BVwG W247 1414757-4

BVwGW247 1414757-417.8.2020

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §54
FPG §55
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
FPG §58 Abs2
IntG §10 Abs2 Z5
IntG §9 Abs4

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2020:W247.1414757.4.00

 

Spruch:

W247 1414757-4/33E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. HOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.05.2020, zu Recht:

A)

I. In Erledigung der Beschwerde wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF., iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012, idgF., auf Dauer unzulässig ist.

II. Gemäß §§ 54, 55 iVm § 58 Abs. 2 AsylG, sowie § 9 Abs. 4 iVm § 10 Abs. 2 Z 5 Integrationsgesetz, BGBl. I Nr. 68/2017, idgF, wird XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

III. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.1. Die Beschwerdeführerin (BF), eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, reiste am 13.10.2008, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder, von Polen kommend illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag, gesetzlich vertreten durch ihre Mutter, einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des ehemaligen Bundesasylamts vom 16.07.2010, Zl. XXXX , bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 und gemäß § 8 Abs. 1 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen, sowie die BF gemäß § 10 Abs. 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkt III.) wurde. Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 30.08.2012, GZ. XXXX , wurde die dagegen erhobene Beschwerde gemäß §§ 3, 8, 10 AsylG als unbegründet abgewiesen und erwuchs die Entscheidung am 17.09.2012 in Rechtskraft.

1.2. Am 09.08.2013 stellte BF, gesetzlich vertreten durch ihre Mutter, den 2. Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 25.11.2013, Fz. XXXX , wegen entschiedener gemäß § 68 AVG zurückgewiesen (Spruchpunkt I.) und die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkt II.) wurde.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.05.2014, XXXX , wurde die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 iVm Abs 2 VwGVG als unbegründet abgewiesen und das Verfahren gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 idgF insoweit zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen. Dieses Erkenntnis erwuchs in weiterer Folge am 27.05.2014 in Rechtskraft.

1.3. Am 13.09.2014 stellte die BF erneut, gesetzlich vertreten durch ihre Mutter, den 3. Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid vom 11.11.2015, ZI. XXXX , gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen wurde (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Z 13 AsylG, bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 erlassen und wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführerin zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.). Mit Erkenntnis des BVwG vom 25.10.2017, XXXX , wurde die gegen den Bescheid erhobene Beschwerde gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 iVm §§ 10 Abs. 1 Z 3, 55, 57 Asylgesetz 2005, § 9 BFA-VG, und §§ 52, 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

1.4. Am 23.01.2018 stellte die BF gegenständlichen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen“ gemäß § 56 Abs. 1 AsylG.

1.5. Ihrem Antrag beigefügt wurden folgende Unterlagen/Dokumente:

 Schreiben des AMS XXXX vom 10.11.2017;

 Arbeitsvorvertrag vom 10.01.2018;

1.6. Am 06.02.2018 erging ein Schreiben des BFA, wobei es die BF zur Vorlage weiterer Unterlagen aufforderte.

1.7. Der rechtsfreundliche Vertreter der BF legte am 20.02.2018 bei der Behörde persönlich Versicherungsdatenauszüge für diese vor und wurde darüber informiert, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 AsylG nach der bisherigen Aktenlage nicht vorliegen würden. Dabei gab der RV gegenüber der Behörde an, dass die Erlangung eines „humanitären Aufenthaltstitels“ angestrebt werde, wobei dies § 55 AsylG betreffe und möglicherweise ein falsches Antragsformular verwendet worden sei. Für die allfällige Modifizierung des Antrags bzw. der Vorlage einer Stellungnahme wurde dem BF eine Frist bis zum 01.04.2018 gewährt.

1.8. Mit Schriftsatz vom 23.02.2018 langte eine Stellungnahme ein, womit der ursprüngliche Antrag gemäß § 56 AsylG auf § 55 AsylG geändert wurde. Dabei wurde weiters vorgebracht, dass es sich um eine sehr gut integrierte Familie handle – ursprünglich erfolgte die Antragstellung für alle Familienmitglieder, weshalb eine Stellungnahme für alle erfolgte –, wobei die betroffenen Frauen nicht einmal das obligate Kopftuch trügen. Deren Verwandte hätten allesamt ein Aufenthaltsrecht, Asyl oder die österreichische Staatsbürgerschaft und seien alle, bis auf eine Person, erwerbstätig. Vorort bei den Familien würden sie in geordneten ordentlichen Verhältnissen leben und würden sie von der Familie unterstützt. Es gäbe keinerlei Neigung zum Extremismus und lebe ein großer Teil areligiös oder liberal muslimisch. Alle hätten ihr Möglichstes zur Weiterbildung getan, die BF habe bei ihrer Tante, die eine Schneiderei in Wien habe, ein Praktikum absolviert und könne sofort eine Lehrstelle bekommen. Überdies seien alle bei der GKK XXXX versichert. Aufgrund ihrer Geschichte, ihrem Mitwirken, besonders ihrer Aufenthaltsdauer und ihrer Unbescholtenheit werde empfohlen ein Bleiberecht nach § 55 AsylG zu gewähren.

1.9. Im weiteren Verfahrensverlauf brachte die BF folgende Unterlagen in Vorlage:

 Bestätigung einer Änderungsschneiderei vom 23.04.2018 über die Absolvierung eines Praktikums, sowie Zusage als Näherin und Büglerin;

1.10. Mit dem gegenständlich bekämpften Bescheid vom 28.03.2018, Zl. XXXX wies die belangte Behörde den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 AsylG zurück (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG erließ die belangte Behörde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG (Spruchpunkt II.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich seit rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens mit 27.10.2017 keine wesentlichen Änderungen ergeben hätten, die eine Neubewertung im Hinblick auf Art. 8 EMRK bedürfte. Da eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung bestehe und die BF ihrer Ausreiseverpflichtung bis dato nicht nachgekommen sei, sei diese nach wie vor aufrecht, wodurch die Erlassung einer neuerlichen Rückkehrentscheidung nicht geboten sei. In ihrem Privat- und Familienleben hätten sich keine Änderungen ergeben. Seitens des BVwG sei über die privaten und familiären Anknüpfungspunkte bis zum Zeitpunkt der Erlassung der in Rechtskraft erwachsenen Rückkehrentscheidung rechtskräftig und verbindlich abgesprochen worden. Eine maßgebliche Sachverhaltsänderung sei nicht eingetreten und auch nicht behauptet worden. Es liege der Verdacht nahe, dass die BF durch ihr Verhalten, insbesondere den letztlich unbegründeten Asylantrag und den anschließend illegalen Aufenthalt durch Nichtbefolgung ihrer Ausreiseverpflichtung, die Behörde vor vollendete Tatsachen stelle und legale Einwanderungsbestimmungen zu umgehen beabsichtige. Der vorgelegte Arbeitsvorvertrag sei nicht derart relevant, um von einer wesentlichen Sachverhaltsänderung iSd Art. 8 EMRK ausgehen zu können.

1.11. Mit Verfahrensanordnung vom 29.03.2018 wurde de BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater für ein etwaiges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

1.12. Mit für alle Familienmitglieder gleichlautendem Schriftsatz erhob die BF am 26.04.2018 durch ihren rechtsfreundlichen Vertreter fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde in vollem Umfang wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts, Nichtbeachtens von schriftlichen und mündlichen Vereinbarungen, sowie wegen Rechtswidrigkeit in Folge der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Familie nicht gut beraten gewesen sei und deshalb einen 2. und 3. Folgeantrag gestellt hätten. Mit Schreiben des BFA vom 06.02.2018 habe das BFA einen Brief mit vier Auflagen geschickt, die alle erfüllt worden seien. Es seien weitere 5 Punkte zur Erfüllung auferlegt worden, darunter gültige Reisedokumente gemäß § 8 AsylG-DV. Der rechtsfreundliche Vertreter habe darauf verwiesen, dass die russische Botschaft unkooperativ mit ehemaligen Flüchtlingen umgehe und die Erlangung von Reisepässen bis etwa 6 Monate dauere, weshalb eine Frist bis zum 01.04.2018 mit Option der Verlängerung gewährt worden sei. Umgehend hätte die Familie versucht Termine bei der Botschaft zu bekommen. Persönliche Vorsprachen seien jedoch nicht zugelassen worden, man müsse sich mit russischen Personaldokumenten ausweisen oder österreichische Ausweise vorlegen. Da die AB Karten eingezogen worden seien, sei die Familie ohne Ausweis. Der rechtsfreundliche Vertreter habe den Antrag gestellt der Familie die hinterlegten Dokumente auszuhändigen. Dies sei bis heute nicht geschehen. Seine mündliche Anfrage auf Ausstellung eines österreichischen Ausweises für Fremde habe ergeben, dass die Familie keinen Anspruch habe, da sie sich illegal im Land befinden würden. Statt eine Fristverlängerung beantragen zu können, sei vor Ende der Frist der negative Bescheid zugestellt worden. Der Antrag der BF sei begründet, weil sie voll integriert sei, Unterstützung von der Familie bekomme und sie daher von keiner Organisation unterstützt werden müsse, über eine ortsübliche Unterkunft verfüge, versichert sei, über eine Arbeitszusage verfüge, ihre Schulzeit in Österreich verbracht und die Schule positiv abgeschlossen habe. Im Übrigen sei Russisch (Tschetschenisch) für die BF eine Fremdsprache, sie spreche akzentfrei Deutsch, trage kein Kopftuch und sei sehr tolerant gegenüber Andersdenkenden. Sie interessiere sich für die ehrenamtliche Arbeit und helfe anderen. Es gäbe zahlreiche Befürworter für einen Verbleib der BF in Österreich und lebe sie unbescholten seit über 10 Jahren in Österreich. Die BF beantragte, das BVwG möge 1.) den hier angefochtenen Bescheid der Erstbehörde abändern, dass dem Antrag in Spruchpunkt I. auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Folge gegeben und ihr ein Aufenthaltsrecht in Österreich zugesprochen werde; 2.) in eventu den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt I. beheben und zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die I. Instanz zurückweisen; 3.) allenfalls die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG aufheben und; 4.) die Abschiebung gemäß § 52 Abs. 9 FPG aufheben; 5.) jedenfalls wenn notwendig die aufschiebende Wirkung aussprechen; 6.) sollte Punkt 1. und 2. nicht entsprochen werden, jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG anberaumen und 7.) umgehend alle hinterlegten russischen Dokumente aushändigen, damit die BF damit einen Reisepass bei der russischen Botschaft erlangen könne.

Mit der Beschwerde wurde eine Bestätigung vom 23.04.2018 über die Absolvierung eines Praktikums der BF in einer Schneiderei vorgelegt.

1.13. Die Beschwerdevorlage vom 02.05.2018 und der Verwaltungsakt langten beim Bundesverwaltungsgericht am 04.05.2018 ein.

1.14. Über die gestellten Anträge der Eltern und Geschwister der BF gemäß § 55 AsylG wurde mit Erkenntnissen des BVwG vom 25.02.2019, GZ XXXX , XXXX , XXXX und XXXX rechtskräftig negativ entschieden.

1.15. Mit Schriftsatz vom 27.04.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerdeführerin aktuelle Feststellungen zur Situation in ihrem Herkunftsstaat (Länderinformationsblatt Russische Föderation, Gesamtaktualisierung vom 30.09.2019, letzte Kurzinfo vom 03.12.2019) und wurde ihr Gelegenheit eingeräumt, dazu innerhalb von 10 Tagen hg. einlangend Stellung zu nehmen. Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführerin die Ladung für die am 26.05.2020 anberaumte mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht übermittelt. Die BF gab keine Stellungnahme ab.

1.16. Am 26.05.2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht unter der Beiziehung eines der Beschwerdeführerin einwandfrei verständlichen Dolmetschers für die tschetschenische Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, zu welcher die Beschwerdeführerin ordnungsgemäß geladen wurde und an welcher diese auch teilnahm. Im Rahmen dessen wurde das neue Länderinformationsblatt zur Russischen Föderation, Gesamtaktualisierung 27.03.2020, eingebracht und eine 10-tägige Stellungnahmefrist dazu eingeräumt.

Die Niederschrift lautet auszugsweise:

„[…] RI: Nennen Sie mir wahrheitsgemäß Ihren vollen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihren Geburtsort, Ihre Staatsbürgerschaft, sowie Ihren Wohnort an dem Sie sich vor Ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat zuletzt aufgehalten haben.

BF (auf Deutsch): Mein Name ist XXXX , ich bin 23 Jahre alt. Ich habe mich vor meiner Ausreise in XXXX aufgehalten.

Die BF möchte auf die Übersetzung verzichten und auf Deutsch antworten.

RI: (mit Übersetzung) Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volksgruppe- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF: Ich bin Tschetschenin. Ich spreche Tschetschenisch.

RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an? Und wenn ja, welcher?

BF (auf Deutsch): Ich bin sunnitische Muslima.

RI: Haben Sie Dokumente oder Unterlagen aus der Russischen Föderation, welche Ihre Identität zweifelsfrei beweisen?

BF (auf Deutsch): Ich habe keine.

RI: Besitzen Sie einen gültigen Reisepass?

BF (auf Deutsch): Nein.

RI: Welche Sprachen sprechen Sie?

BF (auf Deutsch): Tschetschenisch und Deutsch.

RI: Mit wieviel Jahren sind sie nach Österreich gekommen?

BF (auf Deutsch): Als ich 11 Jahre alt war.

RI: Bitte schildern Sie Ihren Lebenslauf. Welche Schulausbildung haben Sie abgeschlossen? Welchen Beruf haben Sie gelernt und welchen Beruf haben Sie ausgeübt? Gemeint ist sowohl im Herkunftsstaat, als auch im Bundesgebiet. Ich ersuche Sie um eine genaue Übersicht über ihre bisherige Ausbildung.

BF (auf Deutsch). In Tschetschenien habe ich zweieinhalb Jahre eine Schule besucht. Als ich hergekommen bin, habe ich die 1. Klasse Hauptschule besucht. Ich war nur zwei, drei Monate dort, dann habe ich mir die Hand gebrochen und konnte nicht zur Schule gehen. Dann sind wir von XXXX umgezogen und dort habe ich ein halbes Jahr die Schule besucht. Dann sind wir wieder umgezogen, nach Amstetten. Da war ich zwei Jahre in der Hauptschule und dann sind wir nach Deutschland gefahren.

RI: Wann sind Sie nach Deutschland gefahren?

BF (auf Deutsch): 2013. Wir haben ca. acht oder neun Monate in Deutschland gelebt, dann wurden wir hergebracht. Wir haben hier in Wien gelebt für ein paar Monate. Dann sind wir nach XXXX umgezogen. Dort bin ich zur polytechnischen Schule gegangen für ein halbes Jahr. Danach bin ich auf die Handelsschule gegangen für zwei Jahre.

RI: Haben Sie irgendeine Schule abgeschlossen?

BF (auf Deutsch): Nein, wir sind immer umgezogen. Nachdem ich aus der Handelsschule weg war, war ich ein Jahr zuhause und habe nichts gemacht. Dann bin ich nach Wien gekommen und habe immer meine Verwandten besucht. Ich bin dann zur Tante gekommen zu Besuch und sie hat mir jedesmal vieles beigebracht, z.B. Kleider zu schneiden. Sie hat ein eigenes Geschäft. Sie hat mir alles beigebracht, ich habe auch eine Einstellungszusage. Letztes Jahr habe ich das BFI besucht für ein Jahr in XXXX , damit ich den Pflichtschulabschluss nachholen kann. Ich habe im Februar angefangen und im Februar hat es geendet. Ich habe kein Zeugnis, weil noch eine Prüfung fehlt, die nachzumachen wäre. Das ist in Deutsch.

RI: Wann können Sie diese nachmachen?

BF (auf Deutsch): Sobald ich die Möglichkeit habe.

RI: Das heißt, wenn Sie die Prüfung geschafft haben, haben Sie den Pflichtschulabschluss?

BF (auf Deutsch): Ja.

RI: Haben Sie einen Beleg darüber?

BFV legt vor, eine Teilnahmebestätigung des BFI XXXX vom 25.05.2020 betreffend die Teilnahme der BF an der Maßnahme „externer Pflichtschulabschluss in XXXX “ vom 18.02.2019 bis zum 12.02.2020. Des Weiteren ein Jahres- und Abschlusszeugnis der Polytechnischen Schule XXXX Schuljahr 2013/14. Des Weiteren zwei Unterstützungsschreiben und ein Schreiben der ARGE Rechtsberatung vom 25.05.2020 betreffend das gegenständliche Verfahren. Diese werden in Kopie zum Akt genommen.

RI: Bezüglich des Pflichtschulabschlusses: Haben Sie einen Beleg oder ein Zeugnis, dass Sie alle Prüfungen bestanden haben, bis auf die Deutschprüfung?

BF (auf Deutsch): Nein, ich habe nichts.

RI: Die BF wird aufgefordert ein Schreiben des BFI nachzubringen, aus welchem hervorgeht, dass sie hinsichtlich ihres angestrebten Pflichtschulabschlusses alle Fächer, bis auf Deutsch, bereits positiv abgeschlossen hat sowie eine Bestätigung, dass sie zur Prüfung Deutsch noch einmal antreten kann und im Falle eines positiven Ablegens dieses Faches, den Pflichtschulabschluss in Österreich erhält.

BF (auf Deutsch): Diese Prüfung wird in der Schule gemacht, nicht beim BFI. Ich werde heute nachfragen.

Die BF wird aufgefordert, die Bestätigung binnen 10 Tagen vorzulegen.

RI: Haben Sie eine sonstige Ausbildung oder Fortbildung oder Weiterbildung in Österreich gemacht?

BF (auf Deutsch): Nein.

RI: Haben Sie sich außer an dem von Ihnen angegebenen, letzten Wohnort in der Russischen Föderation auch an einem anderen Wohnort längere Zeit aufgehalten?

BF (auf Deutsch): Nein.

RI: Welche Verwandten von Ihnen leben zur Zeit in Russischen Föderation und in welcher Stadt?

BF (auf Deutsch): Das weiß ich nicht.

RI: Sie wissen nicht, ob Sie Verwandte in der russischen Föderation haben?

BF (auf Deutsch): Ich habe Großeltern.

RI: Das sind ja Verwandte. Wo wohnen die?

BF (auf Deutsch): In XXXX .

RI: Haben Sie sonst noch Verwandte in der russischen Föderation?

BF (auf Deutsch): Das weiß ich nicht. Ich habe nur Kontakt zu den Großeltern.

RI: Wie oft haben Sie Kontakt zu Ihren Verwandten in der Russischen Föderation und wie treten Sie in Kontakt?

BF (auf Deutsch): Ich würde sagen einmal in einem halben Jahr über das Internet.

RI: Wovon leben Ihre im Herkunftsstaat aufhältigen Verwandten?

BF (auf Deutsch): Ich weiß nicht.

RI: Ist Ihre Familie im Herkunftsstaat im Besitz von Häusern oder Wohnungen?

BF (auf Deutsch): Ich weiß es nicht.

RI: Haben Sie Verwandte, die außerhalb Russischen Föderation leben und haben Sie Kontakt zu diesen?

BF (auf Deutsch): Hier habe ich einen Onkel in Wien und zwei Tanten.

RI: Welchen Aufenthaltsstatus haben diese?

BF (auf Deutsch): Das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, dass meine Tante die Staatsbürgerschaft hat und bei den anderen beiden, glaube ich, dass sie ein Visum haben.

RI: Wie lange leben Ihre Verwandten, also Onkel und zwei Tanten, in Wien?

BF (auf Deutsch): Länger als wir.

RI: Sind Sie verheiratet oder haben Sie einen Lebensgefährten oder Freund?

BF (auf Deutsch): Nein.

RI: Wie bestreitet Sie in Österreich Ihren Lebensunterhalt?

BF (auf Deutsch): Von dem Geld, das ich jeden Monat von Caritas bekomme.

RI: Wo wohnen Sie zur Zeit?

BF (auf Deutsch): In der XXXX .

RI: Laut aktuellen ZMR-Auszug waren Sie seit 28.02.2020 in Wien bei der Fremdenpolizei gemeldet. Haben Sie davor auch einen Wohnsitz in Wien gehabt und seit wann?

BF (auf Deutsch): Wir haben davor in der XXXX gelebt. Ich habe meine Tante immer nur in Wien besucht. Ich habe aber in der XXXX gelebt.

RI: Wann sind Sie nach Österreich gekommen und was war der Grund ihrer Reise nach Österreich?

BF (auf Deutsch): Ich war klein, ich weiß nicht. Ich kann mich sehr schwach erinnern. Ich kann mich nicht an das Jahr erinnern.

RI: Sie haben drei Asylanträge in Österreich gestellt, welche alle drei rechtskräftig negativ entschieden worden sind. Wieso sind Sie Ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen und im Bundesgebiet unrechtmäßig verblieben?

BF (auf Deutsch): Ich habe keine Antwort dazu, weil das haben meine Eltern für mich entschieden.

RI: Sind Sie in Österreich zu irgendeinem Zeitpunkt einer geregelten Arbeit nachgegangen?

BF (auf Deutsch): Nein.

RI: Sind Sie seit Ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation in 2008 wieder einmal in der Russischen Föderation gewesen, sei es auf Besuch oder auf Urlaub?

BF (auf Deutsch): Nein.

RI: Haben Sie seit Ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation in 2008 Besuch von Ihrer in der Russischen Föderation lebenden Verwandten in Österreich erhalten?

BF (auf Deutsch): Nein.

RI: Was befürchten Sie konkret im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation?

BF (auf Deutsch): Was mir richtig Angst macht, ist Zwangsheirat. Wenn ich zurückkehre, darf ich mich nicht entscheiden, wen oder ob ich heirate. Ich werde nicht gefragt.

RI: Haben Sie Angst, dass Sie von Ihren Eltern zwangsverheiratet werden?

BF (auf Deutsch): Sie werden nicht gegen mich sein. Ich habe Angst, dass ich von den Leuten gezwungen werde.

RI: Wenn Ihre Eltern nicht mitmachen, dann gibt es keine Zwangsverheiratung oder? Wer könnte Sie denn zwangsverheiraten?

BF (auf Deutsch): Die Gesellschaft.

RI: Was befürchten Sie sonst noch bei einer Rückkehr?

BF (auf Deutsch): Meine Zukunft. Ich habe hier ein sichereres Leben als dort. Wie gesagt, die würden mich zwingen zu heiraten. Ich hätte keine Rechte für mich. Hier habe ich Rechte.

RI: Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft in Österreich vor?

BF (auf Deutsch): Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich gleich anfangen die Schneiderlehre zu machen.

RI: Bei wem könnten Sie die Schneiderlehre machen?

BF (auf Deutsch): Bei meiner Tante.

RI: Ist Ihre Tante ausgebildete Schneidermeisterin?

BF (auf Deutsch): Ja.

RI: Hat Ihre Tante irgendwelche anderen Lehrlinge?

BF (auf Deutsch): Nein.

RI: Das heißt, Sie möchten in Österreich als Schneiderin arbeiten?

BF (auf Deutsch): Ja.

RI: Haben Sie sich bei offizieller Stelle bereits erkundigt, welche Voraussetzungen Sie für diese Arbeit in Österreich mitbringen müssen?

BF (auf Deutsch): Nein, ich habe mich nicht erkundigt.

RI: Sind Sie in Österreich einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgegangen?

BF (auf Deutsch): Nein.

RI: Haben Sie in Österreich Deutschkurse besucht? Wenn ja, welches Niveau haben Sie abgeschlossen?

BF (auf Deutsch): Nein, ich habe gleich die Schule angefangen.

RI: Sind Sie Mitglied in einem Verein oder einem Klub in Österreich?

BF (auf Deutsch): Nein, aber ich würde gerne.

RI: Wo würden Sie gerne dabei sein?

BF (auf Deutsch): Ich weiß nicht, ob es sowas gibt, aber ich würde gerne etwas mit Computern machen. Ich würde mich gerne fortbilden.

RI: Was hat Sie bis jetzt davon abgehalten, sich am Computer fortzubilden?

BF (auf Deutsch). Egal wohin wir gezogen sind, wir waren immer in einer kleinen Stadt und da hat es Computerklubs nicht gegeben.

RI: Haben Sie österreichische Freunde?

BF (auf Deutsch): Ja. Ich bin schon lange hier. Ich habe sehr viele verschiedene Menschen kennengelernt, aus verschiedenen Ländern. Die meisten habe ich in der Schule kennengelernt.

RI: Wo befinden sich zur Zeit Ihre Eltern und Ihre Geschwister?

BF (auf Deutsch): Meine Mutter und mein kleiner Bruder sind mit mir in einer Klasse. Der große Bruder wohnt beim Onkel. Vom Vater habe ich nichts gehört. Ich weiß nicht, wo er ist.

RI: Ist er unbekannten Aufenthalts?

BF (auf Deutsch): Ich weiß nicht.

RI: In welcher Sprache unterhalten Sie sich in Ihrem Familienverband?

BF (auf Deutsch): Wir mischen die zwei Sprachen Deutsch und Tschetschenisch.

RI: Wie geht es Ihnen gesundheitlich? Sind Sie gesund?

BF (auf Deutsch): Ja.

RI: Nehmen Sie Medikamente?

BF (auf Deutsch): Nur für meine Haut.

RI: Sind Sie in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung?

BF (auf Deutsch): Nein.

RI: Sind Sie arbeitsfähig?

BF (auf Deutsch): Ja.

RI: Sind im Rahmen ihres Privat- und Familienlebens wesentliche Veränderungen seit dem 27.10.2017, d.h. der rechtskräftig negativen Entscheidung ihres dritten Asylantrags, eingetreten? Wenn ja, welche Änderungen waren dies?

BF (auf Deutsch): Bei mir hat sich nur verändert, dass ich den Pflichtschulabschluss nachgeholt habe. Ich wollte es schon lange nachholen, aber ich hatte die Möglichkeit nicht. Ich wusste auch nicht, dass es ein BFI gibt. Des Weiteren hat mir meine Tante vieles übers Schneidern in ihrer Freizeit beigebracht. Sonst keine.

BF legt vor, eine Unterstützungserklärung einer ehemaligen Lehrerin aus XXXX . Diese wird zum Akt genommen.

Die Verhandlung wird um 09:20 Uhr unterbrochen und um 09:32 Uhr fortgesetzt.

RI an BFV: Haben Sie Fragen an die BF?

BFV: Zu Ihrem Vater besteht kein Kontakt mehr. Ist dieser untergetaucht?

BF (auf Deutsch): Ich weiß es nicht. Seit ich hier in der XXXX bin, habe ich keinen Kontakt.

RI: Weiß irgendjemand von Ihrer Familie, wo Ihr Vater ist?

BF (auf Deutsch): Ich weiß es wirklich nicht, ich habe nicht nachgefragt.

BFV: Könnten Ihre Großeltern Sie in Tschetschenien unterstützen?

BF (auf Deutsch): Nein, diese sind zu alt.

BFV: Haben die Großeltern eine ähnliche Einstellung, wie Ihre Eltern oder sind diese traditionell?

BF (auf Deutsch): Ich weiß es nicht, aber wenn sie mit mir sprechen, sind sie normal.

BFV: Sie kleiden sich eher modern. Ist Ihnen das wichtig?

BF (auf Deutsch): Sehr. Ich will mich frei fühlen. Ich möchte nicht gezwungen werden.

BFV: Haben Sie für Ihre Zukunft als Schneiderin schon Skizzen gemacht?

BF (auf Deutsch): Ja, aber ich habe nichts dabei. Als wir in die XXXX gebracht worden sind, sind meine Sachen in der XXXX geblieben. Ich habe mich vorbereitet für die Verhandlung, aber ich habe die Skizzen nicht dabei.

BFV: Haben Sie hier in Wien ein paar Skizzen gemacht?

BF (auf Deutsch): Ja.

Die BF legt einen Collegeblock vor. Auf den vorgelegten Blättern sind vor allem Darstellungen von menschlichen Gesichtern, von Köpfen, auf einem Blatt befinden sich zwei Skizzen von Röcken.

BFV: Keine Fragen mehr, danke. […]“

1.17. Im Zuge der Beschwerdeverhandlung legte die Beschwerdeführerin ergänzend folgende Unterlagen vor:

 Unterstützungsschreiben von XXXX ., einer Freundin der BF;

 Jahres- und Abschlusszeugnis der Polytechnischen Schule XXXX , Schuljahr 2013/14;

 Beschwerdeseitige Stellungnahme zur Vorlage in der Verhandlung vom 25.05.2020;

 Bestätigungsschreiben des BFI XXXX vom 25.05.2020;

 Unterstützungsschreiben der Diplompädagogin XXXX ;

 Unterstützungsschreiben vom 20.05.2020 der XXXX (Lehrerin des BFI XXXX );

1.18. Mit Stellungnahme vom 04.06.2020 verwies die BF auf die § 55, 58 AsylG sowie § 9 Abs. 2 BFA-VG und brachte zusammenfassend vor, dass es seit der letzten Rückkehrentscheidung sehr wohl zu einer maßgeblichen Änderung des Sachverhaltes gekommen sei und die Behörde eine umfassende Interessenabwägung hätte vornehmen müssen. Dass keine neuerliche Einvernahme, trotz Vorliegen einer 3-jahre alten Rückehrentscheidung, durchgeführt wurde, stelle einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Die Behörde hätte die lange Aufenthaltsdauer der BF entsprechend gewichten müssen und könne ihr nicht vorgeworfen werden, dass sie ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sei, weil sie zum Zeitpunkt ihrer bisherigen Antragstellungen minderjährig gewesen sei. Die BF sei seit mittlerweile fast 12 Jahren in Österreich, sei hier aufgewachsen, habe hier die Schule besucht und Freundschaften geschlossen. Sie sei eine aufgeschlossene, moderne, westlich orientierte Frau, die kein Kopftuch trage und könne sie sich nicht vorstellen nach Tschetschenien zurückzukehren. Die BF habe mehrere Verwandte im Bundesgebiet, zu denen die Beziehung sehr eng sei, insbesondere zu ihrer Tante, bei der die BF eine Schneiderlehre machen dürfte. Als westlich orientierte, alleinstehende Frau würde sie als Rückkehrerin und ohne Unterstützungsmöglichkeit in eine aussichtslose Lage geraten. Sie würde der Gefahr ausgesetzt, Gewalt und Diskriminierung zu erfahren, sowie zwangsverheiratet zu werden. In dem Zusammenhang wird auf die Länderberichte in Bezug auf die allgemeine Menschenrechtssituation in Tschetschenien, der Frauen, der Rückkehrer und der Grundversorgung zitiert sowie auf die aktuelle COVID-19 Pandemie in der Russischen Föderation verwiesen. Nachgereicht wurde eine Bestätigung vom 02.06.2020 des BFI XXXX .

1.19. Mit verspätet eingelangter ergänzender Stellungnahme vom 11.06.2020 wurde auf zahlreiche VwGH Erkenntnisse verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des Antrages der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 Abs. 1 AsylG vom 23.01.2018, der Stellungnahmen von 23.02.2018, 25.05.2020, 04.06.2020 und 11.06.2020, der Beschwerde vom 26.04.2018 gegen den angefochtenen Bescheid vom 28.03.2018, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakte, der Einsichtnahme in die beschwerdeseitig vorgelegten Unterlagen, der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Ausländer- und Fremdeninformationssystem, das Strafregister und Grundversorgungssystem, sowie nach mündlicher Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 26.05.2020, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zu Grunde gelegt:

1.1. Zur Person der BF:

Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, aus der Teilrepublik Tschetschenien und dem sunnitischen Glauben des Islam zugehörig. Die Identität der Beschwerdeführerin steht fest.

Die BF reiste am 13.10.2008, sohin als sie 11 Jahre alt war, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder von Polen kommend, illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag, gesetzlich vertreten durch ihre Mutter, einen Antrag auf internationalen Schutz. Die BF ist bis dahin in Tschetschenien aufgewachsen, hat dort zweieinhalb Jahre die Schule besucht und lebte zuletzt in XXXX .

In der Russischen Föderation, in XXXX , leben noch die Großeltern der BF, mit denen sie zumindest einmal alle 6 Monate Kontakt hat.

Die BF stellte in Österreich insgesamt 3 Anträge auf internationalen Schutz, die allesamt rechtskräftig ab- bzw. zurückgewiesen wurden. Die BF befindet sich seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet am 13.10.2008, mit Ausnahme eines 9-monatigen Aufenthalts in Deutschland, durchgehend in Österreich.

Die Beschwerdeführerin spricht Tschetschenisch und sehr gut Deutsch. In Österreich hat sie unter anderem die Hauptschule, das Polytechnikum und die Handelsschule besucht. Aufgrund zahlreicher Umzüge, hat sie jedoch keine Schule abgeschlossen und besitzt keinen Pflichtschulabschluss. Von 18.02.2019 bis 12.02.2020 hat sie an der Maßnahme „externer Pflichtschulabschluss in XXXX “ des BFI XXXX teilgenommen und fehlt ihr zur Erlangung des Pflichtschulabschlusses lediglich eine Deutschprüfung. Alle anderen Prüfungen hat sie bereits positiv absolviert. Im April 2018 hat die BF ein Praktikum in einer Schneiderei absolviert und verfügt sie über eine Einstellungszusage in besagter Schneiderei. Die BF befindet sich in Grundversorgung.

Im Bundesgebiet hat die BF mehrere Angehörige oder Verwandte in den Personen ihrer Mutter, eines minderjährigen, sowie eines volljährigen Bruders, zweier Tanten und eines Onkels. Mit ihrem minderjährigen Bruder und ihrer Mutter lebt sie im gemeinsamen Haushalt in einem Quartier der Fremdenpolizei. Sie verfügt über einen Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet.

Die BF leidet an keinen schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankungen und ist gesund sowie arbeitsfähig.

Die BF ist strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zur Lage in der Russischen Föderation:

1.2.1. Auszug aus dem Informationsblatt der Staatendokumentation vom 27.03.2020;

„Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 2.2020c, vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 2.2020a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 2.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der [derzeitigen] Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt (GIZ 2.2020a). Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c).

Im Jänner 2020 kündigte Präsident Putin bei seiner Neujahrsrede Verfassungsänderungen an. Daraufhin trat die Regierung unter Ministerpräsident Medwedew zurück (Spiegel Online 15.1.2020). Kurz darauf wurde Putins Kandidat Michail Mischustin, der zehn Jahre lang Leiter der russischen Steuerbehörde war, von der Duma zum neuen Ministerpräsident gewählt (Spiegel Online 16.1.2020). Dmitrij Medwedew wird Vizevorsitzender im Sicherheitsrat. Die angestrebte Verfassungsänderung ist ein umfangreicher Maßnahmenkatalog, bei dem es sich laut Putin um von der Gesellschaft geforderte Veränderungen handelt (Spiegel Online 15.1.2020). Das Volk wird über die Verfassungsänderungen abstimmen, um diese zu legitimieren (NZZ 19.3.2020), jedoch wird die Abstimmung aufgrund der Corona-Pandemie vom geplanten Termin im April nach hinten verschoben (ORF.at 25.3.2020). Vorgesehen ist nicht nur eine Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten. Putin soll nach einem Votum der Abgeordneten auch die Möglichkeit haben, sich noch einmal für maximal zwei Amtszeiten zu bewerben – er könnte also bei Wiederwahl bis 2036 im Amt bleiben. Nach bisheriger Verfassung könnte er 2024 nicht mehr antreten. Kritiker und Oppositionelle werfen Putin einen Staatsstreich vor. Das Verfassungsgericht hat den Änderungen bereits zugestimmt (NZZ 19.3.2020).

 

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 2.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016, vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht infrage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 2.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 2.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

[…]

Tschetschenien

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

[…]

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

[…]

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits, weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

 

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

[…]

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

[…]

Folter und unmenschliche Behandlung

Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 12.2019, vgl. EASO 3.2017).

Immer wieder gibt es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 22.2.2018, vgl. HRW 14.1.2020). Laut Amnesty International und dem russischen „Komitee gegen Folter“ kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung (AA 13.2.2019). Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 13.2.2019). Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben häufig folgenlos (AA 13.2.2019, vgl. US DOS 11.3.2020). Unter Folter erzwungene “Geständnisse“ werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 13.2.2019). Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Tagen nach der Inhaftierung (USDOS 11.3.2020). Im August 2018 publizierte das unabhängige Online-Medienportal Meduza Daten über mehr als 50 öffentlich gemeldete Folterfälle im Jahr 2018. Zu den mutmaßlichen Tätern gehörten Polizei, Ermittler, Sicherheitsbeamte und Strafvollzugsbeamte. Die Behörden haben nur wenige strafrechtliche Ermittlungen zu den Vorwürfen eingeleitet und nur ein Fall wurde vor Gericht gebracht (HRW 17.1.2019). Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 4.3.2020, vgl. US DOS 11.3.2020).

Ab 2017 wurden Hunderte von homosexuellen Männern von tschetschenischen Behörden entführt und gefoltert, einige wurden getötet. Viele flohen aus der Republik und dem Land. In einem im Dezember 2018 veröffentlichten OSZE-Bericht wurde festgestellt, dass in Tschetschenien schwere Menschenrechtsverletzungen, einschließlich des scharfen Vorgehens gegen LGBTI-Personen, begangen wurden, und Russland wurde aufgefordert, eine umfassende Untersuchung durchzuführen [vgl. hierzu Kapitel 19.4 Homosexuelle] (FH 4.2.2019, vgl. Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.7.2018 von der unabhängigen russischen Zeitung Nowaja Gazeta veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein (NZZ 23.7.2018). Als Reaktion auf die öffentliche Empörung verhaftete die russische Kriminalpolizei bis November 2018 15 Verdächtige. Ein Verdächtiger sagte aus, dass die Mitarbeiter das Video aufgezeichnet haben, um zu zeigen, dass sie einen Befehl von hohen Beamten ausgeführt haben, den Gefangenen zu bestrafen. Die schnelle und effektive Untersuchung war beispiellos in Russland, wo die Behörden typischerweise die Beschwerden von Gefangenen über Misshandlungen ablehnen (HRW 17.1.2019). Das Gerichtsverfahren gegen das Gefängnispersonal ist noch anhängig (HRW 14.1.2020).

[…]

Allgemeine Menschenrechtslage

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 2.2020a). Die Verfassung postuliert die Russischen Föderation als Rechtsstaat. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland ist an folgende UN-Übereinkommen gebunden:

- Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

- Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

- Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

- Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

- Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)

- Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.9.2012) (AA 13.2.2019).

Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 317 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat dabei fast alle Empfehlungen akzeptiert und nur wenige nicht berücksichtigt. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der EMRK. Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des EGMR um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert [Anm.: Zur mangelhaften Anwendung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 13.2.2019). Besorgnis wurde u.a. auch hinsichtlich der Missachtung der Urteile von internationalen Menschenrechtseinrichtungen (v.a. des EGMR), des fehlenden Zugangs von Menschenrechtsmechanismen zur Krim, der Medienfreiheit und des Schutzes von Journalisten, der Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft geäußert (ÖB Moskau 12.2019).

Die allgemeine Menschenrechtslage in Russland ist weiterhin durch nachhaltige Einschränkungen der Grundrechte sowie der unabhängigen Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden, aber gleichzeitig steigt der öffentliche Aktivismus deutlich. Hinzu kommt, dass sich mehr und mehr Leute für wohltätige Projekte engagieren und freiwillige Arbeit leisten. Regionale zivile Kammern wurden zu einer wichtigen Plattform im Dialog zwischen der Zivilbevölkerung und dem Staat in Russlands Regionen (ÖB Moskau 12.2019). Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in der Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt und erfahren in manchen Fällen sogar reale Bedrohungen für Leib und Leben (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AI 22.2.2018, FH 4.3.2020). Der konsultative „Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte“ beim russischen Präsidenten übt auch öffentlich Kritik an Menschenrechtsproblemen und setzt sich für Einzelfälle ein. Der Einfluss des Rats ist allerdings begrenzt (AA 13.2.2019). Staatliche Repressalien, aber auch Selbstzensur führen zur Einschränkung der kulturellen Rechte. Folter und andere Misshandlungen sind nach wie vor verbreitet. Die Arbeit unabhängiger Organe zur Überprüfung von Haftanstalten wird weiter erschwert. Im Nordkaukasus kommt es immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen (AI 22.2.2018). Derzeit stehen insbesondere die LGBTI-Community in Tschetschenien sowie die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Russland unter Druck (ÖB Moskau 12.2019).

Die Annexion der Krim 2014 sowie das aus Moskauer Sicht erforderliche Eintreten für die Belange der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine haben zu einem starken Anstieg der patriotischen Gesinnung innerhalb der russischen Bevölkerung geführt. In den vergangenen Jahren gingen die Behörden jedoch verstärkt gegen radikale Nationalisten vor. Dementsprechend sank die öffentliche Aktivität derartiger Gruppen seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine deutlich, wie die NGO Sova bestätigt. Gestiegen ist auch die Anzahl von Verurteilungen gegen nationalistische bzw. neofaschistische Gruppierungen. Vor diesem Hintergrund berichtete die NGO Sova in den vergangenen Jahren auch über sinkende Zahlen rassistischer Übergriffe. Die meisten Vorfälle gab es, wie in den Vorjahren, in den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg. Migranten aus Zentralasien, dem Nordkaukasus und dunkelhäutige Personen sind üblicherweise das Hauptziel dieser Übergriffe. Im Vergleich zu den Jahren 2014-2017 ist gleichzeitig ein gewisser Anstieg der fremdenfeindlichen Stimmung zu vermerken, der auch im Zusammenhang mit sozialen Problemen (der Unzufriedenheit mit der Pensionsreform und sinkenden Reallöhnen) zu sehen ist. Wenngleich der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland seit 2013 weiterhin ausgesetzt bleibt, unterstützt die EU-Delegation in Moskau den Dialog mit NGOs, Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidigern aktiv (ÖB Moskau 12.2019).

Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Hintergrund sind die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien. Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend „Aufständische“ und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten weiterhin genau beobachtet (ÖB Moskau 12.2019), und es werden von dort schwere Menschenrechtsverletzungen gemeldet, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen (AI 22.2.2018).

[…]

Tschetschenien

NGOs beklagen weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen zumeist Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten (ÖB Moskau 12.2019). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen (AA 13.2.2019). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird, und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. BAMF 11.2019).

2017 kam es zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019, vgl. HRW 17.1.2019), wo die Betroffenen gefoltert und einige sogar getötet wurden [vgl. Kapitel 19.4. Homosexuelle] (FH 4.2.2019). Die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta berichtete im Sommer 2017 über die angebliche außergerichtliche Tötung von über zwei Dutzend Personen zu Beginn des Jahres im Zuge von Massenfestnahmen nach dem Tod eines Polizisten, die nicht im Zusammenhang mit der Verfolgung von LGBTI-Personen stehen soll (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AI 22.2.2018). Seitens Amnesty International wurde eine umfassende Untersuchung der Vorwürfe durch die russischen Behörden gefordert. Im Herbst 2017 besuchte das Komitee gegen Folter des Europarates neuerlich Tschetschenien und konsultierte dabei auch die russische Ombudsfrau für Menschenrechte. Ihre nachfolgende Aussage gegenüber den Medien, dass das Komitee keine Bestätigung außergerichtlicher Tötungen oder Folter gefunden habe, wurde vom Komitee unter Hinweis auf die Vertraulichkeit der mit den russischen Behörden geführten Gespräche zurückgewiesen. Ungeachtet dessen setzten die lokalen Behörden NGO-Berichten zufolge 2018 und 2019 die Repressalien gegen Homosexuelle in Tschetschenien fort (ÖB Moskau 12.2019).

Gewaltsame Angriffe, die in den vergangenen Jahren auf Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien verübt worden waren, blieben nach wie vor straffrei. Im Januar 2017 nutzte der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, seinen Instagram-Account, um unverhohlen eine Drohung gegen Grigori Schwedow, den Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals Caucasian Knot auszusprechen. Im April erhielten Journalisten von der unabhängigen Tageszeitung Nowaja Gazeta Drohungen aus Tschetschenien, nachdem sie über die dortige Kampagne gegen Schwule berichtet hatten. Auch Mitarbeiter des Radiosenders Echo Moskwy, die sich mit den Kollegen von Nowaja Gazeta solidarisch erklärten, wurden bedroht (AI 22.2.2018). Im Februar 2020 wurde die bekannte Journalistin der Nowaja Gazeta, Jelena Milaschina und eine Menschenrechtsanwältin in Grosny von ca. 15 Frauen und Männern in ihrem Hotel angegriffen und verprügelt. Die Nowaja Gazeta verlangte eine Entschuldigung des Republiksoberhauptes von Tschetschenien. Die Union der russischen Journalisten und das Helsinki Komitee verurteilten diesen Vorfall aufs Schärfste. Auch die OSZE und die russische Menschenrechtsorganisation Komitee gegen Folter verlangen von den russischen Behörden eine Aufklärung des Vorfalls (Moscow Times 7.2.2020).

In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte von Personen, die nicht aufgrund irgendwelcher politischer Aktivitäten, sondern aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 12.2019). Der regierungskritische tschetschenische Blogger Tumso Abdurachmanow ist nach eigenen Angaben in seinem polnischen Exil von einem bewaffneten Angreifer attackiert worden. Es sei ihm gelungen, den Angreifer zu überwältigen. Menschenrechtsgruppen verurteilten den Angriff als "Mordversuch". Abdurachmanow betreibt bei YouTube einen Videokanal, der etwa 75.000 Abonnenten hat. In seinen Videos setzt er sich kritisch mit dem tschetschenischen Regionalpräsidenten Ramsan Kadyrow auseinander. Nach eigenen Angaben wurde er in Tschetschenien mit dem Tode bedroht, seit 2015 lebt er im Exil. Dies war nicht der erste Angriff auf einen Tschetschenen, der von Kadyrow als "störend" empfunden wird, erklärte die russische Menschenrechtsorganisation Memorial. In den meisten Fällen würden die Ermordungen oder Mordversuche von "aus Tschetschenien entsandten Auftragsmördern" in Moskau oder anderen russischen Regionen, aber auch in der Ukraine oder anderen europäischen Ländern ausgeführt. 2019 hatte die Ermordung eines Georgiers mit tschetschenischen Wurzeln im Berliner Tiergarten Aufsehen erregt. Das Opfer soll im sogenannten zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft haben. Laut Bundesanwaltschaft wurde der 40-Jährige von russischen Behörden als "Terrorist" eingestuft und verfolgt. Ein dringend tatverdächtiger russischer Staatsangehöriger sitzt in Untersuchungshaft (AFP 27.2.2020). Anfang 2020 wurde ein anderer politischer Blogger aus Tschetschenien tot in einem Hotel in Frankreich aufgefunden. Imran Aliev (44) habe eine Kopfverletzung erlitten. Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Kawkaski Usel hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Bei Youtube hatte der Tschetschene unter dem Namen Mansur Staryj Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020).

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019).

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Frauen

Artikel 19 der russischen Verfassung garantiert die Gleichstellung von Mann und Frau (ÖB Moskau 12.2019, vgl. GIZ 2.2020c). Zudem hat die Russische Föderation mehrere internationale und regionale Konventionen ratifiziert, die diese Gleichstellung festschreiben, darunter die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und ihr Zusatzprotokoll. Grundsätzlich gibt es in der Russischen Föderation keine systematische Diskriminierung von Frauen (ÖB Moskau 12.2019).

Frauen stellen in Russland traditionell die Mehrheit der Bevölkerung. Der weibliche Bevölkerungsanteil beträgt seit den 1920er Jahren zwischen 53% und 55% der Gesamtbevölkerung. Durch die Transformationsprozesse und den Übergang zur Marktwirtschaft sind die Frauen in besonderer Weise betroffen. Davon zeugt der erhebliche Rückgang der Geburtenrate. Die Veränderungen in den Lebensverhältnissen von Frauen betreffen auch den Arbeitsmarkt, denn das Risiko von Ausfallzeiten durch Schwangerschaft, Erziehungsurlaub und Pflege von Angehörigen führt oft dazu, dass Frauen trotz besserer Ausbildung seltener als Männer eingestellt werden. Das im Durchschnitt deutlich geringere Einkommen von Frauen bedeutet niedrigere Pensionen für ältere Frauen, die damit ein hohes Risiko der Altersarmut tragen (GIZ 2.2020c). Frauen mit kleinen Kindern gehören einer sozialen Gruppe an, die besonders von sozialer Unterstützung wie Lohnfortzahlung während des Mutterschutzes und dem sogenannten „Mutterschaftskapital“, einer Beihilfe, Nutzen ziehen (vgl. Kapitel 20.2. Sozialbeihilfen) (Russland Analysen 21.2.2020a).

Die politische Sphäre in Russland ist von Männern dominiert (GIZ 2.2020c). Frauen sind in Politik und Regierung unterrepräsentiert. Sie halten weniger als ein Fünftel der Sitze in der Duma und im Föderationsrat. Nur zwei von 29 Kabinettsmitgliedern sind Frauen (FH 4.3.2020). In Russland herrscht noch immer ein konservatives Familienbild vor – die Frau als Hausfrau und Mutter. Jedoch sind Frauen in der Realität gezwungen, auch (Vollzeit) erwerbstätig zu sein, schon allein aufgrund der hohen Scheidungsrate. Daraus folgt logischerweise auch eine große Anzahl von alleinerziehenden Frauen (Russland Analysen 21.2.2020b).

Ein ernstes Problem, das von Politik und Gesellschaft weitgehend ausgeblendet wird, stellt die häusliche Gewalt dar (ÖB Moskau 12.2019, vgl. FH 4.3.2020, HRW 10.2018). Ein Großteil der Unterstützung und Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt wird durch gesellschaftliche Organisationen und Privatinitiativen übernommen. Das Zentrum ANNA etwa koordiniert ein informelles Netzwerk von Organisationen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und Kinder. Darin sind über 150 regionale und lokale NGOs aktiv. Es wurde auch eine interaktive Karte mit Zentren, die betroffene Frauen in den meisten Regionen Russlands unterstützen, erstellt (ÖB Moskau 12.2019). Offizielle Studien legen nahe, dass mindestens jede fünfte Frau in Russland irgendwann in ihrem Leben körperliche Gewalt durch ihren Ehemann oder Partner erlebt hat (HRW 10.2018, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Die Polizei bleibt oft passiv und geht z.B. Anzeigen nicht mit genügend Nachdruck oder zuweilen gar nicht nach (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019, US DOS 11.3.2020, HRW 10.2018). Experten schätzen, dass 60% bis 70% der Fälle von häuslicher Gewalt nicht gemeldet werden (ÖB Moskau 12.2019, vgl. US DOS 11.3.2020). Trotz der weiten Verbreitung des Problems gibt es grobe Mängel bei der Bewusstseinsbildung darüber, auch innerhalb der politischen Elite. Ein vom Arbeits- und Sozialministerium gemeinsam mit Frauenrechtsorganisationen ausgearbeiteter Gesetzesentwurf zur Vorbeugung häuslicher Gewalt, der insbesondere der Polizei mehr Verpflichtungen zum Kampf gegen häusliche Gewalt auferlegt und einen besseren Opferschutz vorschreibt, wurde von der Duma Ende 2016 abgelehnt (ÖB Moskau 12.2019). Spürbare Auswirkungen hatte ein im Jänner 2017 erlassenes Gesetz, das häusliche Gewalt an Kindern und anderen Familienmitgliedern bis zu einem gewissen Grad entkriminalisiert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, AI 22.2.2018), wenn sie zu keinen dauerhaften körperlichen Schäden führt (FH 4.2.2019). 2017 wurde die Kampagne „We demand to adopt the domestic violence law“ gestartet, die inzwischen 460.000 Unterstützer hat. Aktuell wird ein neuer Gesetzesentwurf zur Vorbeugung von häuslicher Gewalt im russischen Parlament diskutiert. Im Jänner 2019 wurde ein EU-finanziertes Projekt des Europarats und der Russischen Föderation zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen lanciert, das auch von der russischen Ombudsfrau für Menschenrechte begrüßt wurde (ÖB Moskau 12.2019). Häusliche Gewalt bleibt lückenhaft dokumentiert und die Dienste für Überlebende sind unzureichend. Im Juli 2019 bekräftigte die russische Ombudsperson öffentlich ihre Unterstützung für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt. Im Oktober hielt das Parlament seine erste vorläufige Debatte über das Gesetz ab. Ebenso erließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Juli 2019 seine erste Entscheidung zu einem Fall von häuslicher Gewalt in Russland. Das Gericht forderte die Behörden auf, dem Beschwerdeführer Schadenersatz in Höhe von EUR 20.000 zu zahlen, und erkannte die "Zurückhaltung der russischen Behörden an, die Schwere häuslicher Gewalt anzuerkennen" (HRW 14.1.2020).

Vergewaltigung ist illegal und das Gesetz sieht dieselbe Strafe für einen Täter vor, egal ob er aus der Familie stammt oder nicht. Das Strafmaß für Vergewaltigung sind drei bis sechs Jahre Haft für einen Einzeltäter mit zusätzlicher Haft bei erschwerenden Umständen. Laut NGOs würden Exekutivbeamte und Staatsanwälte Vergewaltigung durch Ehemänner bzw. durch Bekannte keine Priorität einräumen (US DOS 11.3.2020). NGOs berichten außerdem, dass lokale Polizisten sich weigern würden, auf Anrufe in Bezug auf Vergewaltigung und häusliche Gewalt zu reagieren, solange sich das Opfer nicht in einer lebensbedrohlichen Situation befindet (US DOS 11.3.2020, vgl. EASO 3.2017).

 

Im Jahr 2018 soll es 434 lokale Unterstützungseinrichtungen für Frauen in Krisensituationen gegeben haben. NGOs stellten jedoch fest, dass der Zugang zu Notunterkünften oft kompliziert ist, da sie einen Wohnsitznachweis in dieser bestimmten Gemeinde sowie einen Nachweis über den Status eines Niedrigeinkommens benötigen. In vielen Fällen werden diese Dokumente von den Tätern verwaltet und standen den Opfern deshalb nicht zur Verfügung (US DOS 13.3.2019). Krisenzentren und Notunterkünfte von NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Erbringung von Dienstleistungen für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen. Diese sind auf staatlicher Ebene oft nicht verfügbar und es gibt Fälle, in denen Frauen, bevor sie in NGO-Einrichtungen kamen, von staatlichen Einrichtungen abgewiesen wurden (HRW 10.2018). Es gibt in Russland 14 staatliche Krisenzentren (Frauenhäuser), eines davon in Moskau (ÖB Moskau 12.2019). Aufgrund finanzieller Engpässe und staatlicher Beschränkungen bei der Beschaffung ausländischer Mittel haben NGOs Schwierigkeiten, ausreichend viele Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. In Großstädten gibt es staatliche Unterkünfte, die dringende Hilfe, wie zum Beispiel „Krisenwohnungen“ zur Verfügung stellen können. Neben staatlichen und NGO-Einrichtungen gibt es auch religiöse Einrichtungen der Russisch-Orthodoxen, der Katholischen und der Baptisten-Kirche, die Opfern von häuslicher Gewalt Hilfe bereitstellen. Um in eine staatliche Einrichtung aufgenommen zu werden, müssen Frauen oft eine ganze Reihe von Dokumenten mitbringen, wie beispielsweise Meldezettel, Reisepass, eine Überweisung von Sozial- oder Kinderschutzdiensten, eine persönliche schriftliche Erklärung, warum die Person Hilfe benötigt, ärztliche Atteste mit Angaben zu allen Impfungen und in einigen Fällen sogar Röntgenaufnahmen. Wenn eine Frau Kinder hat, muss sie auch für jedes ihrer Kinder Gesundheitsunterlagen vorlegen. Der Prozess der Beschaffung all dieser Dokumente kann bis zu zwei Wochen dauern, in einigen Fällen auch länger (HRW 10.2018).

[…]

Frauen im Nordkaukasus, insbesondere in Tschetschenien

Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich zum Teil von der in anderen Regionen Russlands. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen sind laut NGOs nach wie vor ein Problem in Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019), aber auch in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan. Verlässliche Statistiken dazu gibt es kaum. Die Gewalt gegen Frauen bleibt in der Region ein Thema, dem vonseiten der Regional- und Zentralbehörden zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Erschwert wird die Situation durch die Koexistenz dreier Rechtssysteme in der Region – dem russischen Recht, dem Gewohnheitsrecht (Adat) und der Scharia. Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt, lokale Behörden richten sich mehr nach „Traditionen“ als nach den russischen Rechtsvorschriften. Insbesondere der Fokus auf traditionelle Werte und Moralvorstellungen, die in der Republik Tschetschenien unter Ramzan Kadyrow propagiert werden, schränkt die Rolle der Frau in der Gesellschaft ein. Das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sprach im Rahmen seiner Empfehlungen an die Russische Föderation in diesem Zusammenhang von einer „Kultur des Schweigens und der Straflosigkeit“ (ÖB Moskau 12.2019). Die Heirat einer 17-jährigen Tschetschenin mit einem 47-jährigen örtlichen Polizeichef im Frühjahr 2015 gilt als Beispiel für die verbreitete Praxis von Zwangsehen. Außerdem weist sie auf eine Form der Polygamie hin, die zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich ist (AA 13.2.2019).

Unter sowjetischer Herrschaft waren tschetschenische Frauen durch die russische Gesetzgebung geschützt. Polygamie, Brautentführungen und Ehrenmorde wurden bestraft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, löste sich der Schutz durch russisches Recht für Frauen allmählich auf, gleichzeitig kam es zu einem stärkeren Einfluss von Adat und Scharia. Unter Kadyrow ist die tschetschenische Gesellschaft traditioneller geworden. Die Behandlung von Frauen, wie sie heute existiert, soll aber nie eine Tradition in Tschetschenien gewesen sein. Frauen sind sowohl unter islamischem Recht als auch im Adat hochgeschätzt (EASO 9.2014). Allerdings ist die Realität in Tschetschenien, dass Gewalt gegen Frauen weit verbreitet und die Situation im Allgemeinen für Frauen schwierig ist. Auch die Religion ist ein Rückschlag für die Frauen und stellt sie in eine den Männern untergeordnete Position (EASO 9.2014, vgl. Welt.de 14.2.2017). Diese Entwicklungen erfolgten in den letzten Jahren. Es ist nicht klar, ob Scharia oder Adat wichtiger für die tschetschenische Gesellschaft sind. Jedoch kann nur das russische Recht Frauen effektiv schützen. Es wird auch berichtet, dass die Scharia immer wichtiger wird, und auch Kadyrow selbst – obwohl er sowohl Adat als auch Scharia betont – sich in letzter Zeit eher auf die Scharia bezieht. Das Adat-Recht dürfte aber besonders bei Hochzeitstraditionen eine dominante Rolle spielen (EASO 9.2014).

Häusliche Gewalt, die überall in Russland ein großes Problem darstellt, gehört in den nordkaukasischen Republiken zum Alltag (Welt.de 14.2.2017). Zivilgesellschaftliche Initiativen widmen sich der Unterstützung nordkaukasischer Frauen und bieten etwa psychologische, rechtliche und medizinische Hilfe an: z.B. die Organisationen „Women for Development“ und „SINTEM“ in Tschetschenien und „Mat‘ i Ditja“ (Mutter und Kind) in Dagestan (ÖB Moskau 12.2019). Im Jahr 2019 eröffnete in Tschetschenien die Organisation Women for Development - eine der ältesten und angesehensten Organisationen in Tschetschenien - mit Unterstützung des Zuschussprogramms für NGOs ein Krisenzentrum für Frauen. Es gab auch Pläne, ein Frauenhaus zu eröffnen; aufgrund der engen familiären Bindungen, die in der Republik herrschen, wäre es aber schwierig gewesen, die Einrichtung vor Männern und ihren Familien geheim zu halten, darum scheiterte dieses Vorhaben. Beamte haben das hohe Maß an Scheidung und häuslicher Gewalt anerkannt und ein Komitee zur Verhütung von Familienkonflikten unter dem Spirituellen Ausschuss der Muslime der Republik Tschetschenien eingerichtet. Mehrere NGOs, die Teil der Koalition der Frauen-NGOs im Nordkaukasus sind, arbeiten an den Themen häusliche Gewalt und Unterstützung für Frauen. „Zulässige“ Themen müssen jedoch in die allgemeine Logik traditioneller, kultureller, spiritueller, religiöser und nationaler Bräuche und Werte passen. Es ist auch wichtig anzumerken, dass die Mehrheit der NGO-Direktoren und Mitarbeiter in Tschetschenien Frauen sind. Der Ausweg aus der humanitären Nachkriegskrise lag direkt auf den Schultern der Frauen, da sich die Mehrheit der männlichen Bevölkerung nicht frei bewegen konnte und ständigen Bedrohungen und Kontrollen ausgesetzt war. Da Frauen in Tschetschenien, als Folge der lokalen traditionellen Kultur, als verantwortlich für Empathie und Fürsorge angesehen werden, sind sie diejenigen, die die meisten gemeinnützigen und sozialen Projekte zusammenstellen, als Psychologinnen arbeiten, sich freiwillig für Kinder engagieren und sich mit den Themen von Familien mit niedrigem Einkommen und Menschen mit Behinderungen beschäftigen (CSIS 1.2020).

In Dagestan werden Geschlechterfragen und Frauenrechte in der Arbeit von Malikat Jabirowas Organisation „Mat i Ditja“ (Mutter und Kind) sowie von der unabhängigen Journalistin Swetlana Anochina mit ihrem „Daptar“-Projekt und ihrer Gruppe „Väter und Töchter“ behandelt, obwohl diese Initiativen nicht die einzigen sind, die in diesem Bereich aktiv sind (CSIS 1.2020).

Vergewaltigung ist laut Artikel 131 des russischen Strafgesetzbuches ein Straftatbestand. Das Ausmaß von Vergewaltigungen in Tschetschenien und anderen Teilen der Region ist unklar, da es im Allgemeinen so gut wie keine Anzeigen gibt. Vergewaltigung in der Ehe wird nicht als Vergewaltigung angesehen. Vergewaltigung ist in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus weit verbreitet, sie passieren auch in Polizeistationen. Es handelt sich um ein Tabuthema in Tschetschenien. Einer vergewaltigten Frau haftet ein Stigma an. Sie wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt, wenn die Vergewaltigung publik wird. Auch die Familie würde isoliert und stigmatisiert werden und es ist nicht unüblich, dass die Familie eine vergewaltigte Frau wegschickt. Die vorherrschende Einstellung ist, dass eine Frau selbst schuld an einer Vergewaltigung sei. Bei Vergewaltigung von Minderjährigen gestaltet sich die Situation etwas anders. Hier wird die Minderjährige eher nicht als an der Vergewaltigung schuld gesehen, wie es einer erwachsenen Frau passieren würde. Insofern ist die Schande für die Familie auch nicht so groß (EASO 9.2014).

Es ist in Tschetschenien üblich, die Ehe auf muslimische Art – durch einen Imam – zu schließen. Solch eine Hochzeit ist jedoch nach russischem Recht nicht legal, da sie weder vor einem Standesbeamten geschlossen noch registriert ist. Nach russischem Recht wird sie erst nach der Registrierung bei der Behörde ZAGS legal, die nicht nur Eheschließungen registriert, sondern auch Geburten, Todesfälle, Adoptionen usw. Da die Registrierung mühsam ist und auch eine Scheidung verkompliziert, sind viele Ehen im Nordkaukasus nicht registriert. Eine Registrierung wird oft nur aus praktischen Gründen vorgenommen, beispielsweise in Verbindung mit dem ersten Kind. Der Imam kann eine muslimische Hochzeit auch ohne Anwesenheit des Bräutigams schließen, jedoch ist laut Scharia die Anwesenheit der Frau nötig (EASO 9.2014).

Tschetschenien erlaubte im September 2017 einigen Frauen und Kindern (Angehörigen von IS-Kämpfern) die Rückkehr aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten. Laut einem Zeitungsbericht vom November 2019 wurden bereits über 100 Kinder aus dem Irak nach Russland zurückgebracht (ÖB Moskau 12.2019).

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Grundversorgung

2018 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in Russland ca. 73,6 Millionen, somit ungefähr 62% der Gesamtbevölkerung. Der Frauenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt knapp 55%. Die Arbeitslosenrate liegt bei 4,7% (WKO 7.2019), diese ist jedoch abhängig von der jeweiligen Region. Russische StaatsbürgerInnen haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 2018). Das BIP lag 2018 bei ca. USD 1.630 Milliarden (WKO 7.2019, vgl. GIZ 2.2020b).

Russland ist einer der größten Rohstoffproduzenten der Welt und verfügt mit einem Viertel der Weltgasreserven (25,2%), circa 6,3% der Weltölreserven und den zweitgrößten Kohlereserven (19%) über bedeutende Ressourcen. Die mangelnde Diversifizierung der russischen Wirtschaft führt jedoch zu einer überproportional hohen Abhängigkeit der Wirtschaftsentwicklung von den Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas. Rohstoffe stehen für ca. 70% der Exporte und finanzieren zu rund 50% den Staatshaushalt. Die Staatsverschuldung in Russland ist mit rund 10% des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar. Strukturdefizite, Finanzierungsprobleme und Handelseinschränkungen durch Sanktionen seitens der USA, Kanadas, Japans und der EU bremsten das Wirtschaftswachstum. Insbesondere die rückläufigen Investitionen und die Fokussierung staatlicher Finanzhilfen auf prioritäre Bereiche verstärken diesen Trend. Das komplizierte geopolitische Umfeld und die Neuausrichtung der Industrieförderung führen dazu, dass Projekte vorerst verschoben werden. Wirtschaftlich nähert sich Russland China an. Im Index of Economic Freedom nimmt Russland 2019 den 98. Platz [2018 Platz 107] unter 180 Ländern ein. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung aus. Seit Anfang 2014 hat die Landeswährung mehr als ein Drittel ihres Wertes im Vergleich zum Euro verloren, was unter anderem an den westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise und dem fallenden Ölpreis liegt. Durch den Währungsverfall sind die Preise für Verbraucher erheblich gestiegen. Die Erhöhung des allgemeinen Satzes der Mehrwertsteuer von 18% auf 20% am Jahresanfang 2019 belastete die Verbrauchernachfrage. Das Wirtschaftswachstum betrug 2019 1,3%. Langfristig befürchten Ökonomen und Behörden ein Erlahmen der Konjunktur, wenn strukturelle Reformen ausbleiben. Diese seien wegen des Rückgangs der erwerbstätigen Bevölkerung und der starken Abhängigkeit Russlands vom Öl- und Gasexport erforderlich (GIZ 2.2020b).

Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen. Staatliche Hilfe können Menschen mit Behinderungen, Senioren und Kinder unter drei Jahren erwarten. Fast 14% der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminimum von derzeit RUB 10.444 [ca. EUR 141] entspricht. Auch der Mindestlohn wurde seit 1.5.2018 an das Existenzminimum angeglichen. Der Warenkorb, der zur Berechnung des Existenzminimums herangezogen wird, ist marktfremd. Die errechnete Summe reicht kaum zum Überleben aus. Diese Entwicklung kann nur teilweise durch die Systeme der sozialen Absicherung aufgefangen werden. In den Regionen, die neben dem föderalen Existenzminimum ein höheres regionales Existenzminimum eingeführt haben, haben die Beschäftigten und die Rentner die Möglichkeit, eine aufstockende Leistung bis zur Höhe des regionalen Existenzminimums zu erhalten. Die Entwicklung hin zur Verarmung ist vorwiegend durch extrem niedrige Löhne verursacht. Diese sind zum einen eine Folge der auf die Schonung der öffentlichen Haushalte zielenden Lohnpolitik. Zwei Drittel aller Einkommen werden von staatlichen Unternehmen oder vom Staat bezahlt, der die Löhne niedrig hält. Zum anderen resultieren die niedrigen Löhne aus der primär auf den Erhalt der Arbeitsplätze fokussierten russischen Beschäftigungspolitik. Ungünstig ist zudem die Arbeitsmarktstruktur. Der größte Teil der Beschäftigten arbeitet im öffentlichen Dienst oder in Unternehmen, die ganz oder teilweise dem Staat gehören (33,4 Mio. von 73,1 Mio. Beschäftigten). Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15-20% für Arbeitnehmer ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen der Arbeitgeber aufgrund fehlender Fortbildungen als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote (21,6%) bei den über 50-Jährigen verstärkt. Folglich müssen Arbeitnehmer bis zum 44. Lebensjahr jede Chance zum Vermögensaufbau nutzen, um sich vor Altersarmut zu schützen. Auch bei Migranten wird beim Lohn gespart. Sie verdienen oft nur den Mindestlohn (AA 13.2.2019).

Die Lage der Rentner (29,5% der russischen Bevölkerung) ist stabil, aber prekär. Die Durchschnittsrente beträgt RUB 13.348 [ca. EUR 180]. Die Durchschnittsaltersrente ist ein wenig höher und beträgt RUB 14.075 [ca. EUR 190]. Sie soll ab 2019 als Ausgleich zu der zugleich eingeführten Anhebung des Rentenalters um fünf Jahre (jährlich um ein Jahr bis auf 60 Jahre bei Frauen und 65 Jahre bei Männern) jährlich um durchschnittlich RUB 1.000 [ca. EUR 14] erhöht werden. Gemessen am Existenzminimum ist das durchschnittliche Rentenniveau zwischen 2012 und Ende 2018 um 18% gesunken. Damit führen die Rentner ein Leben an der Grenze des Existenzminimums und sind stark von den Lebensmittelpreisen abhängig. Dennoch gehören die Rentner nicht zu den Verlierern der Politik. Weil die Rente die verlässlichste staatliche Transferleistung ist, sind die Rentner vielmehr ein Stabilisierungsfaktor in vielen Haushalten geworden. Statistisch ist das Armutsrisiko von Haushalten ohne Rentner dreimal höher als das von Haushalten mit Rentnern. Verlierer der aktuellen Politik sind v.a. ältere Arbeitnehmer, Familien mit Kindern und Arbeitsmigranten. An der Höhe des Existenzminimums gemessen sank das Lohnniveau zwischen 2012 und 2018 um 49%. Seit 1.2.2018 sind die Löhne für alle Mitarbeiter im öffentlichen Dienst um 4% pauschal angehoben worden. Weitere Lohnerhöhungen sind im Bildungssystem und Gesundheitswesen geplant, wo die Löhne 23% respektive 19% unter dem landesweiten Durchschnittslohn liegen (AA 13.2.2019).

Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern, vor allem Großfamilien, Alleinerziehende, Rentner und Menschen mit Behinderung. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren, wie beispielsweise Moskau oder St. Petersburg ist die offizielle Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (knapp 14%), wohingegen beispielsweise in Regionen des Nordkaukasus jeder fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muss. Auch ist prinzipiell die Armutsgefährdung am Land höher als in den Städten. Die soziale Absicherung ist über Renten, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen (beispielsweise Kriegsveteranen, Menschen mit Behinderung, Veteranen der Arbeit) und Mutterschaftsbeihilfen organisiert [bitte vergleichen Sie hierzu Kapitel 20.2 Sozialbeihilfen] (Russland Analysen 21.2.2020a).

Die EU hat die Verlängerung der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland bis Juni 2020 beschlossen (Standard.at 20.6.2019).

[…]

Nordkaukasus

Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 2.2020a, vgl. ÖB Moskau 12.2018), obwohl die föderalen Zielprogramme für die Region mittlerweile ausgelaufen sind. Dennoch hat sich die wirtschaftliche Lage im Nordkaukasus in den letzten Jahren einigermaßen stabilisiert. Wenngleich die föderalen Transferzahlungen wichtig bleiben, konnten in den vergangenen Jahren dank des massiven Engagements der Föderalen Behörden, insbesondere des Nordkaukasus-Ministeriums, signifikante Fortschritte bei der sozio-ökonomischen Entwicklung der Region erzielt werden (ÖB Moskau 12.2019). Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, ist wieder aufgebaut. Problematisch sind allerdings weiterhin die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Armut und Perspektivlosigkeit von Teilen der Bevölkerung. Die Bevölkerungspyramide ähnelt derjenigen eines klassischen Entwicklungslandes mit hohen Geburtenraten und niedrigem Durchschnittsalter und unterscheidet sich damit stark von der gesamtrussischen Altersstruktur (AA 13.2.2019).

Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien im Juni 2019 bei RUB 27.443 [ca. EUR 388] (Chechenstat 2019), landesweit bei RUB 48.453 [ca. EUR 686] im zweiten Quartal 2019 (GKS 16.8.2019). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im August 2019 bei RUB 12.440 [ca. EUR 176] (Chechenstat 2019), landesweit im ersten Halbjahr 2019 bei RUB 14.135 [ca. EUR 200] (GKS 30.7.2019). Das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 lag in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung bei RUB 10.967 [ca. EUR 155], für Pensionisten bei RUB 8.553 [ca. EUR 121] und für Kinder bei RUB 10.552 [ca. EUR 150] (Chechenstat 2019). Landesweit lag das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei RUB 11.553 [ca. EUR 163], für Pensionisten bei RUB 8.894 [ca. EUR 126] und für Kinder bei RUB 10.585 [ca. EUR 150] (RIA Nowosti 23.7.2019).

[…]

Rückkehr

Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Russischen Föderation über die Rückübernahme. Der Rückübernahme geht, wenn die betroffene Person in Österreich über kein gültiges Reisedokument verfügt, ein Identifizierungsverfahren durch die russischen Behörden voraus. Wird dem Rücknahmeersuchen stattgegeben, wird für diese Person von der Russischen Botschaft in Wien ein Heimreisezertifikat ausgestellt. Wenn die zu übernehmende Person im Besitz eines gültigen Reisedokuments ist, muss kein Rücknahmeersuchen gestellt werden. Bei Ankunft in der Russischen Föderation mussten sich bislang alle Rückkehrer beim Föderalen Migrationsdienst (FMS) ihres beabsichtigten Wohnortes registrieren. Dies gilt generell für alle russische Staatsangehörige, wenn sie innerhalb von Russland ihren Wohnort wechseln. 2016 wurde der FMS allerdings aufgelöst und die entsprechenden Kompetenzen in das Innenministerium verlagert. Die Zusammenarbeit zwischen föderalen und regionalen Behörden bei der innerstaatlichen Migration scheint verbesserungsfähig. Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach dem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, wird die ausschreibende Stelle über die Überstellung informiert und diese Person kann, falls ein Haftbefehl aufrecht ist, in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB Moskau 12.2019).

Zur allgemeinen Situation von Rückkehrern, insbesondere im Nordkaukasus, kann festgestellt werden, dass sie vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Dies betrifft etwa bürokratische Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten, die oft nur mit Hilfe von Schmiergeldzahlungen überwunden werden können. Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, zu deren Bewältigung von Problemen zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützend tätig sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt. Im Normalfall sind Rückkehrer aber nicht immer mit Diskriminierung seitens der Behörden konfrontiert (ÖB Moskau 12.2019).

Es besteht keine allgemeine Gefährdung für die körperliche Unversehrtheit von Rückkehrern in den Nordkaukasus. Vereinzelt gibt es Fälle von Tschetschenen, die im Ausland einen negativen Asylbescheid erhalten haben, in ihre Heimat zurückgekehrt sind und nach ihrer Ankunft unrechtmäßig verfolgt worden sind. Das unabhängige Informationsportal Caucasian Knot schreibt in einem Bericht vom April 2016 von einigen wenigen Fällen, in denen Tschetschenen, denen im Ausland kein Asyl gewährt worden ist, nach ihrer Abschiebung drangsaliert worden wären (ÖB Moskau 12.2019). Nach einer aktuellen Auskunft eines Experten für den Kaukasus ist allein die Tatsache, dass im Ausland ein Asylantrag gestellt wurde noch nicht mit Schwierigkeiten bei der Rückkehr verbunden (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Eine erhöhte Gefährdung kann sich nach einem Asylantrag im Ausland bei Rückkehr nach Tschetschenien aber für jene ergeben, die schon vor der Ausreise Probleme mit den Sicherheitskräften hatten (ÖB Moskau 12.2019).

Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von häufig willkürlichem Vorgehen der Polizei gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) finden weiterhin statt (AA 13.2.2019).

Rückkehrende werden grundsätzlich nicht als eigene Kategorie oder schutzbedürftige Gruppe aufgefasst. Folglich gibt es keine individuelle Unterstützung durch den russischen Staat. Rückkehrende haben aber wie alle anderen russischen StaatsbürgerInnen Anspruch auf Teilhabe am Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem, solange sie die jeweiligen Bedingungen erfüllen. Es gibt auch finanzielle und administrative Unterstützung bei Existenzgründungen. Beispielsweise können Mikrokredite für Kleinunternehmen bei Banken beantragt werden. Einige Regionen bieten über ein Auswahlverfahren spezielle Zuschüsse zur Förderung von Unternehmensgründungen an (IOM 2018).

Neben der allgemeinen Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr haben Rückkehrer die Möglichkeit, eines der vom österreichischen Innenministerium unterstützten Reintegrationsprogramme in ihrem Heimatland in Anspruch zu nehmen. Diese freiwilligen Rückkehrer erhalten eine umfassende Beratung und eine Reintegrationsleistung vor Ort (besteht im Wesentlichen aus einer Sachleistung), welche eine erneute Existenzgrundlage im Herkunftsland ermöglichen und somit eine Nachhaltigkeit der Rückkehr fördern soll (ÖB Moskau 12.2019).

[…]

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zum Sachverhalt:

2.1.1. Der oben festgestellte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakte des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, des vorliegenden Verwaltungsaktes des Bundesverwaltungsgerichts sowie der Einsicht in die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.10.2017, XXXX sowie vom 25.02.2019, XXXX , XXXX , XXXX und XXXX .

2.1.2. Die getroffenen Feststellungen zu Identität, Alter, Nationalität, Herkunft und Familienverhältnissen der Beschwerdeführerin gründet auf deren insofern unbedenklichen Angaben in den Vorverfahren, sowie in deren Beschwerde und den in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gemachten Angaben, sowie auf den von der Beschwerdeführerin vorgelegten Dokumenten und sonstigen Unterlagen. Die Identität der Beschwerdeführerin steht fest.

2.1.3. Die Feststellungen zur Schulausbildung der BF in der Russischen Föderation beruhen auf ihren diesbezüglich glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung, sowie den im Verfahren vorgelegten Unterlagen.

2.4. Die Feststellung, dass die BF sehr gute Deutschkenntnisse aufweist, ergibt sich aus dem Eindruck, den der verhandlungsleitende Richter in der mündlichen Beschwerdeverhandlung gewonnen hat. So konnte die BF in der mündlichen Verhandlung weitestgehend völlig ohne Inanspruchnahme des anwesenden Dolmetschers in deutscher Sprache problemlos verstehen und hat wiederholt – auch ohne Zuhilfenahme des Dolmetschers - auf Deutsch problemlos zu sprechen und erklären begonnen.

2.5. Dass die BF im Bundesgebiet mehrere Schulen besucht, jedoch keinen Pflichtschulabschluss hat, ergibt sich aus ihren glaubhaften Angaben vor dem BVwG, sowie dem vorgelegten Jahres- und Abschlusszeugnis des Schuljahres 2013/2014 der Polytechnischen Schule XXXX vom 04.07.2014. Die Feststellung zur Teilnahme an der Maßnahme „externer Pflichtschulabschluss in XXXX “ sowie, dass der BF zur Erlangung des Pflichtschulabschlusses lediglich eine Deutschprüfung fehlt, beruht auf der vorgelegten Bestätigung des BFI XXXX vom 02.06.2020. Dass die BF ein Praktikum in einer Schneiderei absolviert hat, geht aus dem vorgelegten Bestätigungsschreiben vom 23.04.2018 hervor. Die Feststellung bezüglich ihrer Einstellungszusage ergibt sich aus dem vorgelegten Arbeitsvorvertrag vom 10.01.2018 bzw. dem diesbezüglich glaubhaften Vorbringen in der Beschwerdeverhandlung, wonach die BF in der Schneiderei ihrer Tante eine Lehre als Schneiderin beginnen kann.

2.6. Die Feststellung zu den familiären sowie engen privaten, sozialen Bindungen der Beschwerdeführer in Österreich beruht einerseits auf den diesbezüglich glaubhaften Angaben der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung und anderseits auf den im Akt einliegenden und persönlich unterschriebenen Empfehlungs- und Unterstützungsschreiben, an deren Echtheit keine Zweifel aufgekommen sind. Dass die BF mit ihrer Mutter und ihrem minderjährigen Bruder in einem gemeinsamen Haushalt lebt, beruht auf ihrer Aussage in der mündlichen Verhandlung des BVwG in Zusammenhalt eines aktuellen ZMR-Auszuges der BF sowie ihrer Mutter, wonach sie an derselben Adresse, in einem Quartier der Fremdenpolizei, gemeldet sind.

2.7. Dass sich die BF in Grundversorgung befindet, ergibt sich aus einem aktuellen GVS-Auszug.

2.8. Die Feststellung zur strafrechtlichen Unbescholtenheit beruht auf einem Strafregisterauszug des Strafregisters der Republik Österreich.

2.9. Die zur Lage in der Russischen Föderation getroffenen Feststellungen basieren auf Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen und stellen eine hinreichende Basis zur Beurteilung des Vorbringens der Beschwerdeführerin dar. Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen, sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Gemäß § 6 BVwG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Eine derartige Regelung wird in den einschlägigen Normen (VwGVG, BFA-VG, AsylG 2005) nicht getroffen, und es liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

3.2. Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

3.3. Gemäß § 3 BFA-G, BGBl. I 87/2012 idF BGBl. I 70/2015, obliegt dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Vollziehung des BFA-VG (Z 1), die Vollziehung des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100 (Z 2), die Vollziehung des 7., 8. und 11. Hauptstückes des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100 (Z 3) und die Vollziehung des Grundversorgungsgesetzes – Bund 2005, BGBl. I Nr. 100 (Z 4).

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

3.4. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Zu A)

3.5. Zu Spruchpunkt A) Ausspruch über die Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung auf Dauer und Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung“:

Gemäß § 10 Abs. 1 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn

„1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,

2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,

3. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

4. einem Fremden der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder 5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird

und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie in den Fällen der Z 1 bis 5 kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 vorliegt.

(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.

(3) Wird der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 abgewiesen, so ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden. Wird ein solcher Antrag zurückgewiesen, gilt dies nur insoweit, als dass kein Fall des § 58 Abs. 9 Z 1 bis 3 vorliegt.“

Gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:

„1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Abs. 1a FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.“

3.5.1. Die Beschwerdeführerin befindet sich seit 13.10.2008 im Bundesgebiet und ihr Aufenthalt ist nicht geduldet. Sie sind nicht Zeugen oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch keine Opfer von Gewalt im Sinne der Ziffer 2 und 3 leg cit. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen daher nicht vor, wobei dies weder im Verfahren, noch in der Beschwerde auch nur behauptet wurde.

Der mit „Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK“ übertitelte § 55 AsylG, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF., lautet wie folgt:

„(1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1.

dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist

und

2.

der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG),

BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt,

mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG),

BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.

           

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.“

Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist gemäß § 9 Abs. 4 IntG, BGBl. I Nr. 68/2017, idgF, erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige

„1.

einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung

gemäß § 11 vorlegt,

2.

einen gleichwertigen Nachweis gemäß § 11 Abs. 4 über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung vorlegt,

3.

über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 Universitätsgesetz 2002,

BGBl. I Nr. 120/2002, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht,

4.

einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte“ gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt oder

5.

als Inhaber eines Aufenthaltstitels „Niederlassungsbewilligung – Künstler“ gemäß § 43a NAG eine künstlerische

Tätigkeit in einer der unter § 2 Abs. 1 Z 1 bis 3 Kunstförderungsgesetz, BGBl. I Nr. 146/1988, genannten Kunstsparte ausübt; bei Zweifeln über das Vorliegen einer solchen Tätigkeit ist eine diesbezügliche Stellungnahme des zuständigen Bundesministers einzuholen.

Die Erfüllung des Moduls 2 (§ 10 ) beinhaltet das Modul 1.“

  

Die Erfüllung des Moduls 2 (§ 10 ) beinhaltet das Modul 1.“

Das Modul 2 der Integrationsvereinbarung ist gemäß § 10 Abs. 2 Z 5 IntG, BGBl. I Nr. 68/2017, idgF, erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige

„einen mindestens fünfjährigen Besuch einer Pflichtschule in Österreich nachweist und das Unterrichtsfach „Deutsch“ positiv abgeschlossen hat oder das Unterrichtsfach „Deutsch“ auf dem Niveau der 9. Schulstufe positiv abgeschlossen hat oder eine positive Beurteilung im Prüfungsgebiet „Deutsch – Kommunikation und Gesellschaft“ im Rahmen der Pflichtschulabschluss-Prüfung gemäß Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz, BGBl. I Nr. 72/2012 nachweist;“

Der mit „Schutz des Privat- und Familienlebens“ übertitelte § 9 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012, idgF, lautet:

„(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)

(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.

(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.“

Gemäß Art 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Ob eine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegt, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, sowie des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes, jeweils von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Die Regelung erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. In diesem Sinn wird eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden (und seiner Familie) schwerer wiegen würden, als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen.

Bei der Interessenabwägung sind – wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – insbesondere die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht, Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat-und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, zu berücksichtigen (vgl. VfGH 29.9.2007, B 1150/07; 12.6.2007, B 2126/06; VwGH 26.6.2007, 2007/01/479; 26.1.2006, 2002/20/0423; 17.12.2007, 2006/01/0216; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention2, 194; Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl-und Fremdenrecht K15 ff zu § 9 BFA-VG).

Das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundene Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (EGMR 27. 10. 1994, Kroon u.a. gg. die Niederlande, ÖJZ 1995, 296; siehe auch VfGH 28. 6. 2003, G 78/00).

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt (vgl. dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

Das Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK umfasst auch nicht formalisierte eheähnliche Lebensgemeinschaften zwischen Mann und Frau; bei solchen ist normalerweise das Zusammenleben der beiden Partner in einem gemeinsamen Haushalt erforderlich, es können aber auch andere Faktoren, wie etwa die Dauer oder die Verbundenheit durch gemeinsame Kinder unter Beweis stellen, dass die Beziehung hinreichend konstant ist (EGMR vom 27.10.1994, 18535/91 Kroon und andere gg. die Niederlande, Z 30; EGMR vom 22.04.1997, 21.830/93, X,Y und Z gg. Vereinigtes Köngreich, Z 36).

Sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als auch der Verwaltungsgerichtshof stellen in ihrer Rechtsprechung darauf ab, ob das Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die betroffenen Personen bewusst waren, der Aufenthaltsstatus eines Familienmitgliedes sei derart, dass der Fortbestand des Familienlebens im Gastland von vornherein unsicher ist (VwGH vom 30.04.2009, 2009/21/086, VwGH vom 19.02.2009, 2008/18/0721 und die dort zitierte EGMR-Judikatur).

Nach der Rechtsprechung des EGMR garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (z.B. eine Ausweisungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. EGMR 8. 4. 2008, Nnyanzi gg. das Vereinigte Königreich, Appl. 21.878/06; 4. 10. 2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 9. 10. 2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16. 6. 2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554).

Aufenthaltsbeendende Maßnahmen stellen regelmäßig einen Eingriff in das Privatleben dar, weil sie die betroffene Person aus ihrem sozialen Umfeld herausreißen. Nach der Rechtsprechung des EGMR hängt es von den Umständen des jeweiligen Falles ab, ob es angebracht ist, sich eher auf den Gesichtspunkt des Familienlebens zu konzentrieren als auf den des Privatlebens (EGMR 23.04.2015, 38030/12, Khan, Rn. 38; 05.07.2005, Große Kammer, 46410/99, Üner, Rn. 59). Die Prüfung am Maßstab des Privatlebens ist jedoch weniger streng als jene am Maßstab des Familienlebens, weshalb letztere in der Praxis im Vordergrund steht (Ewald Wiederin, Schutz der Privatsphäre, in: Merten/Papier/Kucsko-Stadlmayer [Hg.], Handbuch der Grundrechte VII/1, 2. Aufl., § 10, Rn. 52).

Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art 8 Abs 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516 und VwGH vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).

Unter "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. EuGRZ 2006, 554, Sisojeva ua. vs. Lettland). In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.

Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 EMRK, in ÖJZ 2007, 852 ff, aber auch VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479, wonach ein dreijähriger Aufenthalt "jedenfalls" nicht ausreichte, um daraus eine rechtlich relevante Bindung zum Aufenthaltsstaat abzuleiten, so im Ergebnis auch VfGH 12.06.2013, U485/2012). Die Umstände, dass ein Fremder perfekt Deutsch spricht sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert ist, stellen keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale dar (Hinweis E 26. November 2009, 2008/18/0720). Auch die strafgerichtliche Unbescholtenheit (vgl. § 66 Abs. 2 Z. 6 FrPolG 2005) vermag die persönlichen Interessen des Fremden nicht entscheidend zu stärken (VwGH 25.02.2010, Zl. 2010/18/0029). Vom Verwaltungsgerichtshof wurde im Ergebnis auch nicht beanstandet, dass in Sprachkenntnissen und einer Einstellungszusage keine solche maßgebliche Änderung des Sachverhalts gesehen wurde, die eine Neubeurteilung im Hinblick auf Art. 8 MRK erfordert hätte (vgl. VwGH 19.11.2014, Zl. 2012/22/0056; VwGH 19.11.2014, Zl. 2013/22/0017).

Private Interessen am Verbleib im Bundesgebiet können facettenreich sein. Tendenziell ist eine (regelmäßige) Erwerbstätigkeit und vor allem die damit verbundene Selbsterhaltungsfähigkeit ein wichtiger Aspekt. Im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 20. 4. 2006, 2005/18/0560, dürfte mitentscheidend gewesen sein, dass der Beschwerdeführer seit fast fünf Jahren ununterbrochen, noch dazu beim selben Dienstgeber, legal beschäftigt war. Für die wirtschaftliche Integration ist nicht maßgeblich, ob es sich um eine qualifizierte Tätigkeit handelt. Hingegen erachtet der Verwaltungsgerichtshof die Integration als stark gemindert, wenn Unterstützungszahlungen karitativer Einrichtungen oder bloße Gelegenheitsarbeiten den Unterhalt gewährleisten oder erst gegen Ende des mehrjährigen Aufenthalts die Tätigkeit als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter ins Treffen geführt werden kann und bis dahin Sozialhilfe bezogen wurde (vgl. VwGH 11. 10. 2005, 2002/21/0124; VwGH 22. 6. 2006, 2006/21/0109; VwGH 5. 7. 2005, 2004/21/0124 u.a.).

Als eine berufliche und soziale Verfestigung, die eine "gelungene Integration" erkennen lässt, wertete der Verwaltungsgerichtshof den Fall eines als Fliesenleger tätigen (ehemaligen) Asylwerbers, der über gute Deutsch-Kenntnisse, einen großen Freundes- und Kollegenkreis verfügte und mit einer Österreicherin im gemeinsamen Haushalt wohnte, wobei auch seine Schwester, eine österreichische Staatsbürgerin, mit ihrer Familie im Bundesgebiet lebte. Aspekte zugunsten des/der Fremden können daher neben Verwandten und Freunden im Inland auch Sprachkenntnisse, ausreichender Wohnraum und die Teilnahme am sozialen Leben sein. In Anbetracht der meistens nicht sehr langen Aufenthaltsdauer und des "abgeschwächten" Aufenthaltsrechts werden strafgerichtliche Verurteilungen die Interessenabwägung erheblich zuungunsten der privaten Interessen verschieben. Weitgehende Unbescholtenheit gilt hingegen als wichtiges Element für die Annahme sozialer Integration (vgl. VwGH 5. 7. 2005, 2004/21/0124 u.a.; sowie Marx, Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG wegen Verwurzelung, ZAR, 2006, 261 ff).

3.5.2. Die Beschwerdeführerin verfügt im Bundesgebiet über familiäre Anknüpfungspunkte in den Personen ihrer Mutter, ihrer beiden Brüder, ihrer beiden Tanten und ihres Onkels. Die BF lebt mit ihrer Mutter und ihrem minderjährigen Bruder in einem gemeinsamen Haushalt in einer Unterkunft der Fremdenpolizei. Sie lebt jedoch weder im gemeinsamen Haushalt mit ihrem volljährigen Bruder, ihrem Onkel sowie ihren Tanten, noch konnte die Beschwerdeführerin eine Beziehungsintensität zu ihnen glaubhaft machen, welche ein gemeinsames schützenswertes Familienleben der BF mit diesen im Bundesgebiet belegen würde, in welches durch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme in unzulässiger Weise eingegriffen werden könnte. Vielmehr liegt ein schützenswertes Familienleben lediglich mit ihrer Mutter und ihrem minderjährigen Bruder vor, deren Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels jedoch rechtskräftig negativ entschieden wurden. Die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung ist daher sowohl an der Schranke des Familienlebens als auch an jener des Privatlebens zu messen.

3.5.2.1. Die unbescholtene BF lebt seit 13.10.2008, mit einer 9-monatigen Unterbrechung, in der sie sich in Deutschland aufhielt, im Bundesgebiet, sohin seit über 11 Jahren.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die im Inland verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, werden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach einem so langen Inlandsaufenthalt noch als verhältnismäßig angesehen (vgl. VwGH 08.11.2018, Ra 2016/22/0120; 17.10.2016, Ro 2016/22/0005; VwGH 14.4.2016, Ra 2016/21/0029;). Diese Rechtsprechung wurde vom Verwaltungsgerichtshof wiederholt auch auf Fälle übertragen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag (vgl. zu einem ungefähr neuneinhalbjährigen Aufenthalt VwGH 30.7.2014, 2013/22/0226; 9.9.2014, 2013/22/0247; 16.12.2014, 2012/22/0169).

3.5.2.2. Wie oben angeführt, befindet sich die BF bereits mehr als 11 Jahre im Bundesgebiet. Wie im Folgenden näher ausgeführt, kann in casu nicht erkannt werden, dass die Beschwerdeführerin die im Inland verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hätte, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Die BF hat sich im Zeitraum ihres Aufenthaltes in Österreich vielmehr um eine umfassende Integration bemüht: Sie verfügt über sehr gute Deutschkenntnisse, wovon sich das erkennende Gericht auch in der mündlichen Verhandlung selbst überzeugen konnte. Die BF konnte und wollte wiederholt in der Verhandlung weitestgehend ohne Dolmetscher sprechen und verstehen. Sie hat in Österreich mehrfach verschiedene Schulen besucht, den Pflichtschulabschluss jedoch aufgrund zahlreicher Umzüge nicht erlangt. Diesen versucht sie seit Februar 2019 nachzuholen und hat sie diesbezüglich die Maßnahme „externer Pflichtschulabschluss in XXXX “ ein Jahr lang von 18.02.2019 bis 12.02.2020 besucht, wobei ihr nur mehr eine Deutschprüfung zur Erlangung ihres Pflichtschulabschlusses fehlt. Vor dem Hintergrund eines bereits nachweislich absolvierten Praktikums im April 2018 in einer Schneiderei im Bundesgebiet, als auch ihrer im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargetanen Arbeitswilligkeit und Interesse an einer Schneiderlehre – insbesondere auch aufgrund ihrer vorgelegten Skizzen, sowie durch das Vorliegen einer konkreten Einstellungszusage als Näherin und Büglerin – im Falle einer Aufenthaltsbewilligung – ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von einer künftigen Selbsterhaltungsfähigkeit der BF in Österreich auszugehen. Aufgrund dieser neuen Aspekte haben sich nach Ansicht des erkennenden Gerichts seit rechtskräftigem Abschluss des letzten Asylverfahrens mit 27.10.2017 mittlerweile sehr wohl wesentliche Änderungen ergeben.

3.5.2.3. Letztlich hat die Beschwerdeführerin dargetan, dass sie auch in sozialer Hinsicht alle Anstrengungen unternommen hat und auch künftig unternehmen wird, um sich in Österreich nachhaltig gesellschaftlich zu integrieren. Sie ist als 11-jährige nach Österreich gekommen, hat hier die Schule besucht und prägende Jahre ihrer Jugend im Bundesgebiet verbracht, in der sie, wie in jenem Alter üblich, soziale Kontakte geknüpft hat, wie die vorgelegten persönlichen Empfehlungsschreiben ebenso unzweifelhaft belegen.

Festzuhalten ist auch, dass die BF unbescholten ist und strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist, wobei die strafgerichtliche Unbescholtenheit allein die persönlichen Interessen eines Fremden am Verbleib in Österreich gemäß der verwaltungsgerichtlichen Judikatur nicht entscheidend zu verstärken vermag (vgl. VwGH 25.02.2010, 2010/0018/0029).

3.5.2.4. Es wird nicht verkannt, dass zu Lasten der BF zu werten ist, dass der Aufenthalt der BF mit rechtskräftiger Abweisung des ersten Antrages auf internationalen Schutz durch den Asylgerichtshof am 17.09.2012 unrechtmäßig wurde und sie ihrer Ausreiseverpflichtung nicht Folge leistete, sowie zwei weitere unberechtigte Anträge auf internationalen Schutz stellte. Auch die aktuell gegebene mangelnde Selbsterhaltungsfähigkeit ist zu ihren Lasten zu werten.

3.5.2.5. Ausgehend von obiger Rechtsprechung ist die Aufenthaltsdauer der BF im Bundesgebiet jedenfalls als sehr lange zu qualifizieren und daher besteht aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes vor diesem Hintergrund und unter gleichzeitiger Berücksichtigung der oben dargestellten integrativen Leistungen der BF, deren Erfolg in der Aneignung der deutschen Sprache, deren offenkundiges Bemühungen um berufliche Integration und dem nachweislichen Bestreben der sich weiter fortzubilden, sowie der glaubhaft gemachten sozialen Integration, deshalb ein überwiegendes Interesse der Beschwerdeführerin am Verbleib in Österreich. Vielmehr würden die Auswirkungen einer Rückkehrentscheidung auf die Lebenssituation der Beschwerdeführerin vor dem Hintergrund der bisher unternommenen Anstrengungen der Beschwerdeführerin und des sich daraus entwickelten, schützenswerten Privatlebens der BF in Österreich schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

3.5.2.6. Berücksichtigt man all diese Aspekte, so überwiegen - im Rahmen einer Gesamtbetrachtung im gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt - die aus den erwähnten Umständen in ihrer Gesamtheit erwachsenden privaten Interessen der Beschwerdeführerin am Verbleib im österreichischen Bundesgebiet und an der Fortführung ihres bestehenden Privatlebens in Österreich die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens. Eine Rückkehrentscheidung gegen die Beschwerdeführer würde sich daher zum maßgeblichen aktuellen Entscheidungszeitpunkt als unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK erweisen.

3.5.3. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass die drohende Verletzung des Privatlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer sind. Die Rückkehrentscheidung würde daher unverhältnismäßig in das Privatleben der Beschwerdeführerin eingreifen und war daher gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG auszusprechen, dass die Rückkehrentscheidungen gegen die Beschwerdeführerin auf Dauer unzulässig ist.

Letztlich darf noch angemerkt werden, dass die von der BF vorgebrachten Nachfluchtgründe, die mehrmalige Betonung ihrer westlichen Orientierung in der mündlichen Verhandlung, sowie die Angst vor Zwangsheirat, bei der alleinigen Frage eines Aufenthaltstitels keine Relevanz haben, weshalb im gegenständlichen Erkenntnis darauf nicht einzugehen war.

3.5.4. Die BF hat durch den Umstand, dass sie das Unterrichtsfach „Deutsch“ auf dem Niveau der 9. Schulstufe des Polytechnikum XXXX positiv abgeschlossen hat, jedenfalls iSd § 10 Abs. 2 Z 5 IntG nachgewiesen, dass sie das Modul 2 der Integrationsvereinbarung erfüllt hat, sodass ihr daher eine "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 zu erteilen war.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

3.6. Zur Behebung der Spruchpunkte III und IV des angefochtenen Bescheides:

3.6.1. Da das Bundesverwaltungsgericht zur Auffassung gelangt ist (siehe Ausführungen zu II.3.5.), dass in casu die Rückkehrentscheidungen gegen die Beschwerdeführerin gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist und ihr eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 AsylG zu erteilen war, war in Folge hinsichtlich der Spruchpunkte III. und IV der angefochtenen Bescheide spruchgemäß zu entscheiden und diese somit zu beheben.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.

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