OGH 10ObS355/02g

OGH10ObS355/02g12.11.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Thomas Keppert (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Taucher (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maria D*****, vertreten durch Dr.Florian Kremslehner, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. Juni 2002, GZ 7 Rs 218/02h-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 6. Februar 2002, GZ 4 Cgs 188/0t-16, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 15. 4. 1951 geborene Klägerin war als Stationsgehilfin (von 1968 bis November 1992) und Heimhilfe (von September 1997 bis April 1998) tätig. Sie weist 404 Versicherungsmonate auf, davon 320 Monate der Pflichtversicherung und 84 Monate Ersatzzeit. Seit 1998 steht sie nicht mehr in Arbeit. Nach den getroffenen Feststellungen ist sie nur mehr zu leichter bis mittelschwerer Arbeit in den üblichen Arbeitszeiten im Sitzen, Gehen und Stehen geeignet. Ausgeschlossen sind Schwerarbeiten, sowie dauernder besonderer Zeitdruck. Es besteht keine gegenseitige (Leidens-)Potenzierung. Krankenstände sind (bei Kalkülseinhaltung) nicht prognostizierbar.

Mit Bescheid vom 15. 5. 2001 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägerin vom 9. 8. 2000 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage mit der Begründung ab, dass die von der Klägerin ausgeübten Berufe der Stationsgehilfin und Heimhilfe durch das vorliegende medizinische Leistungskalkül nicht ausgeschlossen seien.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin in nichtöffentlicher Sitzung nicht Folge. Es sah die Rügen der Unterlassung der Einholung eines psychotherapeutischen bzw eines berufskundlichen Gutachtens nicht als berechtigt an und übernahm die Feststellungen des Erstgerichts. In rechtlicher Hinsicht vertat es den Standpunkt, dass die Versicherte, die keinen Berufsschutz iSd hier (unstrittig) anzuwendenden § 255 ASVG genieße, im Rahmen ihres Leistungskalküls auf geistig einfache Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, wie zB Sortier- und Einlegearbeiten, Tisch- und Verpackungsarbeiten verwiesen werden könne. Die Anforderungen an diese weit verbreiteten Verweisungstätigkeiten, die sich sowohl unter den Augen der Öffentlichkeit abspieltenals auch allgemein bekannt seien, könnten als offenkundig iSd § 269 ZPO gelten, sodass es weiterer Feststellungen dazu, insbesondere der Einholung eines berufskundlichen Gutachtens nicht bedürfe, zumal die sozialrechtlichen Senate (der II. Instanz) überdies auf Grund ihrer berufsständischen Zusammensetzung auch über die entsprechenden Kenntnisse verfügten.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn einer Klagsstattgebung; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die Beklagte beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinn des Eventualantrags berechtigt. Was die von der Klägerin neuerlich gerügten Mängel des Verfahrens erster Instanz betrifft ist festzuhalten, dass angebliche derartige Verfahrensmängel, deren Vorliegen vom Berufungsgericht verneint wurde (hier: unterlassene Anleitung und Belehrung der Klägerin, unterlassene Einholung weiterer Gutachten zum Leistungskalkül), nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senates auch in einer Sozialrechtssache nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden können (Kodek in Rechberger2 Rz 3 Abs 2 zu § 503 ZPO; MGA ZPO15 E 38 zu § 503 mwN; SSV-NF 11/15; 7/74; 5/116 ua; RIS-Justiz RS0042963 [T45] und RS0043061).

Ein Mangel des Berufungsverfahrens könnte dann gegeben sein, wenn das Berufungsgericht infolge unrichtiger Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften eine Erledigung der Mängelrüge unterlassen oder sie mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verworfen hätte (MGA aaO E Nr 40 mwN ua; zuletzt: 10 ObS 310/02i). Beide Fälle liegen hier jedoch nicht vor, weil sich das Gericht zweiter Instanz mit der Mängelrüge auseinandergesetzt und diese mit einer der Aktenlage nicht widersprechenden Begründung als nicht Berechtigt erkannt hat (Seite 3 bis 5 der Berufungsentscheidung).

Davon abgesehen gehört die Frage, ob weitere Beweise aufzunehmen gewesen wären, zur - irrevisiblen - Beweiswürdigung der Vorinstanzen (vgl SSV-NF 7/12 mwN, RIS-Justiz RS0043320) und kann daher - wie auch die zum medizinischen Leistungskalkül, zu den Anforderungen in den Verweisungsberufen und den Tätigkeiten, welche der Versicherte aufgrund seines Leidenszustandes noch verrichten kann, getroffenen Feststellungen, die allesamt ausschließlich dem Tatsachenbereich angehören (RIS-Justiz RS0043118 [T2 und T4], RS0084399 [T5]) - im Revisionsverfahren nicht mehr überprüft werden (RIS-Justiz RS0043061 [T11], RS0040046 [T10 bis T13] zuletzt: 10 ObS 310/02i). Im vorliegenden Fall ist das Erstgericht zum Ergebnis gelangt, dass die Klägerin, die als Stationsgehilfin und Heimhilfe tätig war, noch in der Lage sei, leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten in der üblichen Arbeitszeit im Sitzen, Gehen und Stehen auszuüben, während Schwerarbeiten und Arbeiten unter dauerndem besonderen Zeitdruck ausscheiden. Ob diese vom Berufungsgericht „als Ergebnis eines mängelfreien Beweisverfahrens" übernommenen Tatsachenfeststellungen richtig sind, muss - wie bereits ausgeführt - im Revisionsverfahren ungeprüft bleiben (SSV-NF 14/7; 10 ObS 238/02a mwN; RIS-Justiz RS0040046 [T6, T7, T10 bis T13] zuletzt: 10 ObS 310/02i).

Da es sich aber auch bei der Beurteilung, ob der Versicherte im Hinblick auf das festgestellte Leistungskalkül und die Anforderungen der in Frage kommenden Tätigkeit in der Lage ist, diese Tätigkeit zu verrichten, um einen Schluss von Tatsachen auf Tatsachen handelt, der dem Bereich der Sachverhaltsfeststellung zuzuordnen ist, hat das Berufungsgericht, das sich in rechtlicher Hinsicht ausschließlich mit der Verweisbarkeit der Klägerin auseinandersetzte, offenbar übersehen, die - wenn auch im Rahmen der rechtlichen Beurteilung des Ersturteils getroffene - in der Berufung (Seite 3 f bzw 7 f = AS 67 f und 75 f) bekämpfte Tatsachenfeststellung zu überprüfen, wonach die Klägerin durch das vorliegende medizinische Leistungskalkül von den bisher ausgeübten Berufen als Stationsgehilfin und Heimhilfe nicht ausgeschlossen sei. Kann nämlich der Versicherte die zuletzt ausgeübten Tätigkeiten noch verrichten, dann stellt sich nach stRsp (SSV-NF 3/2) die Frage der Verweisung auf andere Tätigkeiten gar nicht (10 ObS 22/99d; RIS-Justiz RS0110071 [T1]; zuletzt: 10 ObS 276/02i mwN), sodass der auch in der Revision erörterte Berufsschutz nicht geprüft werden müsste.

Sollte aber die genannte Feststellung vom Berufungsgericht nicht übernommen werden, dann wäre auch die Rüge, dass das Berufungsgericht mit dem Hinweis auf Offenkundigkeit ergänzende Tatsachenfeststellungen zu den Anforderungen in möglichen Verweisungsberufen ohne Erörterung mit den Parteien getroffen hat, begründet:

Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sind Feststellungen der Tatsacheninstanzen auch dann nicht überprüfbar, wenn die Feststellungen unter Anwendung des § 269 ZPO getroffen wurden (RIS-Justiz RS0040046; SSV-NF 6/105, 14/7 mwN; zuletzt etwa 10 ObS 346/00f und 10 ObS 414/01g). Es wurde aber bereits ausgesprochen, dass es dem Berufungsgericht nicht zusteht, allein mit dem Hinweis auf Allgemeinkundigkeit von Feststellungen abzugehen, die das Erstgericht auf Grund unmittelbarer Beweisaufnahme getroffen hat (10 ObS 346/00f; 10 ObS 362/99d; 1 Ob 185/98g mwN). Da die Allgemeinkundigkeit einer Tatsache bezweifelt werden kann und der Beweis der Unrichtigkeit offenkundiger Tatsachen zulässig ist (Rechberger in Rechberger2 Rz 4 zu § 269 ZPO), muss das Berufungsgericht das von ihm beabsichtigte Abweichen von erstinstanzlichen Feststellungen mit den Parteien erörtern (SZ 55/116) und ihnen Gelegenheit geben, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten (10 ObS 263/01a = RIS-Justiz RS0040046 [T 9] = RIS-Justiz RS0040219 [T 6]).

Im vorliegenden Fall ist das Berufungsgericht nicht von erstgerichtlichen Feststellungen abgegangen, sondern hat fehlende, aus seiner Sicht unproblematische Feststellungen ergänzt. Die Möglichkeit, dass das Berufungsgericht offenkundige Tatsachen auch ohne Beweisaufnahme ergänzend seiner Entscheidung zu Grunde legen kann, wurde vom Obersten Gerichtshof zumindest für den Fall "unzweifelhafter offenkundiger Tatsachen" bejaht (SSV-NF 6/87; RIS-Justiz RS0040219 [T 4]). Soweit diese Voraussetzung nicht vorlag, wurde verlangt, dass ein solches Vorgehen mit den Parteien zu erörtern ist (RIS-Justiz RS0040219 [T 3]). Dies entspricht auch den Erfordernissen, die Art 6 EMRK an ein faires Verfahren stellt (vgl zuletzt etwa EGMR 20. 12. 2001 über die Beschwerde Nr 32.899/96 im Fall Buchberger gegen Österreich, ÖJZ 2002, 395).

Bei den Anforderungen an Verweisungsberufe, die weitgehend vor den Augen der Öffentlichkeit ausgeübt werden, kann es sich zwar um offenkundige Tatsachen handeln, vor allem im Hinblick auf gleichartige, dem Gericht bereits bekannte Fälle. Die Anforderungen sind jedoch hier nicht so unzweifelhaft, dass sie der Entscheidung ohne Erörterung mit den Parteien zu Grunde gelegt werden könnten (RIS-Justiz RS0040219 [T 7]). Gleiches gilt für die hier auch relevante Frage der Anzahl von Arbeitsplätzen in möglichen Verweisungsberufen (RIS-Justiz RS0085078 [T15]).

In diesem Sinn ist es im konkreten Fall erforderlich, mit den Parteien - gegebenenfalls unter Hinweis auf bereits vorhandene Entscheidungen in vergleichbaren Fällen, die die Offenkundigkeit begründen können (hier: iSd stRsp des erkennenden Senates, wonach auch die geminderte Arbeitsfähigkeit einer Stationsgehilfin [mit Zusatzausbildung zur Pflegehelferin] bzw die einer Pflegehelferin [nach einjähriger Ausbildung und Absolvierung einer Abschlussprüfung] nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen ist [SSV-NF 12/6; 14/61; RIS-Justiz RS0084962; RS0084778; RS0113674; zuletzt: 10 ObS 260/02m mwN]) - zu erörtern, welche Anforderungen in möglichen Verweisungsberufen gestellt werden und ob in möglichen Verweisungsberufen eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt vorhanden ist. Als ausreichende Anzahl wurden in der bisherigen Judikatur mindestens 100 gewertet (SSV-NF 7/37).

Da insoweit wesentliche Fragen vom Berufungsgericht nicht mit den Parteien erörtert wurden, kann derzeit (wie der erkennende Senat in den E vom 17. 9. 2002, 10 ObS 259/02i und 10 ObS 273/02y erst jüngst ausgesprochen hat) nämlich noch nicht beurteilt werden, welche Anforderungen mit Verweisungsberufen verbunden sind und ob in den Verweisungsberufen eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist.

Damit erweist sich das Verfahren in jedem Fall als ergänzungsbedürftig, weshalb der Revision Folge zu geben war. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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