European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:008OBS00006.23Z.0111.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Arbeitsrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 223,92 EUR (darin 37,32 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Der Kläger war bei der mittlerweile insolventen A* GmbH als Lkw-Fahrer beschäftigt und erlitt am 9. 12. 2021 einen Arbeitsunfall, den er weder vorsätzlich noch grob fahrlässig herbeigeführt hat. Er befand sich im Krankenstand und bezog ab 6. 2. 2022 Krankengeld. Auf das Arbeitsverhältnis ist der Kollektivvertrag für Arbeiter im Güterbeförderungsgewerbe anzuwenden, der in Art XIII Punkt 6 folgende Regelung enthält:
„Ist ein Dienstnehmer oder Lehrling durch Krankheit (Unglücksfall) an der Arbeitsleistung verhindert, ohne dass er die Verhinderung vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt hat, sind entgeltfreie Zeiten der Arbeitsverhinderung bei der Berechnung von Urlaubszuschuss und Weihnachtsremuneration voll zu berücksichtigen (keine Aliquotierung).“
[2] Mit Bescheid vom 23. 2. 2022 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung von Insolvenz-Entgelt im Teilbetrag von 166 EUR ab. Der Kläger habe während der entgeltfreien Zeit keinen Anspruch auf Urlaubszuschuss und Weihnachtsremuneration, weil Art XIII Punkt 6 des Kollektivvertrags nicht für Arbeitsunfälle gelte.
[3] Das Erstgericht gab dem auf Zahlung von 166 EUR gerichteten Klagebegehren statt. Der Kollektivvertrag sei im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung dahin zu verstehen, dass die Sonderzahlungen auch im Fall einer Dienstverhinderung aufgrund eines Arbeitsunfalls gebühren, weil es nicht sachgerecht wäre, solche Arbeitnehmer schlechter zu stellen.
[4] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass die Revision mangels höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Auslegung von Art XIII Punkt 6 des Kollektivvertrags für Arbeiter im Güterbeförderungsgewerbe zulässig sei.
Rechtliche Beurteilung
[5] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.
[6] 1. Der normative Teil eines Kollektivvertrags ist gemäß §§ 6 und 7 ABGB nach seinem objektiven Inhalt auszulegen (RIS‑Justiz RS0010088; RS0008782; RS0008807). In erster Linie ist der Wortsinn – auch im Zusammenhang mit den übrigen Regelungen – zu erforschen und die sich aus dem Text des Kollektivvertrags ergebende Absicht der Kollektivvertragsparteien zu berücksichtigen (RS0010089). Bei Übernahme gesetzlicher Begriffe durch einen Kollektivvertrag muss im Zweifel davon ausgegangen werden, dass der Kollektivvertrag diese Begriffe im gleichen Sinne verwendet wie das Gesetz (RS0008761).
[7] 2. Die Beklagte verweist darauf, dass sowohl Art IX Punkt 1 des Kollektivvertrags als auch das EFZG die Fortzahlung des Entgelts bei Arbeitsverhinderung durch „Krankheit (Unglücksfall), Arbeitsunfall oder Berufskrankheit“ regeln und § 2 EFZG bei „Krankheit (Unglücksfall)“ eine sechswöchige, bei „Arbeitsunfall oder Berufskrankheit“ aber eine achtwöchige Fortzahlung des Entgelts anordne. Dies entspricht den Reglungen in § 1154b ABGB und § 8 AngG. Richtig ist, dass der Arbeitsunfall damit im Vergleich zu sonstigen Unglücksfällen besonderen Regelungen unterliegt (Rebhahn/Ettmayer in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.04 § 1154b Rz 10). Daraus kann aber nicht abgeleitet werden, dass ein Arbeitsunfall kein Unglücksfall iSd Art XIII Punkt 6 des Kollektivvertrags wäre (nur zu § 8 AngG Drs in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 8 AngG Rz 21).
[8] 3. Nach herrschendem Begriffsverständnis ist der Begriff „Unglücksfall“ mit „Unfall“ gleichzusetzen und bezeichnet ein von außen kommendes, plötzliches oder zumindest zeitlich begrenztes Ereignis, welches die körperliche oder seelische Integrität beeinträchtigt (Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1154b Rz 21; Pfeil in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 1154b Rz 8; Holzer/Vinzenz in Auer‑Mayer/Burgstaller/Preyer, Angestelltengesetz § 8 Rz 1/8; Melzer in Löschnigg/Melzer, Angestelltengesetz11 § 8 Rz 53). Damit umfasst der Begriff „Unglücksfall“ nicht nur Freizeitunfälle, sondern auch Arbeitsunfälle (Burger in Reissner, Angestellltengesetz4 § 8 Rz 19), die aber in den gesetzlichen Entgeltfortzahlungsregelungen eine längere Entgeltfortzahlungspflicht auslösen. Dies ist aber bei der hier maßgeblichen Kollektivvertragsbestimmung irrelevant, weil diese keine vergleichbare zeitliche Begrenzung kennt.
[9] 4. Im Übrigen ist bei der Auslegung von Kollektivverträgen zumindest im Zweifel davon auszugehen, dass die Kollektivvertragsparteien eine vernünftige, zweckentsprechende und praktisch durchführbare Regelung treffen sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen herbeiführen und daher unsachliche Differenzierungen vermeiden wollten (RS0008828; RS0008897). Nicht zuletzt sind die Kollektivvertragsparteien bei der Gestaltung des Kollektivvertrags an den mittelbar wirkenden verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz und das sich daraus ergebende Sachlichkeitsgebot gebunden (RS0018063; RS0038552; RS0038765). Schon das Erstgericht hat darauf hingewiesen, dass kein sachlicher Grund ersichtlich ist, der es rechtfertigen könnte, den Arbeitnehmer nach einem Arbeitsunfall schlechter zu stellen als nach einem Freizeitunfall, weshalb auch den Parteien des Kollektivvertrags für Arbeiter im Güterbeförderungsgewerbe keine solche Absicht unterstellt werden darf.
[10] 5. Im Ergebnis ist der Begriff „Krankheit (Unglücksfall)“ in Art XIII Punkt 6 des Kollektivvertrags für Arbeiter im Güterbeförderungsgewerbe dahin auszulegen, dass auch Arbeitsunfälle erfasst sind, sodass die Revision der Beklagten erfolglos bleiben muss.
[11] 6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 2 lit a ASGG.
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