BVwG I421 2235437-1

BVwGI421 2235437-18.3.2021

AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §52
VwGVG §24 Abs2 Z1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:I421.2235437.1.00

 

Spruch:

 

 

I421 2235437-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Martin STEINLECHNER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Bosnien, vertreten durch die BBU GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4/4. Stock, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX vom XXXX 2020, Zl. XXXX zu Recht erkannt:

A)Der Beschwerde wird stattgegeben, der angefochtene Bescheid behoben und XXXX gemäß §§ 54 Abs 1 Z 1, 55 Abs 1 und 58 Abs 2 AsylG der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

B)Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein bosnischer Staatsangehöriger, stellte am XXXX 2019 persönlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde, BFA) einen Antrag auf Neuausstellung einer Aufenthaltsberechtigung plus gemäß § 55 Abs 1 AsylG oder § 56 Abs 1 AsylG.

2. Am XXXX 2019 erfolgte dazu vor der belangten Behörde die niederschriftliche Einvernahme des BF.

3. Mit Bescheid vom XXXX 2020, Zl. XXXX , wurde der Antrag des BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK vom XXXX 2019 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters erließ das BFA gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II.) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina zulässig sei (Spruchpunkt III.). Ihm wurde eine Frist von 14 Tagen für seine freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt IV.).

4. Gegen diesen Bescheid richtet sich die durch die damalige Rechtsvertretung des BF rechtzeitig erhobene vollumfängliche Beschwerde vom XXXX 2020. Im Wesentlichen wurde ausgeführt, dass der BF in Österreich geboren und dort aufgewachsen sei sowie zuerst die Grundschule, dann die Mittelschule und schließlich auch die Handelsschule besucht habe. Der illegale Aufenthalt könne ihm nicht angelastet werden, da er minderjährig gewesen sei und sich nicht um seinen Aufenthalt habe kümmern können. Weiters liege eine Einstellungszusage vor, auch sei der BF unbescholten und habe sich keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung zuschulden kommen lassen. Sein ganzes Leben habe er in Österreich verbracht und sich einen großen Freundeskreis aufgebaut. Von seinem Onkel, bei dem er lebe, sei er finanziell abhängig, zumal auch die Eltern des BF derzeit arbeitslos seien. In Bosnien und Herzegowina hingegen habe er keine Freunde, keine Arbeit und sei der Zugang zu den sozialen Leistungen fast unmöglich, da er seit achtzehn Jahren nicht dort lebe. In Anbetracht der konkreten Umstände hätte die belangte Behörde zum Ergebnis kommen müssen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nicht zulässig und dem BF eine Aufenthaltsberechtigung plus zu erteilen sei. Beantragt werde daher, der Beschwerde stattzugeben und die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären, dem BF eine Aufenthaltsberechtigung plus zu erteilen sowie eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.

5. Mit Schriftsatz vom XXXX 2020, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am XXXX 2020, legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.

I. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der ledige, kinderlose BF ist bosnischer Staatsangehöriger, dessen Identität feststeht.

Er wurde am XXXX in XXXX geboren und wuchs in der Folge im Bundesgebiet auf, wo er auch die Volksschule, die Neue Mittelschule sowie mit XXXX auch die Handelsschule positiv zum Abschluss brachte. Er spricht muttersprachlich Deutsch, daneben Bosnisch und auch Serbisch. Er verfügte zu keinem Zeitpunkt über einen Aufenthaltstitel für die Republik Österreich.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er ging zu keinem Zeitpunkt einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung im Bundesgebiet nach und ist aktuell nicht kranken- bzw. sozialversichert. Es liegt eine aufschiebend bedingte Einstellungszusage der XXXX vom XXXX in Zusammenhang mit einer Beschäftigung als Eisenbieger vor.

Der BF war bzw. ist ab dem 15.10.2003 abgesehen vom Zeitraum 12.03.2005 bis 30.05.2007 durchgängig im Bundesgebiet mit Hauptwohnsitz erfasst. In der Zeit vom XXXX 2018 bis XXXX 2019 lebte er jedoch mit seinen Eltern in Bosnien.

Im Bundesgebiet lebt ein Onkel des BF, in dessen Wohnung der BF auch Unterkunft hält und welcher den BF auch finanziell unterstützt. Der Onkel selbst ist melderechtlich mit Hauptwohnsitz seit 21.08.2020 an einer anderen Adresse als der BF erfasst. Weiters sind im Bundesgebiet eine Tante, eine Cousine und deren Mann sowie drei weitere Onkel des BF aufhältig. In Österreich verfügt der BF zudem über einen entsprechenden Freundes- und Bekanntenkreis.

In XXXX , Bosnien, leben die Eltern des BF, auch seine Großmutter sowie andere weitere Verwandte sind in Bosnien aufhältig

Der BF ist im Bundesgebiet strafgerichtlich unbescholten.

Er ist keiner strafrechtlichen oder politischen Verfolgung in Bosnien ausgesetzt.

2. Beweiswürdigung:

Der erkennende Einzelrichter des Bundesverwaltungsgerichtes hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung über die Beschwerde folgende Erwägungen getroffen:

2.1. Zum Verfahrensgang

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichts.

2.2. Zum Sachverhalt:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Einvernahme des BF, in den bekämpften Bescheid sowie in die Beschwerde. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister, dem Zentralen Fremdenregister sowie ein Sozialversicherungsdatenauszug zur Person des BF wurden ergänzend zum vorliegenden Akt eingeholt, ebenso ein Auszug aus dem Zentralen Melderegister zum Onkel des BF.

Die Identität und Staatsangehörigkeit des BF ergibt sich aus dem der belangten Behörde in Vorlage gebrachten bosnischen Reisepass mit der Dokumentennummer XXXX , welcher auch als Kopie dem Verwaltungsakt beiliegt. Der Umstand, dass der BF ledig sowie kinderlos ist, war den Ausführungen desselben vor der belangten Behörde zu entnehmen (Protokoll vom XXXX 2019, S 4), zudem vermerkte der BF auch bereits im Zuge seiner Antragstellung, ledig zu sein.

Hinsichtlich seiner Geburt am XXXX in XXXX brachte der BF die entsprechende Geburtsurkunde in Vorlage, ebenso Zeugnisse in Zusammenhang mit seinen Schulbesuchen. Dass der BF muttersprachlich Deutsch spricht, ergibt sich einerseits aus dem Ausführungen des BF vor der belangten Behörde (Protokoll vom XXXX 2019, S 5) in Zusammenschau mit den Schulzeugnissen sowie dem Umstand, dass die gesamte niederschriftliche Einvernahme ohne Dolmetscher durchgeführt wurde. Der BF gab vor der belangten Behörde selbst zu Protokoll, auch Bosnisch und Serbisch zu sprechen (Protokoll vom XXXX 2019, S 5). Die Feststellung, wonach der BF noch nie über ein Aufenthaltsrecht verfügt hat, basiert auf den eigenen Ausführungen des BF im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahme (Protokoll vom XXXX 2019, S 2), andererseits auch auf dem amtswegig eingeholten Auszug aus dem Zentralen Fremdenregister.

Die Feststellung zum Gesundheitszustand gründet ebenfalls auf den eigenen Ausführungen des BF vor der belangten Behörde (Protokoll vom XXXX 2019, S 2) und haben sich aus dem unstrittigen Akteninhalt keine gegenteiligen Hinweise ergeben. Ob des Gesundheitszustandes und des erwerbsfähigen Alters des BF war auch auf dessen Arbeitsfähigkeit zu schließen. Dass der BF zu keinem Zeitpunkt einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen ist, war einem Sozialversicherungsdatenauszug zu seiner Person zu entnehmen, zudem führte der BF auch selbst an, in Österreich nur in der Schule in der Übungsfirma gearbeitet zu haben (Protokoll vom XXXX 2019, S 4). Der Sozialversicherungsdatenauszug belegt des Weiteren, dass der BF aktuell nicht kranken- bzw. sozialversichert ist und brachte der BF auch keine sonstigen Urkunden in Zusammenhang mit einer etwaigen Versicherung in Vorlage. Im Rahmen seiner Beschwerdeerhebung legte der BF die aufschiebend bedingte Einstellungszusage der XXXX vor.

Hinsichtlich der melderechtlichen Erfassung im Bundesgebiet bleibt auf einen Auszug aus dem Zentralen Melderegister zur Person des BF zu verweisen. Der Umstand, dass der BF vom XXXX 2018 bis XXXX 2019 mit seinen Eltern in Bosnien gelebt hat, war den Ausführungen desselben vor der belangten Behörde zu entnehmen (Protokoll vom XXXX 2019, S 2 & S 5).

Die Feststellung, wonach der BF in einer Wohnung seines Onkels lebt, ist durch einen Auszug aus dem Zentralen Melderegister belegt. Dass er dort kostenlos wohnen darf und auch finanzielle Unterstützung durch den Onkel erfährt, war den Ausführungen des BF vor der belangten Behörde zu entnehmen (Protokoll vom XXXX 2019, S 4) und stellt sich dies in Ermangelung einer Erwerbstätigkeit für den erkennenden Richter auch als schlüssig dar. Aus dem Beschwerdevorbringen geht hervor, dass – im Gegensatz zu den Angaben des BF vor der belangten Behörde (Protokoll vom XXXX 2019, S 4) – eine finanzielle Unterstützung des BF durch seine Eltern ob der eingetretenen Arbeitslosigkeit nicht mehr erfolgt. Dem amtswegig eingeholten Auszug aus dem Zentralen Melderegister zur Person seines Onkels war zu entnehmen, dass dieser seit 21.08.2020 nicht mehr an derselben Adresse wie der BF mit Hauptwohnsitz erfasst ist. Die Feststellung hinsichtlich der in Österreich lebenden Verwandten basiert auf den Angaben des BF im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahme (Protokoll vom XXXX 2019, S 4). Zumal der BF in Österreich aufgewachsen ist und die Schule besucht hat, steht für den erkennenden Richter auch ohne jeglichen Zweifel fest, dass dieser über einen entsprechenden Freundes- und Bekanntenkreis verfügt, wie der BF zudem selbst vor der belangten Behörde dargelegt hat (Protokoll vom XXXX 2019, S 5).

Dass die Eltern, Großmutter sowie andere weitere Verwandte des BF in Bosnien leben, war ebenfalls den Ausführungen des BF vor der belangten Behörde zu entnehmen (Protokoll vom XXXX 2019, S 4). Ob den Angaben des BF, wonach er in Österreich viel mehr Freunde als in Bosnien habe (Protokoll vom XXXX 2019, S 5), konnte darauf geschlossen werden, dass er auch in Bosnien Freundschaften pflegt.

Die strafrechtliche Unbescholtenheit des BF ist einem Strafregisterauszug vom XXXX 2021 zu entnehmen.

Der BF antwortete auf die Frage der belangten Behörde, ob er in seiner Heimat strafrechtlich oder politisch verfolgt werde, mit „nein“. Etwaige Befürchtungen in Zusammenhang mit einer Rückkehr nach Bosnien bezogen sich ausschließlich auf seinen langen Aufenthalt in Österreich und den Umstand, in Bosnien keine Perspektiven zu haben bzw. in Armut zu leben (Protokoll vom XXXX 2019, S 5).

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 2 Abs 4 Z 1 FPG gilt als Fremder, wer die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitzt. Gemäß § 2 Abs 4 Z 10 FPG gilt ein Fremder, der nicht EWR-Bürger oder Schweizer Bürger ist, als Drittstaatsangehöriger.

Der BF als Staatsangehöriger von Bosnien ist Drittstaatsangehöriger und folglich Fremder iSd. soeben angeführten Bestimmung.

A) Zu Stattgabe der Beschwerde

3.1. Rechtslage

Gemäß § 55 Abs 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist (Ziffer 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird (Ziffer 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs 1 Z 1 vor, ist gemäß § 55 Abs 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.

Entsprechend § 58 Abs 13 AsylG begründen Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 kein Aufenthalts- oder Bleiberecht. Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 und 57 stehen der Erlassung und Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht entgegen. Sie können daher in Verfahren nach dem 7. und 8. Hauptstück des FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten.

Gemäß Art 8 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs (Abs 1). Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist (Abs 2).

Der mit „Schutz des Privat- und Familienlebens“ titulierte § 9 BFA-VG lautet:

§ 9 (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

[…]

3.2. Anwendung der Rechtslage auf den gegenständlichen Fall

Es gilt nun zu prüfen, ob eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG einen zulässigen Eingriff in das Recht des BF auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt (Art 8 Abs 1 und 2 EMRK).

Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in § 9 Abs 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren sowie die Frage zu berücksichtigen, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (vgl. VfSlg. 18.224/2007, 18.135/2007; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423).

Nach der Rechtsprechung des EGMR garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (z.B. eine Ausweisungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. EGMR 8.3.2008, Nnyanzi v. The United Kingdom, Appl. 21.878/06; 04.10.2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 09.10.2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.06.2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554).

Bei der Beurteilung der Rechtskonformität von behördlichen Eingriffen ist nach ständiger Rechtsprechung des EGMR, des Verfassungs- und des Verwaltungsgerichtshofes auf die besonderen Umstände des Einzelfalls einzugehen. Die Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme ist (nur) dann gegeben, wenn ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen des Betroffenen auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens im Inland einerseits und dem staatlichen Interesse an der Wahrung der öffentlichen Ordnung andererseits gefunden wird. Der Ermessensspielraum der zuständigen Behörde und die damit verbundene Verpflichtung, allenfalls von einer Aufenthaltsbeendigung Abstand zu nehmen, variiert nach den Umständen des Einzelfalls.

Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen und ist diese Rechtsprechung zu Art 8 MRK auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (vgl. VwGH 15.01.2020, Ra 2017/22/0047 mit Hinweis auf VwGH 26.02.2015, Ra 2015/22/0025; VwGH 19.11.2014, 2013/22/0270). Zumal der BF bis zu seiner Ausreise im Juni 2018 bereits über 17 Jahre lang im Bundesgebiet aufhältig war bzw. seit September 2019 wieder ist und ob seines Aufwachsens im Bundesgebiet mit entsprechenden Schulbesuchen und der damit einhergehenden Integration ist bereits aus diesen Erwägungen unter Berücksichtigung der höchstgerichtlichen Rechtsprechung von einem Überwiegen der persönlichen Interessen des BF am Verbleib in Österreich auszugehen. Der Umstand, dass er im Zeitraum vom XXXX 2018 bis XXXX 2019 in Bosnien aufhältig war und dadurch sein Aufenthalt nach etwa 17,5 Jahren unterbrochen wurde, erscheint gegenständlich nicht entscheidungswesentlich, zumal der BF bis 02.04.2019 noch minderjährig gewesen und damit die Eltern zu seiner Obsorge berechtigt waren und im Übrigen auch bei Unterbrechungen für einige Monate bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt von einem regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist (VwGH 15.01.2020, Ra 2017/22/0047 mit Hinweis auf VwGH 26.03.2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082).

Zudem ist beim BF das stark ausgeprägtes Privat- und Familienleben im Bundesgebiet zu berücksichtigen.

In Zusammenhang mit dem Familienleben des BF bleibt darauf hinzuweisen, dass familiäre Beziehungen unter Erwachsenen nur dann unter den Schutz des Art 8 Abs 1 MRK fallen, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 02.08.2016, Ra 2016/20/0152 mit Verweis auf VwGH 21.04.2011, 2011/01/0093). In Zusammenhang mit dem Onkel des BF liegt gegenständlich ein derartiges Abhängigkeitsverhältnis vor, da der BF – ob des Umstandes, dass er in Ermangelung eines Aufenthaltstitels im Bundesgebiet keiner legalen Erwerbstätigkeit nachgehen vermag – kostenlos in dessen Wohnung leben darf sowie auch finanzielle Unterstützung durch den Onkel erfährt. Gegenwärtig findet seine Beziehung zum Onkel jedenfalls unter dem Begriff des im Art 8 EMRK geschützten Familienlebens seine Deckung. Hinsichtlich seiner weiteren in Österreich lebenden Verwandten sind zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit nicht hervorgetreten und daher die Bindungen des BF zu diesen allenfalls unter dem Privatleben des BF zu berücksichtigen.

Generell sind unter "Privatleben" nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg Lettland, EuGRZ 2006, 554). Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art 8 EMRK, in ÖJZ 2007, 852 ff). Ein solches ist beim BF unstrittig in einem großen Ausmaß gegeben, zumal dieser in Österreich geboren und aufgewachsen ist, im Bundesgebiet seine gesamte schulische Bildung, ebenso wie seine Sozialisierung erfahren und darüber hinaus auch einen entsprechenden Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut hat.

Hinsichtlich seiner Integration gilt auszuführen, dass der BF – ergänzend zu den Ausführungen des obigen Absatzes – Deutsch auf Muttersprachenniveau spricht. Dass der BF noch keine berufliche Integration im Bundesgebiet erwirkt hat, ist dem Umstand geschuldet, dass er bis ins Juni 2018 die Handelsschule besucht und auch abgeschlossen hat, er anschließend ob seiner Minderjährigkeit mit seinen zur Obsorge berechtigten Eltern nach Bosnien ausreiste und er zudem über keine Aufenthaltstitel verfügt, welcher ihn zur Aufnahme einer Beschäftigung berechtigen würde. Jedoch konnte der BF eine aufschiebend bedingte Einstellungszusage vom XXXX in Vorlage bringen, welche zugunsten des BF berücksichtigt werden kann (vgl. VwGH 17.10.2016. Ro 2016/22/0005). Zudem ist er strafgerichtlich unbescholten.

Unstrittig verfügte der BF zu keinem Zeitpunkt über einen Aufenthaltstitel und war damit sein Aufenthalt im Bundesgebiet vom Zeitpunkt seiner Geburt an bis zum XXXX 2018 als unrechtmäßig anzusehen, womit auch ein Verstoß gegen das Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts einhergeht. Obgleich das Bewusstsein hinsichtlich des unsicheren Aufenthaltsstatus nicht dem BF anzulassen ist, muss das Bewusstsein der Eltern über die Unsicherheit ihres Aufenthalts nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auch auf die Kinder durchschlagen, allerdings kommt diesem Umstand im Rahmen der Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zu (vgl. VwGH 28.02.2020, Ra 2019/14/0545, 2009/21/0251). Zwischen dem XXXX 2018 und XXXX 2019, wobei er am 02.04.2019 seine Volljährigkeit erreichte, war der BF schließlich in Bosnien aufhältig, seit dem 19.09.2019 ist er nunmehr wieder im Bundesgebiet. Damit wurde jedenfalls die sichtvermerkfreie Aufenthaltsdauer von 90 in 180 Tagen im Schengen-Raum überschritten und gestaltet sich auch gegenwärtig der Aufenthalt des BF in Österreich als unrechtmäßig, zumal Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55 bis 57 kein Aufenthalts- oder Bleiberecht begründen.

Ungeachtet dessen steht damit ein knapp achtzehnjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet einem knapp eineinvierteljährigen Aufenthalt in Bosnien gegenüber. Zwar wird nicht verkannt, dass der BF in Bosnien über einen entsprechenden Freundeskreis verfügt, er knapp eineinviertel Jahre in Bosnien gelebt hat und die Eltern des BF nach wie vor dort ansässig und somit Bindungen zum Heimatstaat gegeben sind, jedoch stehen diese in keiner Relation zur Aufenthaltsdauer des BF in Österreich unter Miteinbeziehung seiner Geburt in XXXX , seiner in Österreich erlangten Schulbildung, der muttersprachlichen Deutschkenntnisse und dem insgesamt damit einhergehenden sozialen Umfeld samt kultureller Prägungen, welche der BF in Österreich erfahren hat (vgl. VwGH 24.09.2019, Ra 2019/20/0274 mit Verweis auf VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072 mwN zur diesbezüglichen Rechtsprechung des EGMR).

Obgleich dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Durchsetzung der geltenden Bedingungen des Einwanderungsrechts und an der Befolgung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung – und damit eines von Art 8 Abs 2 EMRK erfassten Interesses – ein hoher Stellenwert zukommt (vgl zB VwGH 30.04.2009, 2009/21/0086), überwiegt gegenständlich ob der obigen Ausführungen in einer Gesamtschau und Abwägung aller Umstände das private Interesse des BF an der – nicht nur vorübergehenden – Fortführung seines Privat- und Familienlebens in Österreich das öffentliche Interesse an einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme. Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen einer Interessensabwägung gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG festzustellen, dass eine Rückkehrentscheidung zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das erkennende Gericht auf Dauer unzulässig ist.

3.3. Zum Aufenthaltstitel

Gemäß § 58 Abs 2 AsylG ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.

Entsprechend § 54 Abs 1 AsylG werden Drittstaatsangehörigen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt als:

1. „Aufenthaltsberechtigung plus“, die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG), BGBl. Nr. 218/1975 berechtigt,

2. „Aufenthaltsberechtigung“, die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt,

3. „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“, die zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit, für die eine entsprechende Berechtigung nach dem AuslBG Voraussetzung ist, berechtigt.

Gemäß § 54 Abs 2 AsylG sind Aufenthaltstitel gemäß Abs 1 sind für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen.

Nach § 55 Abs 1 AsylG ist einem im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.

Als Modul 1 der Integrationsvereinbarung gilt unter anderem ein Schulabschluss, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs 1 Universitätsgesetz 2002, BGBl. I Nr. 120/2002, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht (§ 9 Abs 4 Z 3 IntG).

Da der BF die Handelsschule als berufsbildende mittlere Schule mit XXXX 2018 positiv abgeschlossen hat, war dem BF nach § 55 Abs 1 AsylG der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten zu erteilen und spruchgemäß zu entscheiden.

Zumal bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit der Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, entfällt die beantragte Beschwerdeverhandlung gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.

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