European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00135.19D.0526.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie insgesamt zu lauten haben:
Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens in der Zeit von 11. 3. 2018 bis 18. 11. 2018 als Ausgleichszahlung in gesetzlicher Höhe zu zahlen, wird abgewiesen.
Die klagende Partei hat die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen.
Entscheidungsgründe:
I. Die Bezeichnung der ursprünglich beklagten Wiener Gebietskrankenkasse war gemäß § 23 Abs 1 und § 538t Abs 1 ASVG von Amts wegen auf Österreichische Gesundheitskasse zu berichtigen.
II. Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld anlässlich der Geburt ihres Sohnes T***** am 19. 11. 2017 für den Zeitraum von 11. 3. 2018 bis 18. 11. 2018.
Die Klägerin, ihr Ehemann und der gemeinsame Sohn sind österreichische Staatsbürger und leben am gemeinsamen Hauptwohnsitz in Vorarlberg. Die Klägerin ist seit 2012 unselbständig in der Schweiz erwerbstätig. Auch ihr Ehegatte arbeitet in der Schweiz. Die Klägerin führt aufgrund ihrer Beschäftigung AHV-Beiträge, ALV-Beiträge, Nichtberufsunfall-Beiträge, Beiträge der Krankentaggeldversicherung, der überobligatorischen Versicherung und Pensionskassenbeiträge ab. Ihr Arbeitgeber führt für sie ebenfalls Pensionskassenbeiträge ab. Sie ist privat krankenversichert.
Die Klägerin befand sich von 19. 11. 2017 bis 10. 3. 2018 in Mutterschaftsurlaub und bezog in dieser Zeit eine Mutterschaftsleistung aus der Schweiz. Im Anschluss daran konsumierte sie von 11. 3. 2018 bis 15. 3. 2018 Urlaub. Für den Zeitraum von 16. 3. 2018 bis 29. 11. 2018 vereinbarte sie mit ihrem Arbeitgeber unbezahlten Urlaub. Ihr Ehemann bezieht seit der Geburt des gemeinsamen Sohnes die Kinderzulage von 200 CHF monatlich aus der Schweiz.
Die Klägerin ist „privat“ bei einem österreichischen Krankenversicherer krankenversichert.
Mit Bescheid vom 9. 1. 2019 lehnte die Wiener Gebietskrankenkasse den Antrag auf Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens mit der Begründung ab, die Klägerin habe im Beobachtungszeitraum keine in Österreich sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ausgeübt; somit könne es zu keiner Sachverhaltsgleichstellung mit ausländischen Erwerbs- und Versicherungszeiten kommen.
Das Erstgericht sprach der Klägerin Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens als Ausgleichszahlung für die Zeit von 11. 3. 2018 bis 18. 11. 2018 in der gesetzlichen Höhe zu.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Wiener Gebietskrankenkasse nicht Folge. Es ließ die Revision zu, weil zu einer Konstellation wie der vorliegenden – Beschäftigung beider Elternteile in der Schweiz und Bestehen (nur) einer privaten Krankenversicherung in Österreich – keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.
Rechtlich bejahte es den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 und qualifizierte das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens gemäß §§ 24 ff KBGG als Familienleistung im Sinn des Art 1 lit z VO 883/2004 . Familienleistungen seien nach Art 67 VO 883/2004 zu exportieren, wobei sich die Zuständigkeit für den Export nach Art 11 VO 883/2004 bestimme. Dabei sei nach Art 60 Abs 1 Satz 2 der DurchführungsVO (EG) 987/2009 – die auch im Verhältnis zur Schweiz anzuwenden sei – eine „Familienbetrachtungsweise“ vorzunehmen. Da für beide Eltern die Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats Schweiz anzuwenden seien, komme die Prioritätsregel des Art 68 Abs 1 lit a VO 883/2004 zur Anwendung. Im Anwendungsbereich der VO 883/2004 sei aber immer auch der Wohnsitz des Kindes zu berücksichtigen, weil für dieses mit dem Wohnsitz gemäß Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 eine eigene Anknüpfung für die anzuwendenden Rechtsvorschriften bestehe. Dies führe zur Anwendung der Rechtsvorschriften Österreichs als Wohnsitzstaat des Kindes. Im Ergebnis sei daher nach Art 68 VO 883/2004 die Schweiz als Beschäftigungsstaat vorrangig, Österreich als Wohnsitzstaat nachrangig zuständig. Die Klägerin begehre daher zutreffend das Kinderbetreuungsgeld als Ausgleichszahlung. Die Klägerin sei seit dem Jahr 2012 in der Schweiz unselbständig beschäftigt gewesen, sodass die Voraussetzung der Ausübung einer kranken- und pensionsversicherten Tätigkeit in Österreich gemäß § 24 Abs 1 Z 2, Abs 2 KBGG nicht vorliege. Aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes des Art 4 und des Gebots der Sachverhaltsgleichstellung nach Art 5 VO (EG) 883/2004 sei aber die in § 24 KBGG enthaltene Beschränkung auf eine in Österreich ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit als unionsrechtswidrig zu qualifizieren und müsse unangewendet bleiben. Dass die Klägerin die ihr als Grenzgängerin offenstehende Möglichkeit gewählt habe, ihrer Krankenversicherungspflicht dadurch nachzukommen, dass sie eine private Krankenversicherung in Österreich abgeschlossen habe, schade nicht, weil die Krankenversicherungspflicht in der Schweiz abweichend vom System der Pflichtversicherung in Österreich geregelt sei.
Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen im klageabweisenden Sinn abzuändern, hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts vom 12. 8. 2019 mit der zu 10 ObS 120/19y ergangenen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 19. 11. 2010 nicht im Einklang steht.
Die Revisionswerberin vertritt den Standpunkt, es wäre nicht verständlich, wenn ein anderer Staat zugunsten der Klägerin, die sich in der Schweiz bewusst von der Pflichtversicherung befreien habe lassen, daraus resultierende Nachteile ausgleichen müsse. Durch das Bestehen lediglich einer freiwilligen Versicherung (und nicht einer Pflichtversicherung) fehle es von vornherein an einer Grundlage für eine Sachverhaltsgleichstellung. Eine Sachverhaltsgleichstellung gelte auch nicht grenzenlos: Sie könne niemals bewirken, dass ein anderer Staat zuständig wird oder dessen Rechtsvorschriften anwendbar werden. Das österreichische Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens soll nach dem Sinn und Zweck dieser Leistung nur jenen Eltern einen Leistungsanspruch eröffnen, die von ihrem Entgelt sowohl Sozialversicherungsbeiträge als auch Steuern und FLAF-Beiträge in Österreich entrichtet haben.
Diese Ausführungen sind im Hinblick auf die zu einem vergleichbaren Sachverhalt, aber erst nach der Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen Entscheidung 10 ObS 120/19y berechtigt:
1. Die Verordnung (EG) 883/2004 findet ebenso wie die Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 im Wege des sektoriellen Abkommens der EU mit der Schweiz seit 1. 4. 2012 auch auf das Verhältnis zur Schweiz Anwendung (Kahil‑Wolff in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7, Vor Art 1 VO 883/2004 Rz 6). Der persönliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 ist für die Klägerin, eine Grenzgängerin im Sinn des Art 1 lit f VO 883/2004 eröffnet (Art 2 Abs 1 VO 883/2004 ). Ihr sachlicher Anwendungsbereich ist gemäß Art 3 Abs 1 lit j VO 883/2004 eröffnet, weil es sich beim Kinderbetreuungsgeld um eine Familienleistung nach dieser Bestimmung handelt (RS0122905 [T4]).
2. Personen, die in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen, unterliegen gemäß Art 11 Abs 1 VO 883/2004 den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Grundsätzlich ist gemäß Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 das Recht des Mitgliedstaats maßgebend, in dem eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Für die Klägerin ist demnach das Recht der Schweiz als ihres Beschäftigungsstaats anwendbar.
3. Familienleistungen werden nach den Art 67–69 VO 883/2004 koordiniert. Gemäß Art 67 VO 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat bzw Vertragsstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats bzw Vertragsstaats. Die Klägerin hat danach grundsätzlich Anspruch auf Familienleistungen nach schweizerischem Recht für ihren in Österreich lebenden Sohn als Familienangehörigen (Art 1 lit i VO 883/2004 ). Die Schweiz gewährt nach den Verfahrensergebnissen zwar Familienleistungen, allerdings keine dem Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens vergleichbare Leistung.
4.1 Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten (bzw Vertragsstaaten) zu gewähren, so gelangen die Prioritätsregeln des Art 68 VO 883/2004 zur Anwendung. Das ist auch hier der Fall, weil für den Sohn der Klägerin Leistungen sowohl nach schweizerischem Recht (Kinderzulage) als auch nach österreichischem Recht (Ausgleichszahlung zur Familienbeihilfe) gewährt werden.
4.2 Ebenso wie in dem zu 10 ObS 120/19y zu beurteilenden Sachverhalt gelangt auch im vorliegenden Fall nur Art 68 Abs 1 lit a VO 883/2004 zur Anwendung, weil ein Anspruch der Klägerin mangels Beschäftigung in Österreich nur aufgrund des Wohnorts des Kindes in Österreich denkbar ist. Auch der Gatte der Klägerin war nicht in Österreich beschäftigt, sodass auch hier nur ein über den Wohnort ausgelöster Anspruch in Frage käme. Eine der Entscheidung des EuGH, C‑32/18 , Moser, vergleichbare Konstellation liegt auch im vorliegenden Fall nicht vor. Insbesondere kann auch im vorliegenden Fall die Klägerin ihren Anspruch nicht aus einer Beschäftigung ihres Gatten in Österreich ableiten, wie dies der EuGH in der Entscheidung C‑32/18 , Moser, getan hat.
5.1 Bei der Anwendung österreichischen Rechts ist der Anspruch der Klägerin aus dem von der Beklagten angeführten Grund des Fehlens einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit in Österreich (§ 24 Abs 2 KBGG) vor der Geburt des Sohnes zu verneinen. Dazu kann auf die ausführliche Begründung der Entscheidung 10 ObS 120/19y verwiesen werden (dort Pkt 4.). Daraus ist zusammengefasst hervorzuheben:
5.2 Nach dem Standpunkt der Klägerin müsste im Rahmen der Koordinierung nicht nur das rein mitgliedstaatliche (österreichische) Recht angewendet werden, sondern dieses darüber hinaus unionsrechtskonform ausgelegt werden, indem generell auch Beschäftigungszeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat bzw Vertragsstaat (hier: Schweiz) zurückgelegt wurden, für die Erfüllung der Voraussetzungen des § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG heranzuziehen wären. Damit würde allerdings der Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit verlassen. Art 45 AEUV räumt einem Wanderarbeitnehmer nicht das Recht ein, sich in seinem Wohnsitzstaat (hier: Österreich) auf dieselbe soziale Absicherung zu berufen wie die, in deren Genuss er käme, wenn er in diesem Mitgliedstaat arbeitete, falls er tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat bzw Vertragsstaat arbeitet (hier: Schweiz) und gemäß den Bestimmungen dieses (leistungszuständigen) Mitgliedstaats bzw Vertragsstaats nicht in den Genuss einer solchen Absicherung kommt (EuGH C‑95/18 , C‑96/18 , van den Berg, Giesen und Franzen, Rn 58). Eine aus einer Beschäftigung in einem anderen Staat abgeleitete Leistungsverpflichtung des Wohnsitzstaats würde das durch den AEUV eingerichtete Gleichgewicht zerstören, weil eine solche Pflicht dazu führen könnte, dass nur das Gesetz des Mitgliedstaats, der die vorteilhaftere soziale Sicherung bietet, angewandt wird. Es bestünde die Gefahr der Beeinträchtigung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit desjenigen Mitgliedstaats, der die vorteilhafteste soziale Sicherung bietet.
6. Die Klägerin hat daher keinen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens.
Der Revision der Beklagten ist daher dahin Folge zu geben, dass das Klagebegehren abgewiesen wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Voraussetzung für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit an den unterlegenen Versicherten sind nicht nur die tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten des Verfahrens, sondern auch dass die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten einen Kostenersatz nahe legen. Die Klägerin hat derartige Umstände, die einen Kostenzuspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, weder geltend gemacht noch ergeben sich dafür Anhaltspunkte aus dem Akt.
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