European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00179.21B.0222.000
Spruch:
Der Rekurs wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei hat die Kosten des Rekurses selbst zu tragen. Die beklagte Partei hat die Kosten der Rekursbeantwortung selbst zu tragen.
Begründung:
[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens aus Anlass der Geburt ihrer Tochter am 5. 7. 2019 für den Zeitraum von 5. 10. 2019 bis 3. 7. 2020. Strittig ist im Verfahren die internationale Zuständigkeit Österreichs zur Gewährung von Kinderbetreuungsgeld.
[2] Die Klägerin, eine deutsche Staatsbürgerin, war ab 3. 1. 2018 bei der B* AG in Österreich beschäftigt. Sie bezog unstrittig von 5. 7. 2019 bis 4. 10. 2019 Wochengeld. Ende September 2019 erhielt der Vater ihrer Tochter, ebenfalls ein deutscher Staatsbürger, einen Arbeitsplatz in Hamburg angeboten. Am 27. 9. 2019 schloss der Vater mit der R* GmbH in Deutschland einen Arbeitsvertrag auf unbestimmte Zeit ab. Das Arbeitsverhältnis sollte am 16. 10. 2019 beginnen. Am 4. 10. 2019 endete unstrittig der Wochengeldanspruch der Klägerin. Am 7. 10. 2019 meldete sich die Klägerin von ihrem Wohnsitz in Österreich unstrittig ab (Beil ./3). Am 16. 10. 2019 informierte die Klägerin die Beklagte darüber, dass sie nach Deutschland ziehen werde und beantragte die Ausgleichszahlung. Am 4. 2. 2020 kündigte die Klägerin das Dienstverhältnis zur B* AG schriftlich zum 5. 7. 2020. Am 12. 10. 2020 nahm die Klägerin eine neue Beschäftigung bei der G* GmbH in Deutschland auf, der sie seither nachgeht. Die Klägerin hatte nicht vor, nach dem Umzug nach Deutschland am 16. 10. 2019 nach Ende der Karenz wieder nach Österreich zurückzukehren und die Erwerbstätigkeit in Österreich wiederaufzunehmen.
[3] Mit Bescheid vom 11. 5. 2020 lehnte die beklagte Österreichische Gesundheitskasse den Antrag der Klägerin vom 17. 7. 2019 auf Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für den Zeitraum von 5. 10. 2019 bis 3. 7. 2020 ab, weil der Klägerin die Rückkehrabsicht in die Erwerbstätigkeit fehle. Der Zeitraum von 5. 10. 2019 bis 31. 10. 2019 erfülle nicht das Erfordernis des „61‑Tage‑Blocks“ im Sinn des § 3 Abs 5 KBGG.
[4] Mit ihrer gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt die Klägerin die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für den Zeitraum von 5. 10. 2019 bis 3. 7. 2020 im gesetzlichen Ausmaß. Sie sei elf Jahre hindurch beruflich in Österreich tätig gewesen, der Aufenthalt in Deutschland sei bloß vorübergehend. Erst Ende April 2020 habe sich herausgestellt, dass die Tätigkeit des Vaters in Deutschland unbefristet möglich sei. Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Karenzierungsvereinbarung sei ein Umzug nach Deutschland überhaupt noch kein Thema gewesen. Die Kündigung des Dienstverhältnisses zu ihrem österreichischen Arbeitgeber habe formale Gründe gehabt. Eine Arbeitstätigkeit in Deutschland habe sie aus Gründen der finanziellen Sicherheit aufnehmen müssen. Nachträgliche Ereignisse könnten aus einer Karenz keine Scheinkarenz machen.
[5] Die Beklagte hielt dem entgegen, dass die Klägerin keine Rückkehrabsicht gehabt und ihre Erwerbstätigkeit in Österreich beendet habe. Die vereinbarte Karenz sei daher eine Scheinkarenz im Sinn des § 24 Abs 3 KBGG gewesen. Seit der hauptwohnsitzlichen Abmeldung am 7. 10. 2019 habe die Klägerin und ihre Familie ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland. Ab 1. 11. 2019 sei Österreich daher international nicht mehr zur Gewährung von Familienleistungen zuständig. Der nach Ende des Wochengeldbezugs verbleibende Zeitraum von 5. 10. 2019 bis 31. 10. 2019 umfasse nicht mindestens 61 Tage im Sinn des § 3 Abs 5 KBGG.
[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Bei der Klägerin habe die Rückkehrabsicht in die Erwerbstätigkeit gefehlt, sodass eine Scheinkarenz gemäß § 24 Abs 3 KBGG vorliege. Der Lebensmittelpunkt der Klägerin und ihrer Familie liege seit 16. 10. 2019 in Deutschland. Die Klägerin habe ihr österreichisches Dienstverhältnis gekündigt und eine Erwerbstätigkeit in Deutschland aufgenommen. Selbst wenn man von einem Rückkehrwillen im Zeitraum von 5. 10. 2019 bis 16. 10. 2019 ausgehen wollte, fehle es an der Voraussetzung einer Mindestbezugsdauer von 61 Tagen gemäß § 3 Abs 5 KBGG.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, hob das Urteil des Erstgerichts auf und verwies die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Der Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO [EG] 883/2004) sei eröffnet. Für die Erbringung von Familienleistungen, die gemäß Art 67 VO (EG) 883/2004 zu exportieren seien, sei jener Mitgliedstaat zuständig, dessen Rechtsvorschriften gemäß den Art 11 ff VO (EG) 883/2004 anwendbar seien. Für eine Zuständigkeit Österreichs als Beschäftigungsstaat gemäß Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 komme es – abgesehen von einem in Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 normierten „Kernbereich“ des unionsrechtlichen Beschäftigungsbegriffs – nach Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 maßgeblich auf das innerstaatliche Recht, hier konkret auf § 24 Abs 2 und 3 KBGG an. Liege eine „Scheinkarenz“ im Sinn des § 24 Abs 3 KBGG vor, fehle es an einer der Gleichstellungsvoraussetzungen für Karenzzeiten im Sinn des § 24 Abs 2 KBGG. Bei einer „Scheinkarenz“ werde die vorübergehende Unterbrechung der Tätigkeit zum Zweck der Kindererziehung nur vorgetäuscht, obwohl in Wirklichkeit von einer Beendigung der Tätigkeit auszugehen sei. Die Beweispflicht für das Vorliegen einer „Scheinkarenz“ treffe die Beklagte. Eine Scheinkarenz setze einen Vorsatz voraus, der schon im Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Karenz gegeben sein müsse. Entscheidend sei, ob die Karenz nur zum Schein von der Klägerin entweder gemäß § 15 MSchG in Anspruch genommen oder vereinbart worden sei. Die Beklagte müsse daher beweisen, dass die Klägerin niemals eine Karenz gegen Entfall des Arbeitsentgelts eingehen habe wollen, weil sie von vornherein geplant gehabt habe, sich nicht um ihr Kind zu kümmern und auch nicht mehr auf ihren Arbeitsplatz zurückzukehren bzw sie die Karenz nur in Anspruch genommen habe, um Kinderbetreuungsgeld zu beziehen. Es fehlten jedoch Feststellungen zur Frage, ob diese Voraussetzungen im Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Karenz gemäß § 15 MSchG oder des Abschlusses einer Karenzierungsvereinbarung vorgelegen seien. Wann die Klägerin eine Karenz gemäß § 15 MSchG in Anspruch genommen oder eine Karenzierungsvereinbarung abgeschlossen habe bzw wann und ob es bereits zu diesem Zeitpunkt an einer Rückkehrabsicht der Klägerin gefehlt habe, stehe nicht fest. Daraus allein, dass es nach ihrem Umzug nach Deutschland am 16. 10. 2019 an einer Rückkehrabsicht in ihre Erwerbstätigkeit in Österreich gefehlt und die Klägerin später ihr österreichisches Dienstverhältnis gekündigt habe, könne noch nicht auf das Vorliegen einer „Scheinkarenz“ geschlossen werden. Die Beschränkung auf eine lediglich in Österreich und nicht in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgeübte Beschäftigung sei unionsrechtswidrig, sodass die Abweisung der Klage auch nicht mit dem Verweis auf die Aufnahme einer Beschäftigung durch die Klägerin in Deutschland begründet werden könne.
[8] Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, auf welchen Zeitpunkt bei Prüfung des Vorliegens einer „Scheinkarenz“ im Sinn des § 24 Abs 3 KBGG abzustellen sei.
[9] Gegen diesen Beschluss richtet sich der von der Beklagten beantwortete Rekurs der Klägerin, mit dem sie die Stattgebung der Klage anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
[10] Gegen einen Aufhebungsbeschluss im Berufungsverfahren kann auch diejenige Partei Rekurs erheben, die selbst die Aufhebung erwirkt hat. In diesem Fall genügt eine materielle Beschwer durch die Begründung der Entscheidung, weil das Erstgericht im zweiten Rechtsgang an die Rechtsansicht des Berufungsgerichts und an die auf dieser Basis erteilten Aufträge gebunden ist (RS0007094 [T5]). Die materielle Beschwer ist grundsätzlich dann zu bejahen, wenn der Rechtsmittelwerber in seinem Rechtsschutzbegehren durch die angefochtene Entscheidung beeinträchtigt wird, also ein Bedürfnis auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen Entscheidung hat (vgl RS0041746 mwN). Die materielle Beschwer der Rechtsmittelwerberin ist hier entgegen den Ausführungen in der Rekursbeantwortung zu bejahen, weil sich im fortgesetzten Verfahren ausgehend vom Rechtsstandpunkt des Berufungsgerichts durchaus das Vorliegen einer „Scheinkarenz“ im Sinn des § 24 Abs 3 KBGG ergeben kann.
[11] Der Rekurs ist jedoch mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.
[12] 1. Den Begriff der „Scheinkarenz“ definiert der Gesetzgeber in § 24 Abs 3 KBGG nicht. Bei einer „Scheinkarenz“ wird nach der Rechtsprechung die vorübergehende Unterbrechung der Tätigkeit zum Zweck der Kindererziehung nur vorgetäuscht, obwohl realiter von einer Beendigung der Tätigkeit auszugehen ist (10 ObS 130/18t SSV‑NF 33/4; jüngst 10 ObS 60/21b). Das Berufungsgericht hat diese Rechtsprechung in seinem Aufhebungsbeschluss beachtet.
[13] 2. Ob eine Täuschung in diesem Sinn vorliegt, kann immer nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden (10 ObS 60/21b; siehe auch RS0014790 [T4]), sodass darin regelmäßig keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung zu sehen ist. Eine solche zeigt auch die Rekurswerberin nicht auf:
[14] 2.1 Die Rekurswerberin führt aus, dass verallgemeinerungsfähige Fallkonstellationen auf dem rechtlichen Prüfstand stünden, bei denen eine Dienstnehmerin zwar zum Zeitpunkt einer Karenzierungsvereinbarung mit ihrem Dienstgeber noch fest zu einer künftigen Wiederaufnahme der Beschäftigung nach der noch bevorstehenden kindererziehungsbedingten Unterbrechung des Dienstverhältnisses entschlossen sei, zu einem Zeitpunkt danach aber wegen geänderter Umstände doch alles anders komme. Im vorliegenden Fall steht aber fest, dass die Klägerin mit dem Wegzug aus Österreich keine Rückkehrabsicht in die Erwerbstätigkeit hatte. Feststellungen, ob oder welche Absichten die Klägerin im Zeitpunkt der Inanspruchnahme einer Karenz nach § 15 MSchG oder im Zeitpunkt des Abschlusses einer Karenzierungsvereinbarung hatte, fehlen jedoch. Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts, dass es auf die Täuschungsabsicht im Zeitpunkt des Abschlusses der Karenzvereinbarung oder die Ausübung des Gestaltungsrechts der Inanspruchnahme einer Karenz ankommt, stellt die Klägerin in ihrem Rekurs nicht in Frage.
[15] 2.2 Die Rekurswerberin macht geltend, dass sich die Rückkehrabsicht in die Erwerbstätigkeit schon daraus ergebe, dass sie ihre Erwerbstätigkeit tatsächlich durch eine unselbständige Beschäftigung in Deutschland wieder aufgenommen habe. Dies trifft schon deshalb nicht zu, weil die Klägerin ihre Erwerbstätigkeit in Österreich nicht unterbrochen, sondern durch Kündigung beendet hat, sodass sie eine Arbeitstätigkeit in Deutschland nicht „wieder“, sondern neu aufgenommen hat. Die vom Berufungsgericht zitierte Rechtsprechung, wonach die Beschränkung auf eine lediglich in Österreich (und nicht in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union) ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit unionsrechtlich unzulässig sei (10 ObS 148/14h SSV‑NF 29/59; RS0130428), bezieht sich auf die Tatbestandsvoraussetzung des § 24 Abs 1 Z 2 KBGG und ist eine Folge der von Art 5 VO (EG) 883/2004 angeordneten Tatbestandsgleichstellung. Die Tatbestandsgleichstellung nach dieser Bestimmung kann jedoch immer erst erfolgen, wenn zuvor die Zuständigkeit Österreichs nach den Art 11 ff VO (EG) 883/2004 feststeht (zB 10 ObS 34/20b SSV‑NF 34/43). Gegenstand dieses Verfahrens ist aber genau die Frage, ob die internationale Zuständigkeit Österreichs zur Gewährung von Familienleistungen an die Klägerin gegeben ist. Dass die Kündigung ihres Dienstverhältnisses in Österreich allein nicht den Rückschluss zulässt, dass es der Klägerin bereits im Zeitpunkt der Inanspruchnahme einer Karenz nach § 15 MSchG bzw des Abschlusses einer Karenzierungsvereinbarung an einem Rückkehrwillen gefehlt hätte, hat das Berufungsgericht ohnehin ausgeführt.
[16] 2.3 Ein „Anerkenntnis“ der Beklagten infolge der „Mitteilung über den Leistungsanspruch vom 20. 8. 2019“ (Beil ./F) hat die Klägerin im Verfahren erster Instanz nicht behauptet, sodass auf diese Neuerung nicht einzugehen ist (§ 482 ZPO; RS0042049).
[17] 2.4 Ist die dem Aufhebungsbeschluss zugrunde liegende Rechtsansicht nicht zu beanstanden oder wird sie vom Rekurswerber nicht bekämpft, so kann der Oberste Gerichtshof nicht überprüfen, ob sich die vom Berufungsgericht angeordnete Ergänzung des Verfahrens oder der Feststellungen tatsächlich als notwendig erweist (RS0042179; A. Kodek in Rechberger 5 § 519 ZPO Rz 26).
[18] Die Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens beruht auf den § 77 ASGG, §§ 41, 50 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit des Rekurses hingewiesen.
[19] Die Beklagte hat als (Sozial‑)Versicherungsträger die Kosten des Verfahrens gemäß § 77 Abs 1 Z 1 ASGG unabhängig von dessen Ausgang selbst zu tragen.
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