OGH 10ObS362/99d

OGH10ObS362/99d25.1.2000

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Fellinger sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Gabriele Griehsel (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Bernhard Rupp (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Vesna H*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Mag. Wolf Anderluh, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16. September 1999, GZ 10 Rs 189/99h-52, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 3. März 1998 (richtig: 1999), GZ 14 Cgs 71/97a-39, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 17. 9. 1951 geborene Klägerin erlernte keinen Beruf und war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag als Hausbesorgerin, Wäscherin und Bedienerin tätig. Sie kann noch leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen verrichten. Arbeiten, die mit ständigem Bücken, Hocken, Knien, Treppensteigen verbunden sind, sind ebenso wie Arbeiten an exponierten Stellen (Leitern und Gerüsten) ausgeschlossen. Arbeiten in ständiger Nässe und Kälte sowie Arbeiten, die mit dem Heben von Lasten über 7 kg verbunden sind, sind ebenfalls nicht möglich. Die Klägerin kann unter städtischen Bedingungen unter Zuhilfenahme von Stützkrücken eine Wegstrecke von 500 m zurücklegen. Die Benützung von (öffentlichen) Verkehrsmitteln ist nur dann möglich, wenn es sich dabei um Unterflurwägen handelt.

Mit Bescheid vom 26. 3. 1997 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 23. 10. 1996 auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene, auf Zahlung der Invaliditätspension ab 1. 11. 1996 gerichtete Klagebegehren ab. Die Klägerin sei nicht invalid nach § 255 Abs 3 ASVG, weil sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch verschiedene Hilfsarbeitertätigkeiten wie beispielsweise Sortierarbeiten, leichte Verpackungsarbeiten udgl verrichten könne. Hinsichtlich des Anmarschweges zur Arbeitsstätte vertrat das Erstgericht die Auffassung, für das Wiener Stadtgebiet könne davon ausgegangen werden, dass ausreichend Niederflur-Autobusse im Einsatz seien, um eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen erreichen zu können.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es könne zwar entgegen der Auffassung des Erstgerichtes nicht als offenkundig angesehen werden, dass der Klägerin Buslinien, auf welchen Niederflurbusse eingesetzt werden, in ausreichender Anzahl zur Verfügung stünden, es könne aber als bekannt vorausgesetzt werden, dass im Bereich der Wiener U-Bahnen fast ausschließlich Waggons eingesetzt werden, deren Boden nur wenige Zentimeter über dem Niveau des Bahnsteiges liege. Eine Ausnahme davon bilde derzeit nur noch die Linie U 6; es sei jedoch zu beobachten, dass auch auf dieser Linie jede Zugsgarnitur zumindest einen oder zwei Niederflurwaggons enthalte, sodass die Klägerin jeden Zug dieser Linie benützen könne. Die Klägerin könne von ihrer Wohnung eine in ihrer Nähe gelegene Station der Linie U 4 erreichen. Im Hinblick auf den weit fortgeschrittenen Ausbauzustand des Wiener U-Bahnnetzes sei davon auszugehen, dass einem Versicherten, der die U-Bahn benützen könne, eine ausreichende Zahl erreichbarer Arbeitsplätze zur Verfügung stehe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die nicht beantwortete Revision der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, das angefochtene Urteil durch Klagestattgebung abzuändern oder es allenfalls aufzuheben und die Sache an das Erstgericht oder an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Als Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens rügt die Klägerin den Umstand, dass das Erstgericht ohne Erörterung mit den Parteien davon ausgegangen sei, dass sie die U-Bahn benützen könne und ihr daher im Hinblick auf den weit fortgeschrittenen Ausbauzustand des Wiener U-Bahnnetzes bekanntermaßen eine ausreichende Zahl erreichbarer Arbeitsplätze zur Verfügung stehe. Der unfallchirurgische Sachverständige habe lediglich ausgeführt, dass der Klägerin die Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln nur möglich sei, wenn es sich dabei um Unterflurwägen handle. Ob die Klägerin auch die U-Bahn benützen könne, sei seinem Gutachten nicht zu entnehmen. Im Übrigen hätte das Berufungsgericht die Frage der Erreichbarkeit einer ausreichenden Zahl von Arbeitsplätzen auf Grund des weit fortgeschrittenen Ausbauzustandes des Wiener U-Bahnnetzes nicht ohne vorherige Erörterung mit den Parteien seiner Entscheidung zugrunde legen dürfen.

Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang geltend macht, bei richtiger Bewertung ihrer gesundheitlichen Einschränkungen hätten die Tatsacheninstanzen zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass sie weder eine Wegstrecke von 500 m zurücklegen noch irgendwelche öffentlichen Verkehrsmittel benützen könne, ist ihr entgegenzuhalten, dass die diesbezüglichen gegenteiligen Feststellungen der Vorinstanzen im Revisionsverfahren nicht überprüfbar sind, mag auch die Feststellung der Möglichkeit der Benützung der U-Bahn durch die Klägerin vom Berufungsgericht unter Anwendung des § 269 ZPO getroffen worden sein (vgl 1 Ob 185/98g mwN; RIS-Justiz RS0040046). Nur soweit die erste Instanz über die Frage Beweise aufgenommen und, darauf gestützt, eine Tatsache festgestellt hat, darf das Berufungsgericht nicht - ohne Beweiswiederholung - von Feststellungen des Erstgerichtes mit der Begründung abgehen, dass das Gegenteil (oder Abweichendes) offenkundig sei. Will das Berufungsgericht in einem solchen Fall die von ihm als offenkundig angesehenen Tatsachen der Entscheidung zugrunde legen, dann muss es die Beweise wiederholen und auf Grund der neuerlichen Beweisaufnahme die von ihm (als offenkundig angenommenen) Tatsachen aus den Beweisergebnissen ableiten. Das Berufungsgericht darf aber - wie im vorliegenden Fall - im Berufungsverfahren auch ohne Beweisaufnahme ergänzend Tatsachen seiner Entscheidung zugrunde legen, die offenkundig sind (Fasching, Komm III 269 f; SZ 37/120; SZ 28/70 ua; RIS-Justiz RS0040063; RS0040291 ua).

Offenkundige Tatsachen bedürfen nicht nur keines Beweises, sondern sie müssen nicht einmal behauptet werden. Das Gericht hat sie von Amts wegen, auch wenn sie nicht vorgebracht wurden, seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Bei Gericht offenkundig sind vor allem alle Tatsachen, die einer beliebig großen Anzahl von Menschen bekannt oder doch ohne Schwierigkeiten jederzeit zuverlässig wahrnehmbar sind. Dazu gehören insbesondere auch Schlussfolgerungen und Erkenntnisse, die aus der alltäglichen Erfahrung eines Durchschnittsmenschen hergeleitet werden können (Fasching aaO 265; Rechberger in Rechberger, ZPO2 Rz 2 zu § 269 mwN; RIS-Justiz RS0040237).

Der bereits weit fortgeschrittene Ausbauzustand des Wiener U-Bahnnetzes ist allgemein bekannt und es ist auch offenkundig, dass im Nahbereich der U-Bahnstationen (Umkreis von ca 500 m) eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen für - der Klägerin im Wesentlichen noch zumutbare - leichte, überwiegend im Sitzen zu verrichtende Hilfsarbeiten zur Verfügung steht. Da diese Tatsache und ihre Offenkundigkeit nicht zweifelhaft ist, musste das Berufungsgericht diese Frage nicht mit den Parteien erörtern, sondern durfte sie seiner Entscheidung auch ohne Erörterung von Amts wegen zugrunde legen (SSV-NF 6/87).

Unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung wiederholt die Klägerin zunächst die bereits in der Berufung erfolglos geltend gemachte Verletzung der richterlichen Anleitungspflicht gemäß § 39 ASGG nunmehr unter ausdrücklicher Bezugnahme auch auf die Bestimmung des § 182 ZPO. Verfahrensmängel erster Instanz, deren Vorliegen das Berufungsgericht verneint hat (wie hier die Verletzung der Anleitungspflicht gegenüber der im Verfahren erster Instanz qualifiziert vertretenen Klägerin), können im Revisionsverfahren - auch in Sozialrechtssachen - nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden (SSV-NF 9/40, 7/74 mwN uva). Auch die von der Klägerin in diesem Zusammenhang geltend gemachten Feststellungsmängel liegen nicht vor, weil das Erstgericht ausdrücklich festgestellt hat, dass die Klägerin "Unterflurwägen" (gemeint: Niederflur-Autobusse - vgl S 4 der Urteilsausfertigung) benützen kann und das Berufungsgericht es darüber hinaus als offenkundig ansah, dass die Klägerin auch die U-Bahn benutzen kann.

Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ist zwar unabhängig davon, ob der körperliche und geistige Zustand des Versicherten noch den mit der Berufstätigkeit selbst verbundenen Anforderungen entspricht, auch dann eingetreten, wenn der Versicherte nicht mehr im Stande ist, in zumutbarer Weise einen Arbeitsplatz zu erreichen. Ob diese Voraussetzung besteht, ist eine Rechtsfrage, die ausgehend von den Tatsachenfeststellungen über die körperlichen und geistigen Einschränkungen des Versicherten zu klären ist. Es sind Feststellungen erforderlich, welche Strecke der Versicherte zu Fuß zu bewältigen im Stande ist, ob er in der Lage ist, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen und welche Behinderungen dabei allenfalls bestehen (RIS-Justiz RS0085098). Nach der Rechtsprechung ist ein Versicherter wegen einer Gehbehinderung so lange nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, als er ohne wesentliche Einschränkungen ein öffentliches Verkehrsmittel benützen und vorher sowie nachher ohne unzumutbare Pausen eine Wegstrecke von jeweils 500 m zurücklegen kann (SSV-NF 10/17; 6/109; 5/39; 2/105 uva; RIS-Justiz RS0085049).

Die Klägerin kann nach den Feststellungen eine Wegstrecke von 500 m zu Fuß zurücklegen. Für die Annahme, dass sie diese Wegstrecke nicht mit angemessener Geschwindigkeit (zufolge des Erfordernisses der Einhaltung unzumutbarer Pausen) zurücklegen könnte, bieten die Verfahrensergebnisse keinen Anhaltspunkt. Da die Klägerin nach den Feststellungen des Berufungsgerichtes die U-Bahn benutzen kann und ihr damit eine ausreichende Zahl erreichbarer Arbeitsplätze zur Verfügung steht, ist auf die Frage, in welchem Umfang der Klägerin in Wien auch Niederflur-Autobusse zur Erreichung des Arbeitsplatzes zur Verfügung stehen, nicht weiter einzugehen.

Bei der Beurteilung der Frage, ob der Versicherte in zumutbarer Weise einen Arbeitsplatz erreichen kann, kommt es nach ständiger Rechtsprechung nicht auf die Verhältnisse am Wohnort des Versicherten, sondern auf die Verhältnisse am allgemeinen Arbeitsmarkt an, weil der Versicherte sonst durch die Wahl seines Wohnortes die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pension beeinflussen könnte. Sofern nicht medizinische Gründe dem entgegenstehen, hat der Versicherte durch entsprechende Wahl seines Wohnortes, allenfalls Wochenpendeln, die Bedingungen für die Erreichung des Arbeitsplatzes herzustellen, die für Arbeitnehmer im Allgemeinen gegeben sind (SSV-NF 2/105 und 145 mwN uva). Der Hinweis des Berufungsgerichtes, die Klägerin könne von ihrer Wohnung in Wien eine in ihrer Nähe gelegene Station der U-Bahnlinie 4 erreichen, bedeutet kein Abgehen von dieser Rechtsprechung, sondern bringt nur zum Ausdruck, dass bei der Klägerin eine Verlegung des Wohnortes für die Erreichung des Arbeitsplatzes ohnehin nicht erforderlich ist.

Soweit die Klägerin schließlich noch geltend macht, dass sich ihr Gesundheitszustand nach Schluss der Verhandlung erster Instanz verschlechtert habe, muss dieses Vorbringen infolge des auch im Rechtsmittelverfahren in Sozialrechtssachen geltenden Neuerungsverbotes (SSV-NF 1/45 ua) unbeachtlich bleiben.

Ist aber die Klägerin nicht wegen der Unmöglichkeit, den Arbeitsplatz zu erreichen, vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, dann bestehen gegen ihre nach den Feststellungen gegebene Verweisbarkeit auf leichte Hilfsarbeitertätigkeiten überwiegend im Sitzen keine Bedenken. Demnach liegt Invalidität im Sinne des § 255 Abs 3 ASVG nicht vor.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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