OGH 10ObS259/02i

OGH10ObS259/02i17.9.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Gustav Liebhart (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Schönhofer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz B*****, vertreten durch Dr. Raoul Hoffer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16. November 2001, GZ 10 Rs 371/01d-30, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 1. März 2001, GZ 9 Cgs 42/00g-19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 12. 4. 1947 geborene Kläger war als Bauhilfsarbeiter tätig. Seit 1983 steht er nicht mehr in Arbeit. Auf Grund verschiedener krankhafter Veränderungen sind ihm nur mehr alle leichten und mittelschweren Arbeiten, die im Sitzen, Gehen oder Stehen zu verrichten sind, zumutbar. Ausgeschlossen sind Arbeiten in Nässe und Kälte, auf Leitern und Gerüsten sowie Arbeiten, für die ein beidäugiges Sehen erforderlich ist. Es liegt funktionelle Einäugigkeit vor, an die Gewöhnung eingetreten ist. Es bestehen keine Einschränkungen bezüglich der Anmarschwege. Krankenstände sind bei Kalkülseinhaltung nicht prognostizierbar.

Mit Bescheid vom 12. 1. 2000 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 18. 10. 1999 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab. Das Erstgericht wies die dagegen erhobene, auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab dem Stichtag 1. 11. 1999 gerichtete Klage ab. Der Kläger sei nicht im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG invalid, weil er noch in der Lage sei, eine Reihe von Beschäftigungen auszuüben, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angeboten würden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers in nichtöffentlicher Sitzung nicht Folge. Es sah die Rüge der Unterlassung der Einholung eines berufskundlichen Gutachtens nicht als berechtigt an und übernahm die Feststellungen des Erstgerichts. Den Ausführungen in der Rechtsrüge hielt es entgegen, dass es auf Grund der besonderen Zusammensetzung und Erfahrung der Senate der Sozialgerichte durch die Beschäftigung mit zahlreichen Gutachten für Berufskunde eine ausreichende Sachkunde und somit eine besondere Form der Gerichtsnotorietät im Bereich der Sozialgerichtsbarkeit gegeben sei. Da das vorliegende Leistungskalkül weder besonders kompliziert eingeschränkt sei noch die Verweisung auf ausgefallene Berufe erfolgen solle, seien die mit den in Frage kommenden Berufstätigkeiten verbundenen Anforderungen im Sinn des Gesagten offenkundig und könnten vom Berufungsgericht als Grundlage seiner Entscheidung herangezogen werden. Auf Grund des vorliegenden medizinischen Leistungskalküls kämen somit für den Kläger beispielsweise Hilfstätigkeiten in größeren Betrieben in Frage. Im Rahmen dieser Tätigkeiten wäre der Kläger zur Versorgung der Mitarbeiter mit Arbeitsmaterial eingesetzt. Es handle sich um leichte Zutragearbeiten (Kleinmaterial) entsprechend dem Bedarf bzw den Wünschen der Mitarbeiter. Weiters seien Besorgungsarbeiten, zumeist im Innendienst, durchzuführen. Ebenso kämen für den Kläger grobe Einschlichtarbeiten in Frage. Dabei seien diverse Fertigprodukte (zB Textilprodukte, Bürowaren) in bereits vorbereitete Kartons oder Schachteln händisch einzuschlichten und versandfertig herzurichten. Bei diesen Arbeiten handle es sich um solche mit leichter körperlicher Belastung im Sitzen, Stehen und Gehen ohne exponierte Stellen durchwegs unter Vermeidung von Durchnässung sowie Unterkühlung im Rahmen des Achtstunden-Arbeitstages. Beidäugiges Sehen sei berufsbedingt nicht erforderlich. Die angeführten Berufstätigkeiten kämen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausreichend vor. Der Kläger könne sie trotz seiner medizinischen Einschränkungen noch verrichten.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens udn der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn einer Klagsstattgebung. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die Beklagte beteiligte sich am Revisionsverfahren nicht.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinn des Eventualantrags berechtigt. Die Rüge, dass das Berufungsgericht mit dem Hinweis auf Offenkundigkeit ergänzende Tatsachenfeststellungen zu den Anforderungen in möglichen Verweisungsberufen und zum Vorhandensein solcher Berufstätigkeiten in ausreichender Zahl am Arbeitsmarkt ohne Erörterung mit den Parteien getroffen hat, ist begründet. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sind Feststellungen der Tatsacheninstanzen auch dann nicht überprüfbar, wenn die Feststellungen unter Anwendung des § 269 ZPO getroffen wurden (RIS-Justiz RS0040046; SSV-NF 6/105, 14/7 mwN; zuletzt etwa 10 ObS 346/00f und 10 ObS 414/01g). Es wurde aber bereits ausgesprochen, dass es dem Berufungsgericht nicht zusteht, allein mit dem Hinweis auf Allgemeinkundigkeit von Feststellungen abzugehen, die das Erstgericht auf Grund unmittelbarer Beweisaufnahme getroffen hat (10 ObS 346/00f; 10 ObS 362/99d; 1 Ob 185/98g mwN). Da die Allgemeinkundigkeit einer Tatsache bezweifelt werden kann und der Beweis der Unrichtigkeit offenkundiger Tatsachen zulässig ist (Rechberger in Rechberger, ZPO2 § 269 Rz 4), muss das Berufungsgericht das von ihm beabsichtigte Abweichen von erstinstanzlichen Feststellungen mit den Parteien erörtern (SZ 55/116) und ihnen Gelegenheit geben, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten (10 ObS 263/01a = RIS-Justiz RS0040046 [T 9] = RIS-Justiz RS0040219 [T 6]).

Im vorliegenden Fall ist das Berufungsgericht nicht von erstgerichtlichen Feststellungen abgegangen, sondern hat fehlende, aus seiner Sicht unproblematische Feststellungen ergänzt. Die Möglichkeit, dass das Berufungsgericht offenkundige Tatsachen auch ohne Beweisaufnahme ergänzend seiner Entscheidung zu Grunde legen kann, wurde vom Obersten Gerichtshof zumindest für den Fall "unzweifelhafter offenkundiger Tatsachen" bejaht (SSV-NF 6/87; RIS-Justiz RS0040219 [T 4]). Soweit diese Voraussetzung nicht vorlag, wurde verlangt, dass ein solches Vorgehen mit den Parteien zu erörtern ist (RIS-Justiz RS0040219 [T 3]). Dies entspricht auch den Erfordernissen, die Art 6 EMRK an ein faires Verfahren stellt (vgl zuletzt etwa EGMR 20. 12. 2001 über die Beschwerde Nr 32.899/96 im Fall Buchberger gegen Österreich, ÖJZ 2002, 395).

Bei den Anforderungen an Verweisungsberufe, die weitgehend vor den Augen der Öffentlichkeit ausgeübt werden, kann es sich zwar um offenkundige Tatsachen handeln, vor allem im Hinblick auf gleichartige, dem Gericht bereits bekannte Fälle. Die Anforderungen sind jedoch hier nicht so unzweifelhaft, dass sie der Entscheidung ohne Erörterung mit den Parteien zu Grunde gelegt werden könnten (anders noch RIS-Justiz RS0040219 [T 5]). Gleiches gilt für die hier auch relevante Frage der Anzahl von Arbeitsplätzen in möglichen Verweisungsberufen (anders noch SSV-NF 10/69).

In diesem Sinn ist es im konkreten Fall erforderlich, mit den Parteien - gegebenenfalls unter Hinweis auf bereits vorhandene Entscheidungen in vergleichbaren Fällen, die die Offenkundigkeit begründen können - zu erörtern, welche Anforderungen in möglichen Verweisungsberufen gestellt werden und ob in möglichen Verweisungsberufen eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt vorhanden ist. Als ausreichende Anzahl wurden in der bisherigen Judikatur mindestens 100 gewertet (SSV-NF 7/37).

Da somit wesentliche Fragen vom Berufungsgericht nicht mit den Parteien erörtert wurden, kann derzeit noch nicht beurteilt werden, welche Anforderungen mit Verweisungsberufen verbunden sind und ob in den Verweisungsberufen eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist. Insoweit erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig, weshalb der Revision Folge zu geben war. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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