VfGH V34/2021 ua

VfGHV34/2021 ua16.6.2021

Aufhebung einer Bestimmung der COVID-19-LockerungsV betreffend die Einhaltung eines Mindestabstands von einem Meter im Freien gegenüber Personen aus einem anderen Haushalt mangels ausreichender Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen

Normen

B-VG Art139 Abs1 Z1
COVID-19-MaßnahmenG §1, §2, §3
COVID-19-LockerungsV BGBl II 197/2020 §1 Abs1
VfGG §7 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2021:V34.2021

 

Spruch:

I. §1 Abs1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID‑19 ergriffen wurden (COVID‑19-Lockerungsverordnung – COVID‑19‑LV), BGBl II Nr 197/2020, war gesetzwidrig.

II. Die als gesetzwidrig festgestellte Bestimmung ist nicht mehr anzuwenden.

III. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

1. Mit seinem auf Art139 Abs1 Z1 B‑VG gestützten, beim Verfassungsgerichtshof zu V34/2021 protokollierten Antrag begehrt das Verwaltungsgericht Wien, der Verfassungsgerichtshof möge aussprechen, dass §1 Abs1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID‑19 ergriffen wurden (COVID‑19-Lockerungsverordnung – COVID‑19‑LV), BGBl II 197/2020, in eventu, dass §1 Abs1 sowie der letzte Satz des §9 Abs1a, die Wortfolge "1 und" in §9 Abs1b sowie die Wortfolge ", sofern sich dies nicht ohnedies aus §1 Abs1 ergibt," in §10 Abs6 dieser Verordnung idF BGBl II 197/2020 bzw idF BGBl II 207/2020 gesetzwidrig war(en).

2. Mit seinem auf Art139 Abs1 Z1 B‑VG gestützten, beim Verfassungsgerichtshof zu V136/2021 protokollierten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Steiermark, der Verfassungsgerichtshof möge aussprechen, dass §1 Abs1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID‑19 ergriffen wurden, BGBl II 197/2020, gesetzwidrig war.

II. Rechtslage

1. Die §§1, 2 und 3 Abs3 des Bundesgesetzes betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 (COVID‑19‑Maßnahmengesetz – COVID‑19‑MG), BGBl I 12/2020 (§§1 und 2 idF BGBl I 23/2020), lauteten wie folgt:

"Betreten von Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und

Dienstleistungen sowie Arbeitsorte

 

§1. Beim Auftreten von COVID‑19 kann der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz durch Verordnung das Betreten von Betriebsstätten oder nur bestimmten Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen oder Arbeitsorte im Sinne des §2 Abs3 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz untersagen, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 erforderlich ist. In der Verordnung kann geregelt werden, in welcher Zahl und zu welcher Zeit jene Betriebsstätten betreten werden dürfen, die vom Betretungsverbot ausgenommen sind. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen Betriebsstätten oder Arbeitsorte betreten werden dürfen.

 

Betreten von bestimmten Orten

 

§2. Beim Auftreten von COVID‑19 kann durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 erforderlich ist. Die Verordnung ist

 

1. vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt,

2. vom Landeshauptmann zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Landesgebiet erstreckt, oder

3. von der Bezirksverwaltungsbehörde zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf den politischen Bezirk oder Teile desselben erstreckt.

 

Das Betretungsverbot kann sich auf bestimmte Zeiten beschränken. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen jene bestimmten Orte betreten werden dürfen.

 

[…]

 

Strafbestimmungen

 

§3. (1) […]

 

(2) […]

 

(3) Wer einen Ort betritt, dessen Betreten gemäß §2 untersagt ist, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 3 600 Euro zu bestrafen."

2. Die §§1 und 13 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID‑19 ergriffen wurden (COVID‑19-Lockerungsverordnung – COVID‑19‑LV), BGBl II 197/2020, lauteten wie folgt (die mit dem Hauptantrag des Verwaltungsgerichtes Wien und dem Antrag des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben):

"Auf Grund der §§1 und 2 Z1 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, BGBl I Nr 12/2020, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl I Nr 23/2020 und des §15 des Epidemiegesetzes 1950, BGBl Nr 186/1950, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl I Nr 23/2020 wird verordnet:

 

Öffentliche Orte

 

§1. (1) Beim Betreten öffentlicher Orte im Freien ist gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten.

 

(2) Beim Betreten öffentlicher Orte in geschlossenen Räumen ist gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten und eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen.

 

(3) Im Massenbeförderungsmittel ist gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten und eine den Mund- und Nasenbereich abdeckende mechanische Schutzvorrichtung zu tragen. Ist auf Grund der Anzahl der Fahrgäste sowie beim Ein- und Aussteigen die Einhaltung des Abstands von mindestens einem Meter nicht möglich, kann davon ausnahmsweise abgewichen werden.

 

Inkrafttreten

 

§13. (1) Diese Verordnung tritt mit 1. Mai 2020 in Kraft und mit Ablauf des 30. Juni 2020 außer Kraft.

 

(2) Mit Ablauf des 30. April 2020 treten

1. die Verordnung betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19, BGBl II Nr 96/2020, und

2. die Verordnung gemäß §2 Z1 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, BGBl II Nr 98/2020, außer Kraft."

3. Die Novelle BGBl II 207/2020 zur COVID‑19‑LV fügte dieser mit Wirkung vom 15. Mai 2020 insbesondere §9 Abs1a und 1b sowie §10 Abs6 ein bzw an. §9 Abs1a und 1b und §10 Abs6 der COVID‑19‑LV, BGBl II 197/2020 idF BGBl II 207/2020, lauteten wie folgt (die mit dem Eventualantrag des Verwaltungsgerichtes Wien angefochtenen Verordnungsstellen sind hervorgehoben):

 

"Sonstige Einrichtungen

 

§9. (1) […]

 

(1a) Das Betreten des Besucherbereichs von Museen, Ausstellungen, Bibliotheken, Büchereien und Archiven samt deren Lesebereichen sowie von Tierparks und Zoos ist unter den Voraussetzungen des §2 Abs1 Z1 bis 5 zulässig. Sofern sich der Besucherbereich im Freien befindet, gilt §1 Abs1.

 

(1b) Das Betreten der Einrichtungen und Teilnahme an Angeboten der außerschulischen Jugenderziehung und Jugendarbeit ist unter den Voraussetzungen des §2 Abs1 Z1 bis 4 und §1 Abs1 und 2 zulässig.

 

Veranstaltungen

 

§10. (1) […]

 

[…]

 

(6) Bei Religionsausübung im Freien ist, sofern sich dies nicht ohnedies aus §1 Abs1 ergibt, gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten. Darüber hinaus hat der Veranstalter sicherzustellen, dass durch geeignete Schutzmaßnahmen das Infektionsrisiko minimiert wird."

4. §1 Abs1 COVID‑19‑LV wurde (erstmals) mit der 5. COVID‑19‑LV-Novelle, BGBl II 266/2020, mit Wirkung vom 15. Juni 2020 geändert und mit der 9. COVID‑19‑LV-Novelle, BGBl II 342/2020, mit Wirkung vom 30. Juli 2020 aufgehoben.

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Beim Landesverwaltungsgericht Wien ist zur Zahl VGW‑031/019/10231/2020‑4 eine Bescheidbeschwerde gegen ein Straferkenntnis des Magistrates der Stadt Wien vom 17. Juli 2020 anhängig, mit welchem über den Beschwerdeführer im Anlassverfahren wegen einer Übertretung der §§1, 2 Z1 und 3 Abs3 COVID‑19-Maßnahmengesetz iVm §1 Abs1 der COVID‑19-Lockerungsverordnung, BGBl II 197/2020, eine Geldstrafe in Höhe von € 160,‑‑, für den Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe im Ausmaß von vier Stunden, verhängt wurde, weil dieser am 16. Mai 2020 um 23:57 Uhr an einem näher bezeichneten Ort im Bereich des Währinger Gürtels in Wien den Gehsteig und somit einen öffentlichen Ort betreten und dabei gegenüber anderen, nicht näher genannten Personen, die nicht mit dem Beschwerdeführer im gemeinsamen Haushalt leben, den Mindestabstand von einem Meter nicht eingehalten habe. Aus Anlass dieses Verfahrens stellt das Verwaltungsgericht Wien den vorliegenden Antrag gemäß Art139 Abs1 Z1 B‑VG an den Verfassungsgerichtshof.

2. Beim Landesverwaltungsgericht Steiermark ist zur Zahl LVwG 30.11‑1840/2020 eine Bescheidbeschwerde gegen ein Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg vom 21. Juli 2020 anhängig, mit welchem über den Beschwerdeführer im Anlassverfahren wegen einer Übertretung der §§1, 2 Z1 und §3 Abs3 COVID‑19-Maßnahmengesetz iVm §1 Abs1 COVID‑19-Lockerungsverordnung, BGBl II Nr 197/2020, eine Geldstrafe in Höhe von € 150,‑‑, für den Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe im Ausmaß von 14 Stunden, verhängt wurde, weil dieser am 2. Mai 2020 um 14:40 Uhr einen näher bezeichneten öffentlichen Ort im Freien betreten und gegenüber einer anderen, näher bezeichneten Person, die nicht mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebt, den Mindestabstand von einem Meter nicht eingehalten habe. Aus Anlass dieses Verfahrens stellt das Landesverwaltungsgericht Steiermark den vorliegenden Antrag gemäß Art139 Abs1 Z1 B‑VG an den Verfassungsgerichtshof.

3. Das Verwaltungsgericht Wien führt zur Zulässigkeit seines hg. zu V34/2021 protokollierten Antrages unter näherer Auseinandersetzung mit §1 Abs2 VStG aus, es habe die mit seinem Hauptantrag angefochtene Verordnungsbestimmung auf Grund der in dem bei ihm bekämpften Straferkenntnis zugrunde gelegten Tatzeit (16. Mai 2020) unmittelbar anzuwenden, auch wenn diese Bestimmung mittlerweile außer Kraft getreten sei.

Das Verwaltungsgericht Wien legt seine Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, wie folgt dar:

"§1 Abs1 der COVID‑19-Lockerungsverordnung (sowohl in der Stammfassung als auch in der Fassung BGBI II 266/2020) hatte seine Rechtsgrundlage in §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz, BGBl I 12/2020 idF der Novelle BGBl I 23/2020 (sohin vor der Novellierung der genannten Bestimmung durch BGBI I 104/2020). §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz in der Fassung BGBI II 23/2020 ermächtigte den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz beim Auftreten von COVID‑19 dazu, durch Verordnung 'das Betreten von bestimmten Orten' zu untersagen, 'soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 erforderlich ist.' In der Verordnung kann auch geregelt werden, 'unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen jene bestimmten Orte betreten werden dürfen.'

 

§2 COVID‑19-Maßnahmengesetz idF BGBI I 23/2020 übertrug dem Verordnungsgeber eine weitreichende Ermächtigung, zumal der Verordnungsgeber gestützt auf die erwähnte Verordnungsbestimmung auch ermächtigt ist, mitunter umfassende Beschränkung von verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten anzuordnen. Unter Beachtung des Art18 B‑VG determiniert die erwähnte Verordnungsermächtigung den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz als verordnungserlassende Behörde in mehrfacher Hinsicht, wie dies der Verfassungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits wiederholt zum Ausdruck gebracht hat (VfGH 14.7.2020, V363/2020; 14.7.2020, V411/2020; 1.10.2020, G271/2020, V463‑467/2020, 1.10.2020, V428/2020). So sind vom Verordnungsgeber insbesondere die Vorgaben des Legalitätsprinzips des Art18 B‑VG und das System der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte und die sich daraus ergebende Grundrechtsordnung zu beachten (vgl nochmals VfGH 1.10.2020, G271/2020, V463‑467/2020).

 

Angesichts der weitreichenden Ermächtigung des Verordnungsgebers verpflichtete §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz, BGBl I 12/2020, idF BGBl I 23/2020, vor dem Hintergrund des Art18 Abs2 B‑VG den Verordnungsgeber im einschlägigen Zusammenhang – also bei der Setzung von Maßnahmen zur Hintanhaltung der Ausbreitung von SARS‑COVID‑19 – auch, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen naturgemäß nicht überspannt werden, sie bestimmen sich maßgeblich danach, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist (vgl nochmals VfGH 1.10.2020, G271/2020, V463‑467/2020). Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu. Mangelt es aber an einer entsprechenden aktenmäßigen Dokumentation, entspricht die Verordnung schon aus diesem Grund den gesetzlichen Vorgaben des §2 COVID‑19-Maßnahmengesetzes nicht. Bei der entsprechenden Beurteilung ist der Zeitpunkt der Erlassung der entsprechenden Verordnungsbestimmung und die dieser zugrundeliegenden aktenmäßigen Dokumentation maßgeblich.

 

Nach Auffassung des antragstellenden Gerichtes mangelt es – nach Durchsicht der von der verordnungserlassenden Behörde vorgelegten Verordnungsakten – im Hinblick auf die COVID‑19-Lockerungsverordnung, BGBl II 197/2020, und somit auch im Hinblick auf §1 Abs1 leg.cit. an einer entsprechenden aktenmäßigen Dokumentation hinsichtlich der von der Verordnungserlassenden Behörde gesetzten Maßnahmen:

 

In dem vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz vorgelegten Verordnungsakt, der der Erlassung der (Stammfassung der) COVID‑19-Lockerungsverordnung, BGBI II 197/2020, zugrunde liegt, wird unter der Rubrik 'Sachverhalt' ausgeführt: 'Inliegend der Entwurf der LockerungsVO, welche die VO 96/2020 idgF und 98/2020 idgF ablöst. Es sind darin die ab 1. Mai gelten Regelungen hinsichtlich der Maßnahmen in Betriebsstätten, bei Veranstaltungen, in Massenbeförderungsmitteln, etc. geregelt. Die inliegende VO wäre nunmehr durch HBM zu unterfertigen und der Kundmachung zuzuleiten'. Darüber hinaus finden sich in diesem Verwaltungsakt keine weiteren, im Hinblick auf die gesetzliche Grundlage des §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz relevanten Ausführungen oder Unterlagen, sondern lediglich zwei Entwürfe (vom 28. April 2020, 22.00 Uhr, und vom 30. April 2020, 17.00 Uhr), eine 'finale Version' (ebenfalls vom 30. April 2020) sowie die vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz unterfertigte Verordnung, jeweils ohne Anmerkungen. Es ist somit in den vorgelegten Verordnungsakten keinerlei 'aktenmäßige Dokumentation' enthalten, welche als (Entscheidungs)Grundlage für die Erlassung der COVID‑19-Maßnahmenverordnung – und somit auch der angefochtenen Bestimmung – gedient hat.

 

Fehlt es aber einer Verordnung, deren gesetzliche Grundlage bei der Erlassung §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz, BGBI I 12/2020, idF BGBl 23/2020, gebildet hat, an jeglicher aktenmäßigen Dokumentation jener Gründe, die die verordnungserlassende Behörde zur Setzung bestimmter Maßnahmen (im konkreten Fall der Anordnung der Einhaltung eines Mindestabstandes von einem Meter zu nicht im gleichen Haushalt lebenden Personen) bestimmt hat, so ist die Verordnung schon aus diesem Grund gesetzwidrig (vgl zu einer Wortfolge in §1 Abs2 COVID‑19-Lockerungsverordnung: VfGH 1.10.2020, G271/2020, V463‑467/2020).

 

Das Verwaltungsgericht Wien ist daher der Ansicht, dass die angefochtene Verordnungsbestimmung des §1 Abs1 der COVID‑19-Lockerungsverordnung mangels entsprechender aktenmäßiger Dokumentation seiner Entscheidungsgrundlagen seinen gesetzlichen Grundlagen nicht entspricht und daher – weil zwischenzeitig außer Kraft getreten – gesetzwidrig war."

4. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark führt zur Zulässigkeit seines hg. zu V136/2021 protokollierten Antrages unter näherer Auseinandersetzung mit §1 Abs2 VStG aus, es habe die mit seinem Hauptantrag angefochtene Verordnungsbestimmung auf Grund der in dem bei ihm bekämpften Straferkenntnis zugrunde gelegten Tatzeit (2. Mai 2020) unmittelbar anzuwenden, auch wenn diese Bestimmung mittlerweile außer Kraft getreten sei.

Das Landesverwaltungsgericht Steiermark legt seine Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, nach Anführung mehrerer Zitate aus dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Oktober 2020, G271/2020‑16, V463‑467/2020, wie folgt dar:

"[…] §1 Abs1 COVID‑19-Lockerungsverordnung in der Stammfassung, BGBl II Nr 197/2020, verstößt somit nach Ansicht des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark gegen §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz, weil es der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen hat, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit dieser Regelung getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat."

5. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz sah jeweils von der Erstattung einer Äußerung unter Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Oktober 2020, G272/2020, ab und verwies hinsichtlich der angeforderten Verordnungsakten auf die dem Verfassungsgerichtshof im zu V350‑354/2020 protokollierten Verfahren vorgelegten Beilagen.

6. Die Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Äußerung erstatten. Im Übrigen haben die Parteien der Anlassverfahren von der Erstattung von Äußerungen abgesehen.

IV. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Anträge erwogen:

1. Zur Zulässigkeit der Anträge

1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B‑VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

1.2. §1 Abs1 der angefochtenen Verordnung hat es im jeweils maßgeblichen Zeitpunkt geboten, beim Betreten öffentlicher Orte im Freien gegenüber Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, einen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten. Den antragstellenden Verwaltungs-gerichten ist nicht entgegenzutreten, wenn sie jeweils davon ausgehen, dass sie in den Anlassverfahren §1 Abs1 der – mittlerweile außer Kraft getretenen – COVID‑19‑LV in der Stammfassung anzuwenden haben (vgl VfGH 10.12.2020, V512/2020). Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweisen sich beide Anträge (im Verfahren zu V34/2021 in Form des Hauptbegehrens) als zulässig. Damit erübrigt sich ein Eingehen auf den Eventualantrag (V34/2021).

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B‑VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

2.2. Die Anträge sind begründet:

2.2.1. Das antragstellende Verwaltungsgericht Wien und das antragstellende Landesverwaltungsgericht Steiermark machen der Sache nach geltend, dass die verordnungserlassende Behörde die maßgeblichen Grundlagen für die Verordnungserlassung nicht hinreichend erhoben und im Verordnungsakt dokumentiert habe.

2.2.2. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits mehrfach zu den Verordnungsermächtigungen der §§1 und 2 COVID‑19-Maßnahmengesetz idF BGBl I 23/2020, auf die sich die COVID‑19‑LV im Wesentlichen stützt, erkannt, dass diese Bestimmungen den Verordnungsgeber auch verpflichten, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist; damit ist für die Beurteilung des Verfassungsgerichtshofes insoweit der Zeitpunkt der Erlassung der entsprechenden Verordnungsbestimmungen und die diesen zugrunde liegende aktenmäßige Dokumentation maßgeblich (siehe näher VfGH 14.7.2020, V363/2020, und 14.7.2020, V411/2020, sowie im Anschluss daran etwa VfGH 1.10.2020, V429/2020; 1.10.2020, V463/2020; 1.10.2020, G272/2020 ua).

2.2.3. Der Verordnungsakt zur – hier maßgeblichen – Stammfassung der COVID‑19‑LV (vgl zu diesem bereits VfGH 1.10.2020, V428/2020; 1.10.2020, V429/2020; 1.10.2020, V463/2020; 1.10.2020, G272/2020 ua) macht nicht ersichtlich, welche Umstände im Hinblick auf welche möglichen Entwicklungen von COVID‑19 den Verordnungsgeber bei seiner Entscheidung zur Anordnung der Verpflichtung (unter anderem) nach §1 Abs1 COVID‑19‑LV geleitet haben. §1 Abs1 COVID‑19‑LV, BGBl II 197/2020, verstoßt somit gegen §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz idF BGBl I 23/2020, weil es der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen hat, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit dieser Regelung getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat.

2.2.4. Da §1 Abs1 COVID‑19‑LV durch die 5. COVID‑19‑LV-Novelle, BGBl II 266/2020, mit Wirkung vom 15. Juni 2020 geändert und mit der 9. COVID‑19‑LV-Novelle, BGBl II 342/2020, mit Wirkung vom 30. Juli 2020 aufgehoben wurde, ist festzustellen, dass §1 Abs1 COVID‑19-Lockerungsverordnung idF BGBl II 197/2020 gesetzwidrig war.

V. Ergebnis

1. Da §1 Abs1 COVID‑19‑LV, BGBl II 197/2020, bereits außer Kraft getreten ist, hat sich der Verfassungsgerichtshof gemäß Art139 Abs4 B‑VG auf die Feststellung zu beschränken, dass §1 Abs1 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID‑19 ergriffen wurden (COVID‑19-Lockerungsverordnung – COVID‑19‑LV), BGBl II 197/2020, gesetzwidrig war.

2. Der Ausspruch, dass die unter Punkt 1. genannte Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist, stützt sich auf Art139 Abs6 zweiter Satz B‑VG.

3. Die Verpflichtung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zur unverzüglichen Kundmachung der Aussprüche erfließt aus Art139 Abs5 zweiter Satz B‑VG iVm §4 Abs1 Z4 BGBlG.

Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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