbeschwerdeführerin, gepflegt.

Da die Betreuung durch die ebenso ausreisepflichtige Mutter im Herkunftsland fortgesetzt werden kann und sonstige (negative) Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Erstbeschwerdeführerin in Zusammenhang mit einer Rückkehr fallgegenständlich nicht erkennbar sind, würde die aufenthaltsbeendende Maßnahme folglich keine wesentliche Änderung in Bezug auf die – ohnedies sehr eingeschränkte - Lebensführung der Erstbeschwerdeführerin mit sich bringen. Eine Besserung ihres Gesundheitszustandes ist krankheitsbedingt nicht zu erwarten.

Darüber hinaus hat die Erstbeschwerdeführerin (weiterhin) starke Anknüpfungspunkte zu ihrer Heimat, zumal sie den Großteil ihres Lebens dort verbracht hat, und daher zweifelsfrei mit den dortigen sprachlichen und kulturellen Gepflogenheiten vertraut ist. Ein Teil der Angehörigen der Erstbeschwerdeführerin befindet sich zudem (wieder) im Herkunftsstaat bzw. ist dorthin ausreisepflichtig und hinsichtlich des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers scheint (aus unten angeführten Gründen) eine Rückkehrentscheidung jedenfalls dringend geboten.

Schließlich muss auch berücksichtigt werden, dass der Verbleib der Erstbeschwerdeführerin im Bundesgebiet nicht unerhebliche Kosten für die Allgemeinheit in Österreich verursachen würde, zumal sie dadurch das – aktuell ohnehin stark belastete - österreichische Gesundheitssystem weiterhin in Anspruch nehmen würde, obwohl dies im Konkreten nicht mehr erforderlich ist, da in der Russischen Föderation mittlerweile entsprechende und der Erstbeschwerdeführerin zugängliche Leistungen zur Verfügung stehen.

In einer Gesamtbetrachtung ist somit davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes der Erstbeschwerdeführerin im Bundesgebiet ihr – trotz langjährigen Aufenthalts nur sehr schwach ausgeprägtes - persönliches Interesse am Verbleib überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung keine Verletzung des Art. 8 EMRK vorliegt.

3.2.2.2.2. Hinsichtlich des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers war zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, dass er im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen ist. Er spricht die deutsche Sprache besser als Tschetschenisch und besuchte (entsprechend der allgemeinen Schulpflicht) verschiedene Schulen in Österreich. In Hinblick auf den Schulbesuch muss jedoch relativierend festgehalten werden, dass seine Zeugnisse keine besondere Mühewaltung seinerseits nahelegen und sein Verhalten in der Schule als „nicht zufriedenstellend“ (Zeugnis vom 05.02.2021) und „wenig zufriedenstellend“ (Zeugnis vom 10.07.2020) beurteilt wurden, womit eine Integration im schulischen Umfeld als widerlegt anzusehen ist. Aufgrund der Dauer seines Aufenthalts kann zwar von einem Freundeskreis ausgegangen werden, nennenswerte soziale Anknüpfungspunkte außerhalb des kriminellen Milieus sind aber keine erkennbar.

Den privaten Anknüpfungspunkten des Zweitbeschwerdeführers ist zudem sein delinquentes Verhalten gegenüberzustellen.

Festzuhalten ist, dass der Zweitbesschwerdeführer bereits vor seinem vierzehnten Lebensjahr (wiederholt) straffällig in Erscheinung getreten ist, wobei er unter anderem als Anführer einer Bande Minderjähriger, die schwere Raubstraftaten verwirklicht hatte, angezeigt wurde und dabei sogar in den Fokus medialen Interesses rückte. Eine strafgerichtliche Verurteilung blieb damals mangels Strafmündigkeit zwar aus, die von ihm verwirklichten Straftaten ließen aber dennoch einen dem Zweitbeschwerdeführer innewohnenden Charaktermangel und eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber der körperlichen und geistigen Unversehrtheit seiner Mitmenschen und deren Rechte auf Eigentum erkennen. Dass das von ihm gesetzte Verhalten dazu führte, das subjektive Sicherheitsgefühl der österreichischen Gesamtbevölkerung herabzusetzen, zeigte sich zudem darin, dass – wie bereits von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid angeführt – sogar aus medialen Berichten hervorgeht, dass besorgte Eltern der Opfer eine „Bürgerwehr“ ins Leben riefen, um somit der Gefahr, die unter anderem vom Zweitbeschwerdeführer ausging, zu begegnen.

Im Rahmen der Einvernahme vor dem BFA am 10.01.2022 verantwortete sich der Zweitbeschwerdeführer hierzu auch nur wenig einsichtig bzw. erklärte er dabei lediglich, dass sein Verhalten „dumm“ gewesen sei. Trotz der in der Beschwerde aufgestellten Behauptung, dass im Hinblick auf seine strafrechtlichen Auffälligkeiten ein Änderungswille vorliege, schreckte er in der Folge aber nicht davor zurück, weitere Straftaten zu begehen; was – aufgrund nunmehriger Strafmündigkeit – zu zwei rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen führte.

So wurde der Zweitbeschwerdeführer mit Urteil des Landedesgericht XXXX vom 29.06.2022, HV 29/2002y, wegen des Verbrechens des Raubes sowie wegen der Vergehen der Nötigung, der Körperverletzung, des unbefugten Waffenbesitzes und der gefährlichen Drohung zu einer 18-monatigen Freiheitsstrafe (davon 12 Monate bedingt nachgesehen) verurteilt. Zusätzlich wurde gegen ihn mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 25.08.2022, HV 62/2022a, wegen des Verbrechens der Erpressung eine (bedingt nachgesehene) dreimonatige Freiheitsstrafe verhängt.

Die Vielzahl der diesen Verurteilungen zugrundeliegenden Rechtsverstößen, sowie die Brutalität und Rücksichtslosigkeit, mit der der Zweitbeschwerdeführer dabei gegen seine Opfer vorging, erweckte – in Zusammenhang mit seiner kriminellen Vorgeschichte –augenscheinlich den Eindruck eines völlig enthemmten Gewohnheitskriminellen, wobei die von ihm ausgehende Skrupellosigkeit insbesondere auch durch den Besitz eines Elektroschockers zum Ausdruck kam, welchen der Zweitbeschwerdeführer bei der Begehung seiner Straftaten zum Einsatz brachte, um somit seinen Schädigung- und Bereicherungswillen durchzusetzen. Dass er auch schon in der Vergangenheit nicht vor dem Einsatz von Waffen (damals: Schlagring) zurückschreckte, um seine Opfer zu drangsalieren, wird in diesem Kontext ebenfalls angemerkt. Hervorzugheben ist zudem, dass in Zusammenhang mit den gemeinsam mit Mittätern begangenen Raubhandlungen dem Zweitbeschwerdeführer (erneut) eine führende Rolle zukam; womit auch eine dahingehende Verantwortung, wonach er lediglich in eine „Clique reingerutscht“ sei, welche ihn negativ beeinflusst hätte, ausgeschlossen werden kann.

Dass der Zweitbeschwerdeführer durch das erstmalige Verspüren des Haftübels nunmehr einen Gesinnungswandel erlebt hätte, ist fallgegenständlich ebenso auszuschließen. So gab er im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 21.07.2022 an, dass die Straftaten schlicht „passiert“ seien. Die Frage, ob er schon Schritte gesetzt habe, damit so etwas nicht mehr verkomme, wurde von ihm sogar ausdrücklich verneint. Eine innere Umkehr und Einsichtsfähigkeit ist demnach nicht zu erblicken. Zudem wird angemerkt, dass sich der Zweitbeschwerdeführer während seiner Einvernahme zum Teil sehr anmaßend verhielt und er zum Schluss der Verhandlung den Behördenvertreter lautstark beschimpfte; weshalb der Zweitbeschwerdeführer von den anwesenden Justizwachebeamten zurückgehalten und vom Weiterreden abgehalten werden musste. Der Zweitbeschwerdeführer hat während seiner mündlichen Einvernahme sohin gewiss keinen positiven Eindruck hinterlassen, und es wurde seine völlige Indifferenz gegenüber den österreichischen Gesetzen und der hiesigen Werteordnung dadurch bloß untermauert.

Schließlich wird noch auf mehrere Verurteilungen auf verwaltungsstrafrechtlicher Ebene, insbesondere wegen Anstandsverletzungen gegenüber Polizisten, hingewiesen, sowie den Umstand, dass bereits wenige Monate nach der Haftentlassung des Zweitbeschwerdeführers zwei weitere Straftaten zur Anzeige gebracht wurden; wodurch – selbst wenn in diesem Kontext die Unschuldsvermutung gilt – die Annahme, dass von ihm auch weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, jedenfalls bestärkt wird.

Insgesamt ist das Privatleben des Zweitbeschwerdeführers durch seine anhaltende Kriminalität erheblich getrübt. Negativ anzumerken ist dabei auch, dass dem Beschwerdeführer die möglichen (fremdenrechtlichen) Konsequenzen seines Verhaltens auch durchaus bewusst waren, zumal gegenüber seinem Vater und seinen beiden älteren Brüdern, wegen von ihnen begangener Straftaten, ebenso (teilweise) rechtskräftige Aberkennungsentscheidungen getroffen wurden. Dennoch hielt dies den Zweitbeschwerdeführer nicht davor ab, dem Negativvorbild seiner männlichen Familienangehörigen zu folgen.

Da der Zweitbeschwerdeführer fortwährend zum Teil schwere Straftaten begangen hat und eine künftige Besserung seines Verhaltens aus jetziger Sicht keinesfalls absehbar ist, stellt die Fortsetzung seines Aufenthalts weiterhin eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Im Rahmen der vorzunehmenden Interessensabwägung ist aufgrund obiger Erwägungen sohin davon auszugehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes des Zweitbeschwerdeführers im Bundesgebiet sein persönliches Interesse am Verbleib klar überwiegt.

Zwar handelt es sich beim Zweitbeschwerdeführer um einen erst XXXX jährigen Jugendlichen, der noch nie in der Russischen Föderation aufhältig war und der über keine bzw. nur schlecht ausgebildete Sprachkenntnisse der Russischen bzw. Tschetschenischen Sprache verfügt. Im Hinblick auf die im Herkunftsland aufhältigen Angehörigen und die aufgrund gemeinsamer Ausreise gewahrte Familieneinheit kann ihm hinsichtlich allfälliger anfänglicher Schwierigkeiten im Herkunftsland jedoch hinreichende Unterstützung geboten werden und es ist somit eine dortige Eingliederung mit keinen erheblichen Hindernissen verbunden. Auch unter Berücksichtigung des Kindeswohls ist die vorliegende Rückkehrentscheidung sohin als verhältnismäßig zu bewerten bzw. stellt diese keine Verletzung des Art. 8 EMRK dar.

3.2.2.2.3. Die im November 2015 ins Bundesgebiet einreisende Drittbeschwerdeführerin hält sich seit sieben Jahren rechtmäßig in Österreich auf. Ihr Aufenthalt im Bundesgebiet dient jedoch – ihren Angaben im Zuge der Einvernahme vom 22.06.2022 zufolge - primär der Betreuung ihrer Tochter („Ich bin immer bei ihr“; „es dreht sich alles um sie herum“), welche – wie bereits umfassend gewürdigt - auch im Herkunftsland fortgesetzt werden kann. Abseits ihrer Familienangehörigen verfügt die Drittbeschwerdeführerin ferner über keine sozialen Kontakte zu hier aufhältigen Personen („ich bin selbst komplett abgeschottet von der Welt. Ich sehe niemanden, meine Kommunikation ist auf Null“) und trotz mehrjährigen Aufenthalts spricht sie nur wenige Worte Deutsch. Sie bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung.

Den nur sehr schwach ausgeprägten privaten Anknüpfungspunkten zu Österreich steht gegenüber, dass die Drittbeschwerdeführerin den überwiegenden Teil ihres Lebens in Tschetschenien verbracht hat und dort weiterhin zwei ihrer (volljährigen) Kinder und deren Familienangehörige. beheimatet sind.

Selbst wenn sich die Drittbeschwerdeführerin bislang nichts zu Schulden kommen lassen hat, so darf im Hinblick auf die öffentlichen Interessen an ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass ihr Aufenthalt gemeinsam mit dem der Tochter eine finanzielle Belastung für den österreichischen Staat darstellt. Hinzu kommt, dass die Ausreise ihres Enkels, aufgrund der von ihm ausgehenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit – nach Auffassung des Gerichts – jedenfalls als geboten erscheint.

Insofern kann die Wahrung der Familieneinheit aber auch nur durch die gemeinsame Ausreise verwirklicht werden kann; und ist diese sohin für alle Beteiligten sogar die vermeintlich bevorzugte Vorgangsweise. Dass der massiv straffällige Zweitbeschwerdeführer allein wegen der kranken Mutter in Österreich bleiben darf, welche - ihrerseits nicht unerhebliche Kosten für den Österreichischen Staat verursacht, obwohl eine Behandlung im Herkunftsland mittlerweile möglich und zumutbar ist, erscheint in einer Gesamtbetrachtung demgegenüber nicht als verhältnismäßig.

Unter Berücksichtigung all dieser Umstände erscheint auch die Drittbeschwerdeführerin betreffend eine Rückkehrentscheidung für zulässig.

3.2.2.3. Die Erlassung von Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 FPG stellen sohin keine Verletzung der beschwerdeführenden Parteien in ihrem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG iVm Art 8 EMRK dar. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen, wonach im gegenständlichen Fall Rückkehrentscheidungen auf Dauer unzulässig wären.

3.2.3. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das Bundesamt mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 FPG in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.

Die Abschiebung Fremder in einen Staat ist gemäß § 50 Abs. 1 FPG unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der EMRK oder das Protokoll Nr. 6 oder 13 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für Sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

Wie bereits unter Spruchpunkt I. dargelegt, ergibt sich im Fall der beschwerdeführenden Parteien keine derartige Gefährdung.

Gemäß § 50 Abs. 2 FPG ist eine Abschiebung auch dann unzulässig, wenn dem Fremden die Flüchtlingseigenschaft zukommen sollte; wofür fallgegenständlich ebenso keine Anhaltspunkte hervorgekommen sind.

Gemäß § 50 Abs. 3 FPG ist eine Abschiebung schließlich unzulässig, wenn die Empfehlung einer vorläufigen Maßnahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ihr entgegenstehe. Eine solche vorläufige Maßnahme wurde in Ihrem Fall nicht empfohlen.

Es ist somit auszusprechen, dass im Falle der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung sowie bei Vorliegen der in § 46 Abs. 1 Z 1 bis 4 FPG genannten Voraussetzungen Ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist.

3.2.4. Gemäß § 55 Abs. 1 FPG wird mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 leg. cit. zugleich eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 leg. cit. 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, jene Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen. Bei Überwiegen besonderer Umstände kann die Frist zur freiwilligen Ausreise einmalig mit einem längeren Zeitraum als die vorgesehenen 14 Tage festgesetzt werden (§ 55 Abs. 3 leg. cit.).

Da derartige Umstände die beschwerdeführenden Parteien betreffend nicht behauptet wurden und auch im Ermittlungsverfahren nicht hervorgekommen sind, ist die Frist zu Recht mit 14 Tagen festgelegt.

Aus den angeführten Gründen waren daher auch die Beschwerden hinsichtlich der Spruchpunkte III. - VI. der angefochtenen Bescheide abzuweisen.

3.3. Zu Spruchpunkt VII. betreffend den Zweitbeschwerdeführer – Erlassung eines Einreiseverbotes:

3.3.1. Gemäß § 53 Abs. 1 FPG kann mit einer Rückkehrentscheidung vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.

Gemäß §53 Abs. 2 FPG ist ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1, vorbehaltlich des Abs. 3, für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots hat das Bundesamt das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen mit einzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Drittstaatsangehörige

[…]

Gemäß § 53 Abs. 3 FPG ist ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 für die Dauer von höchstens zehn Jahren, in den Fällen der Z 5 bis 9 auch unbefristet zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt. Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat insbesondere zu gelten, wenn

1. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder mindestens einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist;

2. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht wegen einer innerhalb von drei Monaten nach der Einreise begangenen Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden ist;

3. ein Drittstaatsangehöriger wegen Zuhälterei rechtskräftig verurteilt worden ist;

4. ein Drittstaatsangehöriger wegen einer Wiederholungstat oder einer gerichtlich strafbaren Handlung im Sinne dieses Bundesgesetzes oder des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes rechtskräftig bestraft oder verurteilt worden ist;

5. ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist;

6. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige einer kriminellen Organisation (§ 278a StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (§ 278b StGB) angehört oder angehört hat, terroristische Straftaten begeht oder begangen hat (§ 278c StGB), Terrorismus finanziert oder finanziert hat (§ 278d StGB) oder eine Person für terroristische Zwecke ausbildet oder sich ausbilden lässt (§ 278e StGB) oder eine Person zur Begehung einer terroristischen Straftat anleitet oder angeleitet hat (§ 278f StGB);

7. auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Drittstaatsangehörige durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet;

8. ein Drittstaatsangehöriger öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt oder

9. der Drittstaatsangehörige ein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung hat und im Hinblick auf deren bestehende Strukturen oder auf zu gewärtigende Entwicklungen in deren Umfeld extremistische oder terroristische Aktivitäten derselben nicht ausgeschlossen werden können, oder auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass er durch Verbreitung in Wort, Bild oder Schrift andere Personen oder Organisationen von seiner gegen die Wertvorstellungen eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft gerichteten Einstellung zu überzeugen versucht oder versucht hat oder auf andere Weise eine Person oder Organisation unterstützt, die die Verbreitung solchen Gedankengutes fördert oder gutheißt.

[…]

3.3.2. Die belangte Behörde erließ gegen den Zweitbeschwerdeführer ein auf die Dauer von vier Jahren und 6 Monaten befristetes Einreiseverbot und stützte sich dabei auf die Generalklausel des Abs. 2 leg. cit. Begründend führte sie dazu aus, dass im Konkreten wegen fehlender rechtskräftiger Verurteilungen mangels Strafmündigkeit zwar keine der demonstrativ aufgezählten Ziffern der angeführten Gesetzesbestimmung erfüllt seien, angesichts der Vielzahl an erheblichen Rechtsverstößen und dem sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbild des Zweitbeschwerdeführers von ihm jedoch unzweifelhaft eine Gefährdung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgehe und daher sein Aufenthalt den in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderlaufe.

Obwohl der Zweitbeschwerdeführer in seiner Beschwerdeschrift beteuerte, sich künftig wohlverhalten zu wollen, trat er nach Bescheiderlassung erneut straffällig in Erscheinung und er wurde aufgrund nunmehriger Strafmündigkeit auch rechtskräftig verurteilt: Mit Urteil des Landedesgericht XXXX vom 29.06.2022, HV 29/2002y, wurde er unter anderem wegen des Verbrechens des Raubes zu einer 18-monatigen Freiheitsstrafe (davon 12 Monate bedingt nachgesehen) verurteilt und mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 25.08.2022, HV 62/2022a, folgte eine (bedingt nachgesehene) dreimonatige Freiheitsstrafe wegen des Verbrechens der Erpressung.

Insofern erfüllt der Zweitbeschwerdeführer nun aber den Tatbestand des § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG (in dreifacher Hinsicht); weshalb seinen Aufenthalt betreffend (sogar) das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit indiziert wird.

Unbeschadet dessen, ist bei der Stellung der für jedes Einreiseverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose das Gesamt(fehl)verhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in § 53 Abs. 3 FPG umschriebene Annahme gerechtfertigt ist. Bei dieser Beurteilung kommt es demnach nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf das diesen zugrundeliegende Fehlverhalten, die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild an (vgl. VwGH 19.02.2013, Zl. 2012/18/0230).

Wie bereits in Zusammenhang mit der Erlassung der Rückkehrentscheidung in 3.2.2.2.f näher ausgeführt, ist der Zweitbeschwerdeführer vor Erreichen des vierzehnten Lebensjahres wiederholt straffällig in Erscheinung getreten, wobei die damals von ihm verübten Taten keinesfalls als Bagatelldelikte zu qualifizieren sind. Später folgten die angeführten strafgerichtlichen Verurteilungen, denen insgesamt drei Verbrechen und sechs Vergehen zu Grunde lagen, die der Zweitbeschwerdeführer über einen Zeitraum von mehreren Monaten beging. Allein die Vielzahl der von ihm begangenen Straftaten lässt – trotz seines jungen Alters- auf eine hohe kriminelle Energie schließen und es weist die Art und Weise der Begehung dieser Straftaten – gewaltsam und zum Teil unter Verwendung einer Waffe – zudem auf eine besondere Skrupellosigkeit gegenüber seinen Opfern hin. Darüber hinaus war beim Zweitbeschwerdeführer auch keinerlei Unrechtsbewusstsein oder Reuegefühl zu erkennen und es zeigt sich seine völlige Gleichgültigkeit gegenüber der österreichischen Werte- und Rechtsordnung auch in der Verletzung mehrerer Verwaltungsbestimmungen.

Zumal der Zweitbeschwerdeführer erst kürzlich aus der Strafhaft entlassen wurde, kann ihn betreffend, keineswegs von einem ausreichend langen Zeitraum des Wohlverhaltens seit letztmaliger Tatbegehung gesprochen werden und es ist in diesem Zusammenhang erneut anzumerken, dass weder die (zum Teil in Rechtskraft erwachsenen) aufenthaltsbeendenden Maßnahmen seinen Vater und die beiden älteren Brüder betreffend (wegen von diesen verübter Straftaten) noch das gegen den Zweitbeschwerdeführer selbst eingeleitete Aberkennungsverfahren bei ihm einen Gesinnungswandel herbeigeführt haben.

All diese Umstände rechtfertigen sohin nach Ansicht des BVwG die Annahme, dass ein Verbleib des Beschwerdeführers im Bundesgebiet weiterhin eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt, weshalb eine Gefährlichkeitsprognose nicht zu seinen Gunsten ausfallen kann.

Bei der Festsetzung der Dauer eines Einreiseverbotes ist immer eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. Dabei ist das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen zu beurteilen, aber auch darauf abzustellen, wie lange die von ihm ausgehende Gefährdung zu prognostizieren ist. Außerdem ist auf seine privaten und familiären Interessen Bedacht zu nehmen (VwGH vom 04.04.2019, Ra 2019/21/0009).

Was die privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers in Österreich betrifft, bleibt (ebenso) auf die obangeführten Ausführungen unter 3.2.2.2. zu verweisen. Die im Bundesgebiet vorhandenen, familiären und privaten Bindungen müssen fallgegenständlich gegenüber den öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung und der Verhinderung weiterer Straftaten zurücktreten, weshalb das von der belangten Behörde verhängte Einreiseverbot dem Grunde nach als rechtskonform erwies. Dass der Beschwerdeführer in anderen Mitgliedstaaten der EU familiäre Angehörige oder sonstige enge Beziehungen hat, wurde zu keiner Zeit behauptet.

Wie bereits angemerkt, stützte sich die belangte Behörde bei der Erlassung des Einreiseverbotes in der Dauer von vier Jahren und sechs Monaten auf § 53 Abs. 2. leg cit. Diese Bestimmung lässt ein Einreiseverbot von bis zu fünf Jahren zu. Infolge der angeführten strafgerichtlichen Verurteilungen erfüllt der Zweitbeschwerdeführer inzwischen aber den Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG; was die Verhängung eines Einreiseverbotes in der Dauer von bis zu zehn Jahren ermöglicht.

Aufgrund des - sich aus obigen Erwägungen ergebenden - Persönlichkeitsbildes des Zweitbeschwerdeführers und der von ihm ausgehenden Gefahr für besonders geschützte Rechtsgüter, kann nach Auffassung des BVwG nicht mit einem Einreiseverbot in der Dauer von vier Jahren und sechs Monaten das Auslangen gefunden werden. Vielmehr erscheint - mangels Verantwortungsübernahme und damit einhergehender erhöhter Rückfallgefahr- unter Anwendung eines Rahmens von bis zu 10 Jahren gemäß § 53 Abs. 3 FPG die Verhängung eines auf fünf Jahre befristeten Einreiseverbotes – auch unter Berücksichtig seiner persönlichen und familiären Interessen in Österreich - angemessen sowie erforderlich. Von einem länger andauernden Einreiseverbot wurde lediglich wegen des noch jungen Alters Abstand genommen werden.

Die Beschwerde war daher in diesem Punkt abzuweisen und das Einreiseverbot mit fünf Jahren festzulegen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

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