European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00004.23M.0221.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Die – mittlerweile geschiedenen – Eltern der (ehelichen) Kinder leben seit dem Auszug der Mutter aus der Ehewohnung Ende 2020 getrennt.
[2] Die Vorinstanzen hielten die gemeinsame Obsorge der Eltern für beide Kinder aufrecht (1.), legten die Betreuung durch beide Eltern im zeitlich gleichen Ausmaß (Doppelresidenz: Mutter an geraden Kalenderwochen, Vater an ungeraden Kalenderwochen) fest und wiesen die hauptsächliche Betreuung im Sinn der primären Wahrnehmung jener Aufgaben, deren Grundlage ein bestimmter Aufenthaltsort der Minderjährigen ist, nicht jedoch die alleinige Bestimmung des Wohnortes der Minderjährigen im In- und Ausland iSd § 162 Abs 2 ABGB, für den Sohn dem Vater und für die Tochter der Mutter zu (2. und 3.), räumten dem Vater ein Ferienkontaktrecht ein (4.) und verpflichteten die Eltern, binnen sechs Monaten eine gemeinsame Elternberatung nachzuweisen (5.).
Rechtliche Beurteilung
[3] Die Mutter zeigt mit ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs, mit dem sie primär die Übertragung der alleinigen Obsorge für beide Kinder, für den Fall der Aufrechterhaltung der gemeinsamen Obsorge die Festlegung des überwiegenden Aufenthalts bei ihr und die Einräumung eines 14-tägigen Kontaktrechts am Wochenende anstrebt, keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf.
[4] 1. Auch im Außerstreitverfahren kann eine vom Rekursgericht verneinte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz im Revisionsrekursverfahren grundsätzlich nicht mehr geltend gemacht werden (RS0050037; RS0030748). Ausreichende Anhaltspunkte für eine aus Gründen des Kindeswohls gebotene Durchbrechung dieses Grundsatzes (RS0050037 [T1, T4, T8, T9, T18]; RS0030748 [T2, T5, T18]) zeigt die Mutter in ihrem Revisionsrekurs nicht auf.
[5] 1.1 Hinsichtlich des Umfangs der Beweisaufnahme ist der Richter nicht streng an die Anträge der Parteien gebunden; er kann darüber hinausgehen, aber auch nach seinem Ermessen im Interesse einer zügigen Verfahrensführung von der Aufnahme einzelner Beweismittel Abstand nehmen, wenn auch auf andere Weise eine (ausreichend) verlässliche Klärung möglich ist (RS0006319 [T6]). Es besteht kein genereller Grundsatz, dass das Pflegschaftsgericht im Obsorgeverfahren immer einen Sachverständigen beizuziehen hätte (RS0006319 [T7, T13]; 5 Ob 104/19h). Gelangen die Vorinstanzen – wie im vorliegenden Fall – zum Ergebnis, dass die Erhebungen und fachpsychologischen Schlussfolgerungen der Familiengerichtshilfe im Zusammenhalt mit anderen Beweismitteln eine ausreichende Entscheidungsgrundlage bilden, ist die der Beweiswürdigung zuzuordnende Frage, ob im Einzelfall zusätzlich ein von der Mutter gefordertes Sachverständigengutachten erforderlich gewesen wäre, vom Obersten Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, nicht überprüfbar (RS0007236 [T9]; RS0108449 [T4]; 1 Ob 94/21m).
[6] 1.2 Das Gebot zur Befragung des Kindes dient dazu, dessen grundsätzliche Einstellung zu den zu beurteilenden Fragen zu ermitteln. Nur aus den in § 105 Abs 2 AußStrG genannten zwei Gründen – soweit (1.) durch die Befragung oder durch einen damit verbundenen Aufschub der Verfügung das Wohl des Minderjährigen gefährdet wäre oder (2.) im Hinblick auf die Verständnisfähigkeit des Minderjährigen offenbar eine überlegte Äußerung zum Verfahrensgegenstand nicht zu erwarten ist – kann die Befragung überhaupt unterbleiben (RS0119594 [T1]; 10 Ob 82/18h Pkt 2.). Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, kann dies einen wesentlichen, ungeachtet dessen Verneinung durch das Rekursgericht wahrnehmbaren Verfahrensmangel darstellen (10 Ob 82/18h Pkt 6.).
[7] Die unterbliebene Anhörung der bei Beschlussfassung erster Instanz erst knapp Fünfjährigen ist schon aufgrund der altersbedingt mangelnden Verständnisfähigkeit nicht zu beanstanden (vgl 6 Ob 75/13t Pkt 2.). Die ebenfalls unterbliebene Befragung des Siebenjährigen haben die Vorinstanzen darüber hinaus damit begründet, dass diese aufgrund der Sprachbarriere durch einen Dolmetscher vorzunehmen, daher sehr belastend (und deshalb dem Kindeswohl abträglich) wäre. Soweit der Revisionsrekurs dies lediglich mit dem Hinweis auf den Kindergartenbesuch in Österreich in Zweifel zu ziehen versucht, übersieht er, dass die – vom Erstgericht mit der fachlichen Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe und der Einvernahme einer Zeugin begründete – Sachverhaltsannahme zur Belastungssituation bei der Einvernahme nicht mit Revisionsrekurs bekämpfbar ist (RS0108449).
[8] 2. Die Frage, ob die Obsorge beider Eltern dem Kindeswohl entspricht, sowie die Frage, welchem Elternteil die Obsorge übertragen werden soll, hängt stets von den Umständen des Einzelfalls ab und begründet – sofern auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen wurde – regelmäßig keine Rechtsfrage der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG (RS0128812 [T8]; RS0007101 [T8]).
[9] Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern setzt ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit beider voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Es ist also eine – in hohem Maß einzelfallbezogene (RS0128812 [T5]) – Beurteilung dahin vorzunehmen, ob bereits jetzt eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder ob zumindest in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet werden kann (RS0128812).
[10] In ihrem Revisionsrekurs zeigt die Mutter keine Überschreitung des den Vorinstanzen eingeräumten Beurteilungsspielraums oder eine Außerachtlassung des Kindeswohls bei der Aufrechterhaltung der gemeinsamen Obsorge und der Anordnung der Doppelresidenz auf. Vielmehr greift sie nur einzelne Sachverhaltselemente heraus, übergeht aber die erstinstanzlichen Feststellungen, aus denen sich die Erziehungsfähigkeit beider Eltern und die – von ihr in Zweifel gezogene – Gefahrlosigkeit der Wohnverhältnisse auch beim Vater ergibt. Wenn die Vorinstanzen überdies davon ausgegangen sind, dass mit einer entsprechenden Gesprächsbasis im Zusammenhalt mit der angeordneten Elternberatung zu rechnen ist, kann der Oberste Gerichtshof dieser Sachverhaltsannahme nicht entgegentreten.
[11] 3.1 Die Mutter bringt – unter Vorlage eines polizeilichen Aktenvermerks, Korrespondenz im Zusammenhang mit der Vereinbarung eines Entwicklungsgesprächs sowie diverser Zeichnungen – als Neuerung im Wesentlichen vor, der Vater habe den erstgerichtlichen Beschluss verletzt, indem er am 28. 6. 2022 (gerade Kalenderwoche) die Kinder ohne ihr Wissen von den Betreuungseinrichtungen abgeholt, die Tochter nicht zu einem Konzert begleitet, beide Kinder ab dem 29. 6. 2022 nicht in die Schule bzw Kindergarten gebracht und sie am 2. 7. 2022 nicht an sie übergeben habe. Überdies habe sich im Herbst 2022 eine Entwicklungsstörung bei ihrer Tochter gezeigt.
[12] 3.2 Auch im Außerstreitverfahren gilt in dritter Instanz das Neuerungsverbot (RS0119918). Der Entscheidung sind die Umstände zum Zeitpunkt der Beschlussfassung in erster Instanz zugrunde zu legen (RS0006928). Ungeachtet des Neuerungsverbots ist der Maxime des Kindeswohls im Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren zwar dadurch zu entsprechen, dass neue Tatsachen auch dann zu berücksichtigen sind, wenn sie erst nach der Beschlussfassung der Vorinstanzen eingetreten sind (RS0122192; RS0048056). Das bezieht sich aber nur auf unstrittige und aktenkundige Umstände (RS0048056 [T7]; RS0122192 [T3]), nicht aber auf solche, die erst noch durch ein Beweisverfahren zu klären wären (RS0122192 [T4]; RS0048056 [T7]). Überdies kommt eine Berücksichtigung nur bei wesentlicher Veränderung der Tatsachengrundlage in Betracht (RS0048056 [T6, T10]).
[13] Selbst wenn bei der Tochter Entwicklungsdefizite als Vorschulkind beim Verständnis von Wörtern, Zahlen und der Merkfähigkeit bestehen sollten, ist nicht ersichtlich, dass diese auf ein (Fehl)Verhalten des Vaters zurückzuführen wären. Gegenteiliges neues Vorbringen der Mutter allein macht die betreffenden Behauptungen noch nicht zum aktenkundigen Umstand.
[14] Auch die behaupteten Vorfälle Ende Juni und Anfang Juli 2022, die offenkundig Meinungsverschiedenheiten im Zuge der erstmaligen Umsetzung des erstinstanzlichen Beschlusses darstellen, führen – abgesehen davon, dass sie erst durch ein Beweisverfahren zu klären wären – zu keiner wesentlichen Änderung der Sachverhaltsgrundlage, gab es doch auch schon bisher – gerade in Zeiten fehlender gerichtlicher Regelung – von den Vorinstanzen berücksichtigte Streitigkeiten der Eltern im Zusammenhang mit der Übergabe der Kinder.
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