European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00068.23G.0116.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.
Entscheidungsgründe:
[1] Der Kläger ist stellvertretender Leiter der EDV‑Abteilung einer Landespolizeidirektion. Im Jänner 2021 waren in seinem Fachbereich 13 Mitarbeiter in fünf Büros tätig; er selbst teilte sich ein Büro mit einem Kollegen, der aber nicht an COVID-19 erkrankte. FFP2‑Masken wurden nur außerhalb der Büros verwendet.
[2] Am 15. Jänner 2021 war der Kläger gemeinsam mit einem Kollegen tätig, der am 20. Jänner 2021 positiv auf SARS‑CoV-2 getestet wurde; bis 25. Jänner 2021 wurden fünf weitere Kollegen des Klägers positiv getestet. Am 23. Jänner 2021 wies der Kläger erste Symptome einer Erkrankung an COVID-19 auf, wobei jedoch zwei PCR‑Tests negativ verliefen. Aufgrund massiver Beschwerden wurde er am 1. Februar 2021 stationär im Krankenhaus aufgenommen und dort bis 8. Februar 2021 intensivmedizinisch behandelt. Erst am 2. Februar 2021 wurde er positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Seine Gattin war bereits am 1. Februar 2021 positiv getestet worden.
[3] Der Kläger lebt mit seiner berufstätigen Gattin in einem Einfamilienhaus. Im Jänner 2021 absolvierte er weder Familien- noch Freundesbesuche; Einkäufe erledigte seine Gattin.
[4] Mit Bescheid vom 9. August 2022 sprach die beklagte Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau aus, dass die Erkrankung des Klägers an COVID‑19 nicht als Dienstunfall anerkannt wird und keine Leistungen nach §§ 88 ff B‑KUVG gewährt werden, weil sie nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf seine berufliche Tätigkeit zurückgeführt werden könne.
[5] Mit seiner Klage begehrt der Kläger, die Beklagte zu verpflichten, ihm eine Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Eine berufliche Ansteckung sei evident, weil Ende Jänner 2021 sieben seiner Kollegen positiv getestet worden seien und auch er am 23. Jänner 2021 an COVID‑19 erkrankt sei. Eine Ansteckung im familiären Bereich könne dagegen ausgeschlossen werden, weil seine Gattin erst nach seiner Aufnahme ins Krankenhaus positiv getestet worden sei.
[6] Die Beklagtehielt dem entgegen, dass von einer Ansteckung im Zuge der dienstlichen Tätigkeit des Klägers nicht ausgegangen werden könne. Abgesehen davon, dass im Frühjahr 2021 die Nachverfolgung der Infektionsketten wegen der damals extrem hohen Zahl an Ansteckungen generell nicht mehr möglich gewesen sei, sei die Gattin des Klägers bereits vor ihm positiv getestet worden. Im zeitlichen Zusammenhang der Erkrankung des Klägers sei ihr auch keine Erkrankung eines seiner Kollegen gemeldet worden.
[7] Das Erstgericht wies die Klage ab, weil in der Unfallversicherung Infektionskrankheiten wie COVID‑19 nur als Berufskrankheit iSd § 177 ASVG versichert seien. Würde man Infektionskrankheiten als Dienstunfallqualifizieren, wären die einschränkenden Regelungen der (§ 92 B‑KUVG iVm) Nr 37 bis 39 der Anlage 1 zum ASVG (künftig nur noch: Anlage 1) sinnwidrig. Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. In seiner ausführlich begründeten Entscheidung kam es zunächst zum Ergebnis, dass Erkrankungen zwar sowohl Unfallfolge als auch Berufskrankheit sein könnten, was etwa bei Vergiftungen oder Hundebissen der Fall sei. Wenn es jedoch darum gehe, eine völlig unbemerkte Ansteckung mit einer Infektionskrankheit als Dienstunfall zu qualifizieren, ziehe das Gesetz eine klare Grenze. Wäre nämlich jedwede Ansteckung mit einer Infektionskrankheit zugleich auch ein Arbeitsunfall, wäre die Generalklausel der Nr 38 der Anlage 1 obsolet. Wenn der Gesetzgeber Berufskrankheiten an konkrete Voraussetzungen knüpfe, könnten sie somit nicht gleichzeitig als Dienstunfall beurteilt werden. Soweit in Rechtsprechung und Lehre Überschneidungen anerkannt würden, beschränke sich das auf „unfallartige“ Ursachen wie etwa einenStich mit einer infizierten Injektionsnadel, Zeckenbisse, Insektenstiche und dergleichen. Dass in Deutschland Infektionskrankheiten auch als Arbeitsunfall eingestuft würden, beruhe auf historischen Wurzeln; das Bundessozialgericht agiere bei der Anerkennung einer Infektion als Arbeitsunfall überdies sehr zurückhaltend. Dazu komme, dass den Dienstnehmer die objektive Beweislast für das Vorliegen eines Dienstunfalls treffe. Da bei Viren, die durch Aerosole übertragen werden, ein typischer bzw medizinisch gesicherter Zusammenhang zwischen der Einwirkung und der Erkrankung nicht vorliege, komme abseits der Nr 38 der Anlage 1 ein Anscheinsbeweis nicht in Betracht. Wolle man die Infektion daher als Dienstunfall ansehen, würde es nicht ausreichen, wenn die Ansteckung im Rahmen der beruflichen Tätigkeitnur gleich wahrscheinlich sei wie eine Ansteckung im privaten Umfeld. Zwar sei der Ansicht, bei einer Ansteckung mit dem SARS‑CoV-2-Virus außerhalb der in Anlage 1 genannten Betriebe handle es sich um eine Allgemeingefahr, nicht näher zu treten. Dass die Ansteckung grundsätzlich zu jeder Zeit und an jedem Ort möglich sei, spreche aber für die vom Gesetzgeber vorgegebene strikte Trennung von Dienstunfällen und Berufskrankheiten.
Rechtliche Beurteilung
[8] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu.
[9] Dagegen richtet sich die Revision des Klägers, in der er begehrt, der Klage stattzugeben. Hilfsweise stellt er auch Aufhebungsanträge. Die Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
[10] Die Revision ist zulässig, weil sich der Oberste Gerichtshof noch nicht ausdrücklich mit der Qualifikation der Ansteckung mit einer Infektionskrankheit als Arbeits- oder Dienstunfall befasst hat. Sie ist aber nicht berechtigt.
[11] In seiner Revision macht der Kläger geltend, dass die Übertragung des SARS-CoV-2-Virus hauptsächlich durch die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel über die Luft erfolge (Atmen, Sprechen etc). Das stelle entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ein plötzlich von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und damit einen Unfall im Rechtssinn dar. Dass Infektionskrankheiten unter bestimmten Voraussetzungen auch Berufskrankheiten seien, schließe die Qualifikation als Dienstunfall nicht aus, wenn die Ansteckung wie in seinem Fall innerhalb einer Arbeitsschicht erfolgt sei. Die Infektion sei auch eindeutig seiner dienstlichen Tätigkeit, nämlich dem beruflichen Kontakt mit einem an COVID-19 infizierten Kollegen, zuzuordnen.
Dazu ist zu erwägen:
[12] 1. Nach § 90 Abs 1 B‑KUVG sind Dienstunfälle Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit dem die Versicherung begründenden Dienstverhältnis oder mit der die Versicherung begründenden Funktion ereignen. Die Voraussetzungen, unter denen ein Unfall als Dienstunfall anzusehen ist, entsprechen (im Wesentlichen) jenen für die Beurteilung eines Unfalls als Arbeitsunfall nach dem ASVG. Zur Auslegung der entsprechenden Bestimmungen des B-KUVG kann daher auf Rechtsprechung und Lehre zu Arbeitsunfällen zurückgegriffen werden (RS0110598 [T2]; 10 ObS 150/20m [Rz 13]).
[13] 2. Der Unfallbegriff ist weder im B‑KUVG noch im ASVG definiert. Rechtsprechung und Lehre umschreiben den Unfall dahin, dass es sich dabei um ein zeitlich begrenztes Ereignis – etwa eine Einwirkung von außen, ein abweichendes Verhalten, eine außergewöhnliche Belastung – handelt, das zu einer Körperschädigung (oder zum Tod) geführt hat (RS0084348; 10 ObS 80/20t [Rz 24]; Tomandl in Tomandl/Felten, System des österreichischen Sozialversicherungsrechts 2.3.2.2. [271]; Pöltner/Pacic, ASVG § 175 Anm 1b ua). Von einem „Unfall“ kann daher im Allgemeinen nur gesprochen werden, wenn die Gesundheitsbeeinträchtigung durch ein plötzliches Ereignis bewirkt wurde, wobei „plötzlich“ nicht Einmaligkeit bedeuten muss. Auch kurz aufeinander folgende Einwirkungen, die nur in ihrer Gesamtheit einen Körperschaden bewirken, sind noch als „plötzlich“ anzusehen, wenn sie sich innerhalb einer Arbeitsschicht ereignet haben (RS0084348 [T4]; 10 ObS 48/21p [Rz 25]; Tarmann‑Prentner in Sonntag ASVG14 § 175 Rz 2 ua; vgl RS0110322). Nicht als Unfall gelten demnach Folgen von Dauereinwirkungen, die nur geschützt werden, wenn sie als Berufskrankheiten anerkannt sind (vgl 10 ObS 45/12h; RS0110323; Müller in Mosler/Müller/Pfeil, SV‑Komm Vor §§ 174–177 ASVG Rz 10). Der entscheidende Unterschied zwischen einem Unfall und einer Berufskrankheit ist daher der Zeitraum, in dem sie sich ereignen: Während der Unfall ein im dargestellten Sinn plötzliches Ereignis ist, entwickelt sich die Berufskrankheit typischerweise während eines länger andauernden Zeitraums (RS0110320; 10 ObS 48/21p [Rz 23];Müller in SV‑Komm Vor §§ 174–177 ASVG Rz 8; Tarmann-Prentner ASVG14 § 175 Rz 3a).
[14] Für die Frage, ob ein Unfall vorliegt, kommt es nicht darauf an, ob die gesundheitsschädigenden Folgen sogleich oder erst später eintreten (10 ObS 224/98h; Tomandl, System 2.3.2.2 [271]; Tarmann-Prentner ASVG14 § 175 Rz 4; so auch Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit9, 785). In der Rechtsprechung ist auch anerkannt, dass das schadenstiftende Ereignis nicht unbedingt ein mechanischer Vorgang sein muss, sondern – wie bei Krankheiten – auch ein chemo-physikalischer Vorgang sein kann. Demnach kann auch ein während der Arbeit zugezogener Insektenstich oder ein Biss durch einen tollwütigen Hund ein Arbeitsunfall sein, wenn durch die Einwirkung eine Gesundheitsschädigung hervorgerufen wird (10 ObS 71/04w = DRdA 2005, 412 [Müller]; 10 ObS 93/13v = DRdA 2014, 567 [Auer-Mayer]; Panhölzl/Bischofreiter, Angesteckt am Arbeitsplatz – Unfallversicherungsschutz bei Covid-19, Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2022, 117 [121]; vgl auch Müller, DRdA 1998, 333 [Anm zu 10 ObS 325/97k] ua).
[15] 3. Wendet man diese Grundsätze auf Infektionskrankheiten (wie COVID-19) an, erscheint es nicht ausgeschlossen, sie nicht nur als Berufskrankheit (Nr 38 der Anlage 1), sondern auch als Arbeitsunfall zu qualifizieren, weil die Ansteckung in der Regel durch ein „plötzliches Eindringen“ der Erreger in den Körper erfolgt.
[16] 3.1. In der Literatur werden dazu unterschiedliche Ansichten vertreten.
[17] Müller (DRdA 2005, 412 [Anm zu 10 ObS 71/04w]) weist darauf hin, dass durch die Anerkennung einer durch eine Blutplasmaspende verursachten Infektion als „Unfall“ im Ergebnis der Unterschied zum Krankheitsbegriff eingeebnet würde, auf dem wiederum der Begriff der Berufskrankheit aufbaue. Obwohl er (Müller, Zum Begriff des [Arbeits‑]Unfalls in der gesetzlichen Sozialversicherung, DRdA 2022, 56 [60; Anm zu 10 ObS 48/21p]) konstatiert, dass es Abgrenzungsprobleme zwischen Berufskrankheit und Arbeitsunfall gibt und er der Arbeitsschicht als Äquivalent des Elements der Plötzlichkeit nicht entgegentritt, betont er die Notwendigkeit, das Unfallgeschehen von einem Erkrankungsgeschehen abzugrenzen. Denn dieses führe nur dann zur unfallversicherungsrechtlichen Relevanz, wenn daraus eine Berufskrankheit entstehe (vgl auch Flatscher/Strasser, 58. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht, DRdA‑infas 2023, 208 [211]). Im Ergebnis geht Müller (SV‑Komm, Vor §§ 174–177 Rz 10, § 175 Rz 41, § 176 Rz 138 und § 177 Rz 7) lediglich dann von einer Konkurrenz der beiden Anspruchsgrundlagen aus, wenn die Erkrankung auf ein unfallartiges Geschehen wie etwa einen (Insekten‑)Stich oder Biss zurückgeht. Ansteckende Erkrankungen könnten dagegen keine Folge eines Arbeitsunfalls sein, weil die Übertragung in der Regel unbemerkt und zeitlich nicht eingrenzbar verlaufe.
[18] Tomandl (System 2.3.2.2. [275]) kommt letzten Endes zum selben Ergebnis, indem er darauf verweist, dass der Gesetzgeber jede Infektionskrankheit von Personen, die nicht in einem der geschützten Unternehmen laut Anlage 1 tätig sind, von der Leistungspflicht der Unfallversicherung ausschließe, weil diese aufgrund der prinzipiell unsicheren Ansteckungsvorgänge ansonsten für praktisch jede Infektionskrankheit einstehen müsse.
[19] Brodil (DRdA 2002, 383 [Anm zu 10 ObS 90/01k]) ist demgegenüber der Auffassung, dass dem Gesetzgeber die Überschneidung von Arbeitsunfall und Berufskrankheit durchaus bekannt sei. Es spreche daher nichts gegen eine Harmonisierung in der Form, dass Infektionen bzw Ansteckungen als plötzliche, zeitlich begrenzte Einwirkungen und damit als Unfall angesehen werden, sofern der Kausalzusammenhang in der für Arbeitsunfälle vorgesehenen Qualität nachgewiesen werde. Die befürchtete uferlose Ausdehnung der Leistungspflicht der Unfallversicherung würde durch das (strengere) Beweismaß verhindert.
[20] Födermayr (Strukturfragen der österreichischen gesetzlichen Unfallversicherung – Zustand nach Covid-19, DRdA 2023, 190 [195 f]), Panhölzl/Bischofreiter (Jahrbuch Sozialversicherungsrecht 2022, 117 [121 f]), Bischofreiter (Unfallversicherungsschutz bei Covid-19; DRdA‑infas 2022, 416 [417]) und Obrecht (Long COVID in der Sozialversicherung, ARD 6794/5/2022) gehen im Kontext der COVID-19-Pandemie ebenfalls davon aus, dass Infektionskrankheiten nicht nur als Berufskrankheit sondern auch als Arbeits‑ bzw Dienstunfall zu qualifizieren seien, weil die Ansteckung in der Regel durch eine plötzliche und ungewollte Aufnahme der Viren erfolge und daher der Unfallbegriff erfüllt sei. Überwiegend wird dabei die Ansicht vertreten, dass der Umstand, dass Infektionskrankheiten in die Anlage 1 aufgenommen wurden, noch nicht (zwingend) bedeute, dass im Einzelfall nicht auch ein Arbeitsunfall vorliegen könne. Ein Unterschied zur Berufskrankheit bestehe (nur) darin, dass bei letzterer der Beweis der Erkrankung einfacher zu führen sei.
[21] 3.2. In Deutschland entspricht es der langjährigen Rechtsprechung und Lehre, dass auch Infektionskrankheiten im Sinn der dortigen BK 3101 (iVm § 9 SGB VII) eine Körperschädigung darstellen können, die die Merkmale eines Arbeitsunfalls erfüllt (BSG 2 RU 106/59; 2 RU 191/59; jüngst BSG B 2 U 34/17 R [Bakterieninfektion]; Schwerdtfeger in Lauterbach, Unfallversicherung4 § 8 SGB VII Rz 26d, 27, 97 [COVID 19]; Ricke in Kasseler Kommentar SGB VII § 8 Rz 118; Krasney in Krasney/Becker/Heinz/Bieresborn, Gesetzliche Unfallversicherung [SGB VII] § 8 SGB VII Rn 635; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit9, 785).
[22] 3.3. Der Oberste Gerichtshof hat sich mit der Frage, ob die „bloße“ Ansteckung mit Infektionskrankheiten (für sich) ein Arbeits- oder Dienstunfall sein kann, noch nicht befasst. Zu 10 ObS 90/01k wurde zwar die Erkrankung an Hepatitis C im Zuge einer freiwilligen Blutplasmaspende als Arbeitsunfall angesehen. Nähere Umstände der Infektion sind der Entscheidung aber nicht zu entnehmen; zudem wurde in der dortigen Revision nur das vermeintlich fehlende rechtliche Interesse an einer Feststellung gemäß § 82 Abs 5 ASGG thematisiert. In der schon erwähnten Entscheidung 10 ObS 71/04w war die Qualifikation als Arbeitsunfall nicht strittig (Einführen der verunreinigten Kanüle zur Plasmaspende).
[23] 4. Im Anlassfall ist dagegen eine behauptete „schlichte“ Ansteckung durch einen infizierten Kollegen zu beurteilen. Bei einer solchen scheidet nach Ansicht des Senats das Vorliegen eines Arbeitsunfalls de lege lata aus.
[24] 4.1. Charakteristikum der vom Gesetzgeber in die Anlage 1 zum ASVG aufgenommenen Berufskrankheiten ist überwiegend, dass sie erst durch längerfristige schädigende Einwirkungen (zB Schadstoffe, Druck, Lärm, Vibrationen) zur Erkrankung führen. Im Gegensatz dazu erfolgt bei Infektionskrankheiten der Infektionsvorgang als schadenstiftende Einwirkung grundsätzlich abrupt und erfüllt damit im Grunde eher die Voraussetzungen eines Unfalls. Wenn Infektionskrankheiten trotzdem den Berufskrankheiten zugeordnet werden, kann das nur dahin verstanden werden, dass der Gesetzgeber sie bewusst nur als solche behandeln, respektive sie nur unter den Voraussetzungen der Anlage 1 unter Versicherungsschutz stellen will. Der Oberste Gerichtshof hat zur Berufskrankheit Nr 38 auch mehrfach betont, dass eine Gesundheitsstörung verschiedene Ursachen haben kann und vor allem bei Infektionskrankheiten unterschiedlichste Ansteckungsquellen und Übertragungswege in Betracht kommen, die sich im Nachhinein weder sicher eruieren noch auf eine berufliche Tätigkeit zurückführen lassen (vgl 10 ObS 74/16d; 10 ObS 159/88 ua). Sinn und Zweck der Nr 38 der Anlage 1 besteht daher darin, nur jenen Personen (Unfallversicherungs-)Schutz bei einer Erkrankung an einer Infektionskrankheit zu gewähren, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit in genau definierten Unternehmen einer besonderen Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind (vgl 10 ObS 149/22t [Rz 24]; 10 ObS 39/23t [Rz 17]; RS0085380). Dass der Unfallversicherung mit der Nr 38 der Anlage 1 nur eine beschränkte Leistungspflicht auferlegt werden sollte, zeigt auch der Umstand, dass kein lückenloses System des Versicherungsschutzes geschaffen wurde (10 ObS 1/23d [Rz 10]; RS0120384), obwohl der Sache nach eigentlich jede auf betriebliche Einwirkungen zurückgehende Krankheit als Berufskrankheit anerkannt werden müsste (Tomandl, System 2.3.2.2. [273]). Wie schon das Berufungsgericht zu Recht betont hat, lag die offenbare Absicht des Gesetzgebers somit darin, Infektionskrankheiten ausschließlich als Berufskrankheit unter den Schutz der Unfallversicherung zu stellen. Auch wenn Infektionen die Voraussetzungen des Unfallbegriffs erfüllen können, sind sie daher (e contrario) nicht vom Schutzbereich der Unfallversicherung erfasst.
[25] 4.2. Dass die Erkrankung anderer Personen als der in Nr 38 der Anlage 1 genannten Beschäftigten von der Leistungspflicht der Unfallversicherung ausgeschlossen sein soll, zeigt auch § 176 Abs 2 ASVG: Mit Ausnahme der in § 176 Abs 1 ASVG genannten „Dauertätigkeiten“ (etwa nach Z 7a oder Z 8), kommen dort mangels länger dauernder Expositionen praktisch nur punktuelle Einwirkungen wie vor allem die Infektion mit einem Krankheitserreger in Betracht (vgl Müller, SV‑Komm § 176 Rz 140 der auf Hepatitis‑Fälle verweist; Brodil, DRdA 2002, 383). Da der Gesetzgeber implizit selbst von der Dauer einer Arbeitsschicht als zeitliche Grenze für die Annahme eines Arbeitsunfalls ausgeht (vgl ErläutRV 181 BlgNR 14. GP 71), wäre eine Gleichstellung der (zwangsläufig kurzen) Einwirkungen mit Berufskrankheiten nicht notwendig, wenn sie ohnehin schon als Unfallereignis zu qualifizieren wären. In diesem Fall wäre der Versicherungsschutz nämlich bereits durch die in § 176 Abs 1 ASVG angeordnete Gleichstellung mit Arbeitsunfällen gegeben. Der Annahme, die Nr 38 der Anlage 1 solle bloß zu Beweiserleichterungen führen, indem bestimmte Bereiche (Unternehmen) definiert werden, in denen eine Infektion (hoch‑)wahrscheinlich ist, steht entgegen, dass durch § 176 Abs 2 ASVG der Versicherungsschutz (für Tätigkeiten nach § 176 Abs 1 ASVG) erst geschaffen (ErläutRV 404 BlgNR 13. GP 96) und nicht bloß für einen schon bestehenden Schutz eine einfachere Beweisführung ermöglicht werden sollte.
[26] 4.3. Auch die Nr 46 der Anlage 1 („Durch Zeckenbiss übertragbare Krankheiten“) spricht gegen die Qualifikation von Infektionskrankheiten als Arbeitsunfall. Die Aufnahme der Nr 46 erfolgte durch die 50. ASVG‑Novelle (BGBl 1991/676), zu der die Materialien ausführen:
„Sowohl die Frühsommermeningoenzephalitis (FSME) als auch die Borreliose (lyme-disease) werden durch Zeckenbisse übertragen [...] Diese Erkrankungen könnten zwar grundsätzlich auch als Folge eines Arbeitsunfalls (Unfall = Zeckenbiss) gewertet werden. Da es sich dabei letztlich um Infektionskrankheiten handelt, ist die Aufnahme in die Liste der Berufskrankheiten [...] wünschenswert [...] Es sollte dies zweckmäßigerweise durch Schaffung einer neuen Position in der Berufskrankheitenliste geschehen, da eine an sich mögliche Subsumierung unter die Berufskrankheiten Nr 38 oder 39 schon wegen des bei diesen Berufskrankheiten eingeschränkten Unternehmensbegriffes kaum zielführend wäre“ (ErläutRV 284 BlgNR 18. GP 38 f).
[27] Somit sieht offenbar selbst der Gesetzgeber das mögliche Unfallereignis nicht „im plötzlichen Eindringen“ des Virus (FSME) oder der Bakterien (Borreliose) in den Körper, sondern im (unfallartigen) Zeckenbiss.
[28] 5. Insgesamt ergibt sich aus diesen Erwägungen letztlich klar, dass durch Aufnahme der Infektionskrankheiten in den Katalog der Anlage 1 der Unfallversicherungsschutz eingeschränkt und nicht eine weitere Anspruchsgrundlage mit erleichterter Beweisführung geschaffen werden sollte. Der Senat kommt daher zum Ergebnis, dass ein Versicherungsschutz dafür nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 177 ASVG iVm der Anlage 1 besteht. Davon ausgenommen sind lediglich Fälle, in denen die Ansteckung auf ein unfallartiges Ereignis (Insektenstich, Biss, Injektion mit einer infizierten Nadel etc) zurückgeht. Ausschließlich insoweit überschneiden sich Dienst- bzw Arbeitsunfall und Berufskrankheit.
[29] Der Beurteilung des Berufungsgerichts liegt daher keine Fehlbeurteilung zugrunde, sodass der Revision nicht Folge zu geben ist.
[30] Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Zwar entspricht es der Billigkeit, dem unterlegenen Versicherten die Hälfte der Kosten seiner Rechtsvertretung zuzuerkennen, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO abhängt (RS0085871). Ein Kostenzuspruch kommt hier aber nicht in Betracht, weil aus der Aktenlage keine Angaben zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Klägers ersichtlich sind, die einen Kostenzuspruch rechtfertigen könnten.
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