OGH 10ObS13/24w

OGH10ObS13/24w4.6.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Arno Sauberer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Anton Starecek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch Dr. Ingo Riß, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15–19, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr. Simone Metz, LL.M., Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 19. Dezember 2023, GZ 9 Rs 82/23 d‑21, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00013.24W.0604.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld für ihren am 14. November 2021 geborenen Sohn T*. Im Revisionsverfahren ist nur zu klären, unter welchen Voraussetzungen Zeiten einer Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat als Erwerbstätigkeit iSd § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG gelten.

[2] Die Klägerin übte in der Zeit von 1. August 2013 bis 30. Juni 2021 in Deutschland und ab 1. Juli 2021 in Österreich eine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit aus. Der Vater von T* war (bis zum Antrag der Klägerin auf Gewährung von Kinderbetreuungsgeld am 13. Dezember 2021) weder in Deutschland noch in Österreich erwerbstätig. In der Zeit von 6. Oktober 2021 bis 26. Jänner 2022 bezog die Klägerin Wochengeld.

[3] Seit 24. Juni 2021 leben die Klägerin, T* und sein Vater in einem gemeinsamen Haushalt in Wien, wo sich der Lebensmittelpunkt der Familie befindet und auch alle hauptwohnsitzlich gemeldet sind.

[4] Die Vorinstanzen verpflichteten die (säumige) beklagte Österreichische Gesundheitskasse, der Klägerin für T* Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für den Zeitraum von 27. Jänner 2022 bis 30. Juni 2022 von 66 EUR täglich zu zahlen.

Rechtliche Beurteilung

[5] In ihrer außerordentlichen Revision zeigt die Beklagte keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

[6] 1. Im Revisionsverfahren ist nicht strittig, dass für die Klägerin aufgrund ihrer vormaligen Erwerbstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats der persönliche Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 eröffnet ist (RS0117828 [T1, T5]; Spiegel in Fuchs/Janda Europäisches Sozialrecht8 Art 2 VO [EG] 883/2004 Rz 17 ua). Unstrittig ist ferner, dass Kinderbetreuungsgeld eine zu koordinierende Familienleistung iSd Art 1 lit z und Art 3 Abs 1 lit j VO (EG) 883/2004 sowie der DVO (EG) 987/2009 ist (RS0122905 [insb T4]; 10 ObS 101/22h Rz 23 ua) und daher für seine Erbringung jener Mitgliedstaat zuständig ist, dessen Rechtsvorschriften gemäß Art 11 ff VO (EG) 883/2004 anwendbar sind (10 ObS 64/23v Rz 17; 10 ObS 36/21y Rz 21 ua).

[7] 2. Nach Art 11 Abs 1 VO (EG) 883/2004 unterliegen Personen, für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Für Personen, die in einem Mitgliedstaat eine „Beschäftigung“ ausüben, sind das die Rechtsvorschriften dieses Staats (Art 11 Abs 3 lit a VO [EG] 883/2004) und zwar unabhängig davon, wo sie ihren Wohnsitz haben (10 ObS 12/23x Rz 14; 10 ObS 133/22i Rz 9). Da Art 1 lit a der VO (EG) 883/2004 für die Definition des Begriffs „Beschäftigung“ auf das Sozialrecht der Mitgliedstaaten verweist, ist für die kollisionsrechtliche Anknüpfung – sowohl des pauschalen als auch des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes – nach ständiger Rechtsprechung die Definition des Begriffs der „Beschäftigung“ in § 24 Abs 2 KBGG maßgeblich, wobei diese gleichzeitig der Festlegung der Anspruchsvoraussetzungen des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes dient (RS0130043 [insb T9]; 10 ObS 61/22a Rz 15 ua).

[8] Unter einer Erwerbstätigkeit bzw Beschäftigung ist daher, „die tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen […] Erwerbstätigkeit“ zu verstehen (§ 24 Abs 2 KBGG).

[9] 3. Diese Grundsätze bezweifelt die Beklagte nicht. Sie stellt auch nicht in Abrede, dass der Oberste Gerichtshof die Beschränkung des § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG auf eine nur in Österreich (und nicht auch in anderen Mitgliedstaaten) ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit aufgrund der in Art 5 VO (EG) 883/2004 angeordneten Tatbestandsgleichstellung als unionsrechtswidrig qualifiziert (RS0130428; 10 ObS 148/14h = DRdA‑infas 2016/80 [Thomasberger]). Sie meint allerdings, aus der Entscheidung des EuGH zu C‑95/18 , C‑96/18 , van den Berg, Giesen und Franzen, sowie der darauf zurückgehenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ergebe sich, dass zumindest ein Elternteil während des gesamten 182‑Tage‑Zeitraums des § 24 Abs 1 Z 2 KBGG in Österreich erwerbstätig gewesen sein müsse.

[10] Dem ist nicht zu folgen.

[11] 4. Zwar ist richtig, dass der Oberste Gerichtshof schon wiederholt ausgesprochen hat, dass der Wohnsitz des Kindes und seiner Eltern in Österreich für sich allein kein ausreichendes Anknüpfungskriterium für einen Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld darstellt, wenn beide Elternteile in einem anderen von der Koordinierung erfassten (Mitglied-)Staat beschäftigt sind. In diesem Fall sind Beschäftigungszeiten, die dort zurückgelegt wurden – auch unter Bedachtnahme auf das Primärrecht – nicht für die Erfüllung der Voraussetzungen des § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG heranzuziehen (10 ObS 164/19y; 10 ObS 160/19f; 10 ObS 135/19d; 10 ObS 120/19y = RS0130428 [T1]).

[12] 4.1. Die von der Beklagten daraus abgeleitete Konsequenz lässt sich daraus aber nicht ziehen. Die zitierte Rechtsprechung beruht nicht – was die Beklagte unterstellt – darauf, ob ein Elternteil Grenzgänger ist oder nicht, sondern darauf, ob Österreich nach der VO (EG) 883/2004 (vor- oder nachrangig) zuständig ist (so auch Sonntag, Aktuelle Probleme des Kinderbetreuungsgeldes und des Familienzeitbonus, ZAS 2022, 51 [Pkt E.1. aE]). Das war in den genannten Fällen aufgrund der Erwerbstätigkeit beider Elternteile in einem anderen (EWR‑ oder) Mitgliedstaat nicht der Fall. In dieser Konstellation hat(te) eine Gleichstellung der dort zurückgelegten Beschäftigungszeiten nach Art 5 VO (EG) 883/2004 nicht zu erfolgen, weil eine solche erst dann vorzunehmen ist, wenn zuvor die Zuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 feststeht (10 ObS 179/21b Rz 15; Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [57. Lfg] Art 5 VO [EG] 883/2004 Rz 2 ua). Das entspricht (auch) Erwägungsgrund 11 der VO (EG) 883/2004 , wonach die Gleichstellung von Sachverhalten oder Ereignissen, die in einem Mitgliedstaat eingetreten sind, in keinem Fall bewirken kann, dass ein anderer Mitgliedstaat zuständig wird oder dessen Rechtsvorschriften anwendbar werden.

[13] 4.2. Die Gleichstellung von Beschäftigungszeiten in einem anderen Mitgliedstaat kann daher für sich alleine zwar keine (Leistungs‑)Zuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 begründen. Dazu kommt es hier aber nicht, weil Österreich – was die Beklagte nicht bezweifelt – infolge der Erwerbstätigkeit der Klägerin im Inland nach Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 zuständig ist. Für diese Situation ist geklärt, dass gemäß Art 5 VO (EG) 883/2004 eine (sozialversicherungspflichtige) Erwerbstätigkeit in einem anderen EWR‑ oder Mitgliedstaat einer in Österreichausgeübten Erwerbstätigkeit iSd § 24 Abs 2 KBGG gleichgestellt ist. Die Beklagte klärt auch nicht auf, welchen Anwendungsbereich Art 5 VO (EG) 883/2004 ihrer Ansicht nach (noch) hätte, wenn stets einer der Elternteile die letzten 182 Tage vor der Geburt in Österreich erwerbstätig sein müsste.

[14] 5. Zusammenfassend spricht die Beklagte in der Revision daher keine Fragen an, die in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht schon beantwortet sind, sodass die Revision nicht zulässig ist.

[15] 6. Kosten für die ohne Freistellung durch den Obersten Gerichtshof eingebrachte Revisionsbeantwortung stehen der Klägerin nach § 508a Abs 2 Satz 2 ZPO iVm § 2 ASGG nicht zu (RS0043690 [T6, T7]).

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