B-VG Art133 Abs4
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:W191.2144305.2.00
Spruch:
W191 2144305-2/3EIM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Mag. Katharina Resch-Meusburger, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.12.2021, Zahl 1102262301-211537282, zu Recht:
A)
Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 15.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
1.2. Der Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) vom 22.12.2016 abgewiesen und eine Rückkehrentscheidung erlassen.
1.3. Dagegen erhob der BF Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG), der mit Erkenntnis vom 20.11.2019, W258 2144305-1, hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten stattgegeben wurde. Der dem BF zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde zuletzt mit Bescheid des BFA vom 06.11.2020 bis 20.11.2022 verlängert.
1.4. Am 13.10.2021 stellte der BF einen Folgeantrag auf internationalen Schutz.
1.5. In seiner Erstbefragung am 16.10.2021 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, gab der BF im Wesentlichen an, dass er aus Herat stamme, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem sei.
Danach befragt, warum er einen neuerlichen Asylantrag stelle, gab der BF an, dass die Taliban nunmehr ganz Afghanistan eingenommen hätten. Sie würden anderen Menschen unter Zwang ihre Grundstücke wegnehmen und Hazara sowie Schiiten töten. Zudem sei er in Österreich in medizinischer Behandlung. Er habe Probleme mit seiner Leber und ein psychisches Leiden.
1.6. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 06.12.2021, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigte der BF im Wesentlichen die Richtigkeit seiner bisherigen Angaben.
Seine Familie lebe im Iran und werde von seinem erwerbstätigen Sohn, der ebenfalls im Iran lebe, versorgt.
Das letzte Mal sei er vor 14 oder 15 Jahren in Afghanistan gewesen. Seit dem letzten Erkenntnis des BVwG habe sich nichts verändert. Bei einer Rückkehr habe er Angst vor den Taliban. Er werde als Angehöriger der Hazara verfolgt. Zudem seien auch seine Grundstücke beschlagnahmt worden.
Der BF legte medizinische Belege sowie Integrationsunterlagen vor.
1.7. Mit Schreiben seiner Vertreterin vom 15.12.2021 legte der BF eine Stellungnahme vor und führte aus, dass sich die allgemeine Lage in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban extrem verschlechtert habe.
1.8. Mit Bescheid vom 21.12.2021 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 13.10.2021 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage im Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht. Der Status der subsidiär Schutzberechtigten sei ihm bereits mit Erkenntnis des BVwG zuerkannt und vom BFA auf Antrag bis 20.11.2022 verlängert worden.
Der BF habe eine persönliche Verfolgung oder Bedrohung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ausdrücklich verneint. Das Vorbringen des BF – er habe bei einer Rückkehr Angst vor den Taliban – enthalte keine asylrelevanten Merkmale.
1.9. Gegen diesen Bescheid erhob der BF mit Schreiben seiner Vertreterin vom 20.01.2022 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides beim BVwG.
Vorgebracht wurde, dass sich die belangte Behörde mit dem Vorbringen des BF, er werde aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara verfolgt, nicht ausreichend auseinandergesetzt habe.
Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 16.10.2021 und der Einvernahme vor dem BFA am 06.12.2021, die vom BF vorgelegten Belege zu seiner Integration in Österreich und seiner Gesundheit, den angefochtenen Bescheid sowie die gegenständliche Beschwerde
Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA, Aktenseiten 84 bis 158)
Einsicht in notorische Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte betreffend Afghanistan (Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan, Stand 28.01.2022)
o UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Moslem und verheiratet. Die Muttersprache des BF ist Dari.
Der BF wurde in der Provinz Herat geboren und hat Afghanistan vor ca. 14 Jahren verlassen. Seine Frau und seine Kinder leben nach wie vor im Iran und werden von einem erwerbstätigen Sohn des BF, der ebenfalls im Iran im gemeinsamen Haushalt lebt, versorgt. Die anderen Söhne des BF leben als subsidiär Schutzberechtigte in Österreich.
3.1.2. Der BF leidet an einer depressiven Anpassungsstörung, Gonalgie (Knieschmerzen), einem Cervicalsyndrom (Schmerzen der Halswirbelsäule), Hepatitis, Echinococcose der Leber (Zystenbildung) und Diabetes mellitus Typ 2. Er nimmt regelmäßig Medikamente ein.
3.1.3. Dem BF wurde mit mündlich verkündetem Erkenntnis des BVwG vom 20.11.2019, W258 2144305-1, der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG zuerkannt. Dieser wurde zuletzt mit Bescheid des BFA vom 06.11.2020 bis 20.11.2022 verlängert.
3.2. Zum Fluchtgrund des BF:
Der BF hat mit seinem Vorbringen, wonach ihm als Angehörigen der Volksgruppe der Hazara und schiitischen Moslem Verfolgung drohe, eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht, wenngleich ihm im Falle einer Rückkehr eine existentielle Notlage im Sinne der Art. 2 und 3 EMRK droht und ihm daher der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist.
3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
3.3.1. Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Stand 28.01.2022, Schreibfehler teilweise korrigiert):
„[…] COVID-19
Letzte Änderung: 13.01.2022
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation, bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://covi d19.who.int/region/emro/country/af oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.m aps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Entwicklung der COVID-19-Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19-Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl. UNOCHA 19.12.2020).
Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs in dem Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (USAID 11.06.2021).
Die Lücken in der COVID-19-Testung und Überwachung bleiben bestehen, da es an Laborreagenzien für die Tests mangelt und die Dienste aufgrund der jüngsten Unsicherheit möglicherweise nur wenig in Anspruch genommen werden. Der Mangel an Testmaterial in den öffentlichen Labors kann erst behoben werden, wenn die Lieferung von 50.000 Testkits von der WHO im Land eintrifft (WHO 28.08.2021). Mit Stand 01.12.2021 wurden 157.289 COVID-19-Fälle offiziell bestätigt (WHO 01.12.2021). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 13.01.2021; vgl. UNOCHA 18.02.2021, RFE/RL 23.02.2021a).
Es gibt aktuelle Befürchtungen, dass es im Zuge des Winters zu einer weiteren Ausbreitung von COVID-19 kommen wird (TN 17.11.2021) und Beamte warnen vor einer möglichen 4. Welle von COVID-19 in Afghanistan (AVA 27.10.2021; vgl. AN 26.10.2021).
Maßnahmen der ehemaligen Regierung und der Taliban
Das vormalige afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hatte verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchten Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ waren in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.03.2021; vgl. WB 28.06.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.03.2021; vgl. IDW 17.06.2021).
Die Taliban erlaubten den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. TG 02.05.2020) und gaben im Januar 2021 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Mio. USD unterstützt wird (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021).
Mit Stand 01.12.2021 wurden insgesamt 4.396.007 Impfdosen verabreicht (WHO 01.12.2021). Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 03.06.2021).
Mit Stand November 2021 gibt es in Afghanistan keine Restriktionen im Hinblick auf COVID-19 (RA KBL 08.11.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, Sauerstoff, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 11.06.2021; vgl. UNOCHA 03.06.2021, HRW 13.01.2021). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 08.02.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 03.06.2021; vgl. TG 25.05.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.03.2021; vgl. UNOCHA 03.06.2021, USAID 11.06.2021). Nach Angaben der Gesundheitsbehörden wurden 34 Krankenhäuser und Zentren, in denen COVID-19-Patienten behandelt wurden, geschlossen, nachdem die internationale Hilfe in Afghanistan eingestellt worden war. Die Mitarbeiter des Afghan-Japan-Hospital gingen mit 17.11.2021 in einen Streik, da diese seit Monaten nicht bezahlt wurden (TN 17.11.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM befragten Rückkehrer, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die durch die Folgen der COVID-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaftslage steht in Folge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps (AA 21.10.2021). COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 11.06.2021; vgl. UNOCHA 03.06.2021).
Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.03.2021).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Frauen, Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die ehemalige Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.09.2020; vgl. ACCORD 25.05.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.05.2021).
Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November 2020 die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.04.2021; vgl. ACCORD 25.05.2021), wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.04.2021; vgl. ACCORD 25.05.2021, UNICEF 04.05.2021). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.03.2021). Ende Mai 2021 wurden die Schulen erneut geschlossen (BAMF 31.05.2021) und begannen mit Ende Juli langsam wieder zu öffnen (AAN 25.07.2021).
Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (AA 15.07.2021; vgl. ACCORD 25.05.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.05.2021; vgl. AI 3.2021). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.01.2021, AAN 1.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren, und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021). […]
Politische Lage
Letzte Änderung: 14.01.2022
2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.01.2021). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020, EASO 8.2020a) - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a).
Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen (WH 14.04.2021; vgl. RFE/RL 19.05.2021) - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO- Truppen - bis zum 11.09.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.05.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“ (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 01.05.2021). Am 31.08.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab (DP 31.08.2021).
Nachdem der vormalige Präsident Ashraf Ghani am 15.08.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.08.2021; vgl. JS 07.09.2021). Als letzte Provinz steht seit dem 05.09.2021 auch die Provinz Panjshir und damit, trotz vereinzelten bewaffneten Widerstands, ganz Afghanistan weitgehend unter der Kontrolle der Taliban (AA 21.10.2021).
Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab (AJ 24.08.2021; vgl. AJ 23.08.2021). Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen (AJ 24.08.2021).
Ende Oktober 2021, nach drei Ernennungsrunden auf höchster Ebene - am 07.09., 21.09. und 04.10. - scheinen die meisten Schlüsselpositionen besetzt worden zu sein, zumindest in Kabul. Das Kabinett selbst umfasst über 30 Ministerien, ein Erbe der Vorgängerregierung (AAN 07.10.2021). Entgegen früheren Erklärungen handelt es sich nicht um eine „inklusive“ Regierung mit Beteiligung verschiedener Akteure, sondern um eine reine TalibanRegierung. Ihr gehören Mitglieder der alten Taliban-Elite an, die bereits in den 1990er Jahren zentrale Rollen innehatten, ergänzt durch Taliban-Führer, die zu jung waren, um im ersten Emirat zu regieren. Die große Mehrheit sind Paschtunen. Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der so genannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 07.09.2021; vgl. BBC 08.09.2021a, AA 21.10.2021). […]
Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen (ORF 07.09.2021; vgl. BBC 08.09.2021a). Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (RFE/RL 06.08.2021) der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada (FR 18.08.2021) wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 08.09.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 07.09.2021).
Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (AZ 17.08.2021; vgl. ICG 24.08.2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (ICG 24.08.2021). Die Übernahme der faktischen Regierungsverantwortung inklusive der Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung stellt die Taliban vor Herausforderungen, auf die sie kaum vorbereitet sind. Leere öffentliche Kassen und die Sperrung des afghanischen Staatsguthabens im Ausland, sowie internationale und US-Sanktionen gegen Mitglieder der Übergangsregierung, haben zu Schwierigkeiten bei der Geldversorgung, steigenden Preisen und Verknappung essenzieller Güter geführt (AA 21.10.2021).
Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% (ICG 24.08.2021) bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt (BBC 08.09.2021a), Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten (ICG 24.08.2021). So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Mrd. USD an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt (CH 24.08.2021). Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (ICG 24.08.2021).
Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt, und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen (BBC 08.09.2021b). Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen (BZ 08.09.2021). China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offengehalten (NYT 01.09.2021).
Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen (BBC 08.09.2021b). Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 08.09.2021).
Mit Oktober 2021 hat sich unter den Taliban bislang noch kein umfassendes Staatswesen herausgebildet. Der Status der bisherigen Verfassung und Gesetze der Vorgängerregierung ist, trotz politischer Ankündigung einzelner Taliban, auf die Verfassung von 1964 zurückgreifen zu wollen, unklar, das Regierungshandeln uneinheitlich. Hinzu kommen die teilweise beschränkten Durchgriffsmöglichkeiten der Talibanführung auf ihre Vertreter auf Provinz- und Distriktebene. Repressives Verhalten von Taliban der Bevölkerung gegenüber hängt deswegen stark von individuellen und lokalen Umständen ab (AA 21.10.2021).
Anfang November 2021 kündigte die Taliban-Regierung an, dass u.a. in 17 Provinzen neue Gouverneure eingesetzt worden seien (TN 08.11.2021). Insgesamt sind bis zu 44 Posten neu besetzt worden (REU 07.11.2021; vgl. TN 08.11.2021).
Exilpolitische Aktivitäten
Am 28.09.2021 kündigten Angehörige der früheren afghanischen Regierung mit einem in der Schweiz veröffentlichten Statement der dortigen afghanischen Botschaft die Gründung einer Exilregierung unter Vizepräsident Saleh an (AA 21.10.2021; vgl. ANI 29.09.2021). Eine Reihe von afghanischen Auslandsvertretungen in Drittstaaten hatte zuvor die Übergangsregierung der Taliban verurteilt und auf den Fortbestand der afghanischen Verfassung von 2004 verwiesen. Weitere ehemalige Regierungsmitglieder bzw. politische Akteure der ehemaligen Republik sind in unterschiedlichen Gruppierungen aus dem Ausland aktiv (AA 21.10.2021).
Die Taliban haben bisher allen ehemaligen Regierungsvertretern Amnestie zugesagt, soweit sie den Widerstand gegen sie aufgeben und ihre Autorität anerkennen (AA 21.10.2021; vgl. France 24 17.08.2021). Zur Umsetzung dieser Zusicherung im Falle der Rückkehr prominenter Vertreter der Republik ist bisher nichts bekannt (AA 21.10.2021). […]
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 19.01.2022
Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.05.2021; vgl. SIGAR 30.04.2021, BAMF 31.05.2021, UNGASC 02.09.2021), aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil (UNGASC 17.03.2020; vgl. USDOS 30.03.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 01.07.2021; vgl. AJ 02.07.2021). Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 06.08.2021 in „halsbrecherischer Geschwindigkeit“ (AAN 15.08.2021), innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte (UNGASC 02.09.2021). Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog (BBC 13.08.2021). Am 15.08.2021 floh Präsident Ashraf GhANI ins Ausland, und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein (ORF 16.08.2021; vgl. TAG 15.08.2021). Zuvor war schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif (TAG 15.08.2021; vgl. BBC 15.08.2021). Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück (ICG 14.08.2021; vgl. BBC 13.08.2021, AAN 15.08.2021). Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird (ICG 14.08.2021), auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (BBC 13.08.2021).
Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.08.2021 hat sich die allgemeine Sicherheitslage im Lande verändert. Nach Angaben der UN sind konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) seit der Eroberung des Landes durch die Taliban deutlich zurückgegangen (UNGASC 02.09.2021). Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften hat sich auch die Zahl der zivilen Opfer erheblich verringert (PAJ 15.08.2021; vgl. PAJ 21.08.2021, DIS 12.2021). Insbesondere die ländlichen Gebiete sind sicherer geworden, und die Menschen können in Gegenden reisen, die in den letzten 15-20 Jahren als zu gefährlich oder unzugänglich galten, da sich die Sicherheit auf den Straßen durch den Rückgang der IEDs verbessert hat (NYT 15.09.2021; vgl. DIS 12.2021)
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.08.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anmerkung: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 06.09.2021; vgl. ANI 06.09.2021). Sowohl die Taliban als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen (TN 30.08.2021; vgl. WZ 22.08.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.08.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen, und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 06.09.2021; vgl. ANI 06.09.2021), während die NRF am 06.09.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 06.09.2021). Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten der NRF in den Provinzen Parwan, Baghlan (IP 13.11.2021; vgl. NR 15.10.2021) und Samangan berichtet (IP 01.12.2021). Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der „National Resistance Front“ und anderen militanter Bewegungen in Afghanistan verhindern soll (IP 13.11.2021).
Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak (AAN 01.09.2021; vgl. AWM 22.08.2021, ALM 15.08.2021) und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen (AAN 01.09.2021).
Nachdem sich die Nachricht verbreitete, dass Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte, machten sich viele Menschen auf den Weg zum Flughafen, um aus dem Land zu fliehen (NLM 26.08.2021; BBC 08.09.2021c, UNGASC 02.09.2021). Im Zuge der Evakuierungsmissionen von Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan (ORF 18.08.2021) kam es in der Menschenmenge zu Todesopfern, nachdem tausende Menschen aus Angst vor den Taliban zum Flughafen gekommen waren (TN 16.08.2021). Unter anderem fand auch eine Schießerei mit einem Todesopfer statt (PAJ 23.08.2021).
Trotz des allgemeinen Rückgangs der Zahl der gewalttätigen Angriffe und sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Übernahme durch die Taliban hat die Zahl der Anschläge des ISKP Berichten zufolge zugenommen, insbesondere in den östlichen Provinzen Nangharhar und Kunar sowie in Kabul (DIS 12.2021; vgl. AA 21.10.2021). Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghaninnen und Afghanen schiitischer Glaubensrichtung. Am 26.08.2021 wurden durch einen Anschlag des ISKP am Flughafen Kabul 170 Personen getötet und zahlreiche weitere verletzt (AA 21.10.2021; vgl. MEE 27.08.2021, AAN 01.09.2021). Die USA führten als Vergeltungsschläge daraufhin zwei Drohnenangriffe in Jalalabad und Kabul durch, wobei nach US-Angaben ein Drahtzieher des ISKP sowie ein Auto mit zukünftigen Selbstmordattentätern getroffen wurden (AAN 01.09.2021; vgl. BBC 30.08.2021) sowie zehn Zivilisten getötet wurden (AAN 01.09.2021; vgl. NZZ 12.09.2021; BBC 30.08.2021). Am 08. und 15.10.2021 kamen in Kunduz und Kandahar jeweils bei Selbstmordanschlägen zum Zeitpunkt des Freitagsgebets mehr als 100 Menschen ums Leben, zahlreiche weitere wurden verletzt (AA 01.09.2021). Ein weiterer Anschlag am 03.10.2021 in Kabul zielte auf eine Trauerfeier, an der hochrangige Taliban teilnahmen, und tötete mindestens fünf Personen (AA 21.10.2021; vgl. AnA 04.10.2021). Darüber hinaus verübt der ISKP gezielt Anschläge auf Sicherheitskräfte der Taliban, beispielsweise am 19.09.2021 in Nangarhar, bei denen auch Zivilisten zu Schaden kommen (AA 21.10.2021).
Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es einen Anstieg bei Straßenkriminalität und Entführungen. Lokale Medien berichten von mehr als 40 Entführungen von Geschäftsleuten in den zwei Monaten nach der Übernahme der Kontrolle durch die Taliban. Anderen Quellen zufolge ist die Zahl weitaus höher, doch da es keine funktionierende Bürokratie gibt, liegen nur spärliche offizielle Statistiken vor. Der Großteil der Entführungen fand in den Provinzen Kabul, Kandahar, Nangarhar, Kunduz, Herat und Balkh statt (FP 29.10.2021; vgl. TN 28.10.2021).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3% der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken im Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. Im Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7% bzw. 70,7% der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z.B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 12.01.2022).
Verfolgung von Zivilisten und ehemaligen Mitgliedern der Streitkräfte
Bereits vor der Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (BBC 13.08.2021; vgl. AN 04.10.2020). Die Taliban kündigten nach ihrer Machtübernahme an, dass sie keine Vergeltung an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung der Menschenrechte üben werden (FP 23.08.2021; vgl. BBC 31.08.2021, UNGASC 02.09.2021). Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse (AA 21.10.2021). Obwohl die Taliban eine „Generalamnestie“ für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben (AI 9.2021). Es gibt auch glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern, die von der Durchsetzung strenger sozialer Einschränkungen bis hin zu Verhaftungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren und Entführungen junger, unverheirateter Frauen reichen. Einige dieser Taten scheinen auf lokale Streitigkeiten zurückzuführen oder durch Rache motiviert zu sein; andere scheinen je nach den lokalen Befehlshabern und ihren Beziehungen zu den Führern der Gemeinschaft zu variieren. Es ist nicht klar, ob die Taliban-Führung ihre eigenen Mitglieder für Verbrechen und Übergriffe zur Rechenschaft ziehen wird (ICG 14.08.2021). Auch wird berichtet, dass es eine neue Strategie der Taliban sei, die Beteiligung an gezielten Tötungen zu leugnen, während sie ihren Kämpfern im Geheimen derartige Tötungen befehlen (GN 10.09.2021). Einem Bericht zufolge kann derzeit jeder, der eine Waffe und traditionelle Kleidung trägt, behaupten, ein Talib zu sein, und Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durchführen (AAN 01.09.2021; vgl. BAMF 06.09.2021). Die Taliban-Kämpfer auf der Straße kontrollieren die Bevölkerung nach eigenen Regeln und entscheiden selbst, was unangemessenes Verhalten, Frisur oder Kleidung ist (BAMF 06.09.2021; vgl. NLM 26.08.2021). Frühere Angehörige der Sicherheitskräfte berichten, dass sie sich weniger vor der Taliban-Führung als vor den einfachen Kämpfern fürchten würden (AAN 01.09.2021; vgl. BAMF 06.09.2021).
Es wurde von Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte (ORF 24.08.2021; vgl. FP 23.08.2021, BBC 31.08.2021, GN 10.09.2021, Times 12.09.2021, ICG 14.08.2021) und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren, berichtet (FP 23.08.2021). In der Provinz Ghazni soll es zur gezielten Tötung von neun Hazara-Männern gekommen sein (AI 19.08.2021). Während die Nachrichten aus weiten Teilen des Landes aufgrund der Schließung von Medienzweigstellen und der Einschüchterung von Journalisten durch die Taliban spärlich sind, gibt es Berichte über die Verfolgung von Journalisten (RTE 28.08.2021; vgl. FP 23.08.2021) und die Entführung einer Menschenrechtsanwältin (FP 23.08.2021). Die Taliban haben in den Tagen nach ihrer Machtübernahme systematisch in den von ihnen neu eroberten Gebieten Häftlinge aus den Gefängnissen entlassen (UNGASC 02.09.2021). Eine Richterin (REU 03.09.2021) wie auch eine Polizistin (GN 10.09.2021) gaben an, von ehemaligen Häftlingen verfolgt (REU 03.09.2021) bzw. von diesen identifiziert und daraufhin von den Taliban verfolgt worden zu sein (GN 10.09.2021). Weiters wird berichtet, dass die Taliban die Familienangehörigen der Geflüchteten bedrohen, unter anderem mit dem Tod, oder Lösegeld fordern, falls die Geflüchteten nicht zurückkehren (AI 9.2021; vgl. BBC 31.08.2021).
Zivile Opfer vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Zwischen dem 01.01.2021 und dem 30.06.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 5.183 zivile Opfer (1.659 Tote und 3.524 Verletzte). In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres dokumentierte UNAMA fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte (UNAMA 26.07.2021). Im gesamten Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das war ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.01.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).
Obwohl ein Rückgang von durch regierungsfeindlichen Elementen verletzte Zivilisten im Jahr 2020 festgestellt werden konnte, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, so gab es einen Anstieg an zivilen Opfern durch gezielte Tötungen, durch Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (VBIEDs) (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 06.05.2021b).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.01.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.03.2021). Auch im Jahr 2021 kommt es weiterhin zu Angriffen und gezielten Tötungen von Zivilisten. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (AP 15.06.2021; vgl. VOA 15.06.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.06.2021; vgl. AJ 16.6.2021).
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.01.2021). [...]
High Profile Attacks (HPAs) vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Vor der Übernahme der Großstädte durch die Taliban kam es landesweit zu aufsehenerregenden Anschlägen (sog. High Profile-Angriffe, HPAs) durch regierungsfeindliche Elemente. Zwischen dem 16.05. und dem 31.07.2021 wurden 18 Selbstmordanschläge dokumentiert, verglichen mit elf im vorangegangenen Zeitraum, darunter 16 Selbstmordattentate mit improvisierten Sprengsätzen in Fahrzeugen (UNGASC 02.09.2021), die in erster Linie auf Stellungen der afghanischen Streitkräfte (ANDSF) erfolgten (UNGASC 02.09.2021; vgl. USDOD 12.2020). Darüber hinaus gab es 68 Angriffe mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen (IEDs), darunter 14 in Kabul (UNGASC 02.09.2021).
Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten „green-on-blue-attack“: Der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesemAngriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.03.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020). Seit Februar 2020 hatten die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermieden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 01.07.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.03.2020).
Angriffe, die vom Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) beansprucht oder ihm zugeschrieben werden, haben zugenommen. Zwischen dem 16.05. und dem 18.08.2021 verzeichneten die Vereinten Nationen 88 Angriffe, verglichen mit 15 im gleichen Zeitraum des Jahres 2020. Die Bewegung zielte mit asymmetrischen Taktiken auf Zivilisten in städtischen Gebieten ab (UNGASC 02.09.2021).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.03.2020; vgl. BBC 25.03.2020, USDOD 01.07.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.05.2020, USDOD 01.7.2020). Auch 2021 kam es zu einer Reihe von Anschlägen mit improvisierten Sprengsätzen gegen religiöse Minderheiten, darunter eine Hazara-Versammlung in der Stadt Kunduz am 13.05.2021 und eine Sufi-Moschee in Kabul am 14.05.2021 sowie mehrere Personenkraftwagen, die entweder schiitische Hazara beförderten oder zwischen dem 01. und 12.06.2021 durch überwiegend von schiitischen Hazara bewohnte Gebiete in der Provinz Parwan und Kabul fuhren (UNGASC 02.09.2021). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.01.2021). [...]
Verfolgungungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten
Letzte Änderung: 19.01.2022
Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräften abzusehen, solange diese sich ihnen nicht widersetzten und die Autorität der Taliban akzeptieren (AA 21.10.2021), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.08.2021; vgl. DW 20.08.2021). Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (FP 23.08.2021).
Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (GO 20.08.2021, BBC 06.09.2021). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und Linkedln derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.08.2021). Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen (INS 17.08.2021) bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden (ROW 20.08.2021). Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (BBC 06.09.2021; vgl. ROW 20.08.2021, SKN 27.08.2021).
Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus (GO 20.08.2021, BBC 06.09.2021). Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, die sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (GO 20.08.2021, vgl. MMM 20.08.2021).
Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anmerkung: sog. HIIDE („Handheld Interagency Identity Detection Equipment“)-Geräte] (TIN 18.08.2021; vgl. HO 08.09.2021, SKN 27.08.2021). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenminsteriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80% der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Mio. Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Mio. Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (HO 08.09.2021; vgl. SKN 27.08.2021). Berichten zufolge verwenden die Taliban auch Listen ehemaliger Beamter (HRW 30.11.2021; vgl. FP 29.10.2021) und ziviler Aktivisten, um deren Kinder ausfindig zu machen (FP 29.10.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E-Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine „wahre Fundgrube an Informationen“ für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien „wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber“ (TT 04.09.2021).
Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (SKN 27.08.2021).
Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen rund um Ausländer und afghanische Ortskräfte nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anmerkung: US-amerikanische Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren - eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine „Todesliste“ gesetzt (POL 26.08.2021), wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (NYP 26.08.2021).
Einem Bericht des Human Rights Watch nach führen Taliban auch Durchsuchungsaktionen durch, einschließlich nächtlicher Razzien, um verdächtige ehemalige Beamte festzunehmen und zuweilen gewaltsam verschwinden zu lassen. Bei den Durchsuchungen bedrohen und misshandeln die Taliban häufig Familienmitglieder, um sie dazu zu bringen, den Aufenthaltsort der Untergetauchten preiszugeben. Einige der schließlich aufgegriffenen Personen wurden hingerichtet oder in Gewahrsam genommen, ohne dass ihre Inhaftierung bestätigt oder ihr Aufenthaltsort bekannt gegeben wurde (HRW 30.11.2021). [...]
Zentrale Akteure
Letzte Änderung: 17.01.2022
Die Geschichte Afghanistans ist seit Langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem [Zentral-] Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfern, die in den 1990er-Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. „re-hatting“: wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen (AAN 01.07.2020). Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001-15.08.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich von der Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (AAN 04.06.2021; vgl. AP 25.06.2021).
Mitte August 2021 formierte sich die National Resistance Front (NRF), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anmerkung: NDS, afghanischer Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird (LWJ 06.09.2021; vgl. ANI 06.09.2021).
In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüberstanden - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan (USDOD 12.2020), sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (CRS 17.08.2021).
Im ersten Halbjahr 2021 waren - damals noch als „regierungsfeindliche Elemente“ bezeichnete - Gruppierungen wie die Taliban, ISKP und nicht näher definierte Elemente insgesamt für 64% der zivilen Opfer verantwortlich. 39% aller zivilen Opfer entfielen davon auf die Taliban, 9% auf den ISKP und 16% auf nicht näher definierte regierungsfeindliche Elemente. Vor der Machtübernahme der Taliban als „regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen“ bezeichnete Akteure waren im selben Zeitraum für 2% der von UNAMA erfassten zivilen Opfer verantwortlich. Auf Handlungen der [damals] regulären Streitkräfte der Afghan National Security and Defense Forces (ANDSF) wurden dagegen 23% der zivilen Opfer zurückgeführt (UNAMA 26.07.2021). [...]
[Anmerkung: Die Auswirkungen der Machtübernahme der Taliban auf die Konfliktdynamik und politische LandschaftAfghanistans sind mit November 2021 noch nicht abschließend ersichtlich.] [...]
Taliban
Letzte Änderung: 17.01.2022
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha (NYT 26.05.2020), im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben (NYT 29.02.2020), wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen (DP 31.08.2021). Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.08.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (TAG 15.08.2021). Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte (DW 31.08.2021). Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früheren Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (NZZ 07.09.2021).
Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.04.2020). Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (FA 23.08.2021). [...]
Struktur und Führung
Letzte Änderung: 17.01.2022
Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.04.2021). Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020), die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.04.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 04.07.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 06.12.2018).
Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an (NZZ 17.08.2021). Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001 (IT 16.08.2021).
Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hatte (UNSC 01.06.2021), sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (RFE/RL 06.08.2021).
Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als „Ministerien“ fungierten (IT 16.8.2021). Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (RFE/RL 06.08.2021).
Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada (RFE/RL 06.08.2021). Er ist seit 2016 der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“, ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde (FR 18.08.2021). Die neue Regierung wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied der Rahbari-Schura (Quetta-Schura) (NZZ 07.09.2021; vgl. BBC 08.09.2021a, AA 21.10.2021). Mullah Abdul Ghani Baradar, der vormalige Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha (RFE/RL 06.08.2021), wurde gemeinsam mit Mawlawi Abdul Salam Hanafi zu stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt. Als Innenminister wurde Mawlawi Sirajuddin Haqqani ernannt, der Führer des Haqqani-Netzwerkes, der in den USA immer noch auf der „Gesucht“ Liste des FBI aufscheint. Als Verteidigungsminister wurde Mawlawi Mohammad Yaqoob Mujahid ernannt und als Außenminister Mawlawi Amir Khan Muttaqi (BBC 07.09.2021). Haibatullah Akhunzada wird sich als „Oberster Führer“ auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (NZZ 08.09.2021; vgl. TN 03.09.2021). In Kandahar hatte er im Oktober 2021 seinen ersten öffentlichen Auftritt (France 24 31.10.2021; vgl. VOA 31.10.2021).
Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban (UNSC 01.06.2021).
Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet (HAT 05.09.2021; BAMF 06.09.2021), was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (DS 06.09.2021). Haibatullah Akhunzada warnte im November die Taliban, dass es in ihren Reihen Einheiten geben könnte, die „gegen den Willen der Regierung arbeiten“ (AJ 04.11.2021; vgl. TG 04.11.2021).
Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation (TWN 20.04.2020). Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40-45% der Truppen der Talibanführung. Rund 35% werden von Sirajuddin Haqqani angeführt, weitere ca. 25% von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken) (GN 31.08.2021). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.05.2020). [...]
Ehemalige staatliche Akteure und Widerstand gegen die Taliban
Letzte Änderung: 17.01.2022
National Resistance Front (NRF)
Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt (TD 20.08.2021), formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 die National Resistance Front (NRF), die von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anmerkung: NDS, afghanischer Geheimdienst], und Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten afghanischen Streitkräfte der Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten (LWJ 06.09.2021; vgl. ANI 06.09.2021).
Sowohl die Taliban als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialogs überwinden zu wollen (TN 30.08.2021; vgl. WZ 22.08.2021). Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.08.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen, und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein (LWJ 06.09.2021; vgl. ANI 06.09.2021), während die NRF am 06.09.2021 bestritt, dass dies geschehen sei (ANI 06.09.2021). Massoud kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeich- neten Talibanregierung bilden zu wollen (IT 08.09.2021; vgl. ANI 09.09.2021). Nach Angaben eines hochrangigen Mitglieds der NRF Anfang Oktober 2021 kontrolliert die NRF entgegen Angaben der Taliban mehr als die Hälfte von Panshir (France 24 05.10.2021).
Mit Oktober 2021 wird weiterhin von Aktivitäten der NRF unter anderem in den Provinzen Parwan, Baghlan (IP 13.11.2021; vgl. NR 15.10.2021) und Samangan berichtet (IP 01.12.2021). Es wird weiters von einer strengen Medienzensur seitens der Taliban berichtet, die die Veröffentlichung von Nachrichten über die Aktivitäten der „National Resistance Front“ und anderer militanter Bewegungen in Afghanistan verhindern soll (IP 13.11.2021).
Am 01.11.2021 wurde berichtet, dass die NRF ein Verbindungsbüro in Washington DC eröffnet hat, nachdem sie beim US-Justizministerium registriert wurde, um Lobbyarbeit bei verschiedenen in der Stadt tätigen Politikern zu betreiben (VOA 01.11.2021; vgl. BBC 29.10.2021). Am 04.12.2021 veröffentlichte die NRF auf ihrem offiziellen Twitteraccount eine Stellungnahme, laut derer sie bereit ist, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, um das Leid der Menschen in Afghanistan zu lindern (NRF 04.12.2021).
Ismail Khan, Abdul Rashid Dostum und Mohammad Atta Noor
Gemäß einem Bericht, der am 04.08.2021 veröffentlicht wurde [Anmerkung: also kurz vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul], haben die Machthaber in den verschiedenen Regionen Afghanistans angesichts der vorrückenden Taliban wenig Kampfeswillen gezeigt. Diejenigen, die zu den Waffen gegriffen haben, taten dies hauptsächlich, um ihre eigenen lokalen Interessen zu verteidigen. In Herat beispielsweise beschloss der örtliche Machthaber Ismail Khan erst dann, eine Miliz zu mobilisieren, als die Taliban den Zollposten Islam Qala erreichten, von dem Gerüchten zufolge regelmäßig ein erheblicher Teil der Staatseinnahmen an ihn abgezweigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt fiel es ihm schwer, eine schlagkräftige Truppe zusammenzustellen. Selbst seine Gefolgsleute beschreiben die neue Miliz als kaum ebenbürtig gegenüber den kampferprobten Taliban (RUSI 04.08.2021). Die Miliz des ethnischen Tadschiken Ismail Khan, der in den 1980ern eine große Mudschaheddin-Truppe befehligt hatte und nach 2001 eine führende Rolle einnahm, schmolz im August 2021 dahin - aufgrund der Bedrohung durch die Taliban oder aufgrund einer geheimen Übereinkunft mit der Gruppierung. Khan wurde Berichten zufolge am 13.08.2021 gefangengenommen und tauchte drei Tage später in der iranischen Stadt Mashhad auf (TC 06.09.2021; vgl. AST 08.09.2021). Im Jänner 2022 trafen hochrangige Delegierte der Taliban wichtige afghanische Oppositionsführer im Iran, unter anderem Ismail Kahn und Ahmad Massoud, um sie zur Beendigung des Widerstands gegen die entstehende Herrschaft der islamistischen Gruppe aufzufordern und ihnen Sicherheit zu garantieren, wenn sie nach Afghanistan zurückkehren (VOA 10.01.2022; vgl. KP 10.01.2022).
Atta Mohammad Noor, der starke Mann von Mazar-i-Sharif, zögerte einem Bericht zufolge zunächst, sich den Taliban entgegenzustellen. Als diese jedoch auf den Zollposten von Hayratan vorrückten, von dem er Berichten zufolge große Mengen an Bargeld abzweigen kann, schloss er sich dem Kampf an und mobilisierte seine Milizionäre. Die tatsächliche Wirkung dieser Truppe auf dem Schlachtfeld [Anmerkung: Stand 04.08.2021] war bescheiden (RUSI 04.08.2021). Der ethnische Tadschike Noor, einst Kommandant der Nordallianz (TC 06.09.2021) und Anführer eines Teils des Tanzims [Anmerkung: militärisch-politische Organisation] Jamiat-e Islami (ANI 09.09.2021), wie auch der ethnische Usbeke Abdul Rashid Dostum, einer der Gründer der Nordallianz (TC 06.09.2021) und des Tanzims Jombesh-e Melli Islami-ye Afghanistan (KAS 01.01.2006), sind vor den anrückenden Taliban ins Ausland geflohen (TC 06.09.2021; vgl. VOA 29.08.2021). Schon vor Beginn der Kämpfe hatte Noor einer politischen Lösung gegenüber militärischem Vorgehen den Vorrang gegeben (TC 06.09.2021; vgl. AST 08.09.2021). Eine Gruppe rund um Dostum und Noor kündigte Ende August 2021 [Anmerkung: vor der offiziellen Verkündung der Taliban- „Übergangsregierung“ am 07.09.2021] an, Gespräche mit den Taliban anzustreben (VOA 29.08.2021; vgl. FAZ 29.08.2021). Nach der Ankündigung der „Übergangsregierung“ der Taliban wurde diese von Noor kritisiert, sie würde den Regeln widersprechen und sei zum Scheitern verurteilt (ANI 09.09.2021). Es bleibt ungewiss, wieviel Unterstützung Führer wie Atta Noor, der weithin der Korruption beschuldigt wird, und Dostum, der mehrfacher Folter und Brutalität beschuldigt und in einem Bericht des US-Außenministeriums als „Quintessenz eines Warlords“ bezeichnet wird, in der Bevölkerung tatsächlich genießen (VOA 29.08.2021; vgl. AST 08.09.2021).
Gulbuddin Hekmatyar
Der Gründer der Hezb-e Islami (Hekmatyar) und vormalige Gegner der Taliban, Gulbuddin Hekmatyar, war gemeinsam mit seinem ehemaligen Gegner Hamid Karzai und Abdullah Abdullah Teil eines Verhandlungsteams, das [Anmerkung: vor der Ankündigung der Taliban- „Übergangsregierung“ am 07.09.2021] unter dem Namen „Koordinationsrat“ mit den Taliban über eine Regierungsbeteiligung verhandelte (TC 06.09.2021, FP 23.08.2021), welche jedoch nicht zustande kam (TD 10.09.2021).
Nach der Bildung der „Übergangsregierung“ der Taliban lobte Hekmatyar diese als „idealste Regierung der letzten 50 Jahre, da sie keine Besitzer von Doppelstaatsbürgerschaften enthält“ und frei von Sekulären sei (KP 11.09.2021).
Mohammad Mohaqeq und Abdul Ghani Alipoor
Mohammad Mohaqeq, Anführer der Partei Hezb-e Wahdat und während des afghanischen Bürgerkriegs in den 1990ern ein wichtiger Hazara-Anführer der Nordallianz, zählt zu jenen afghanischen Warlords, die in den letzten Wochen versucht haben, ihre alten Milizen als Teil der „Volksaufstandskräfte“ [public uprising forces] zu mobilisieren, die vor dem Fall von Kabul gegen Taliban-Kämpfer kämpften (JF 05.09.2021; vgl. RUSI 04.08.2021). Neben Mobilisierungen im Hazarajat (RUSI 04.08.2021) versuchte Mohaqeq zusammen mit Dostum und Noor, ihre Milizen in der Provinz Balkh zu mobilisieren, bevor diese am 14.08.2021 an die Taliban fiel (JF 05.09.2021; vgl. RUSI 04.08.2021). Als Kabul fiel, meldete sich Mohaqeq in den sozialen Medien zu Wort und behauptete in einem Facebook-Post, dass „die Menschen gerettet wurden“ und dass die afghanische Regierung korrupt sei, außerdem sprach er sich [vor der Bildung der „Übergangsregierung“ der Taliban] für eine Regierung unter Beteiligung verschiedener Gruppierungen aus (JF 05.09.2021, ETR 20.08.2021).
Ein Hazara-Kommandant, der gemäß Twittermeldungen nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul im Distrikt Behsud, Provinz (Maidan) Wardak, gegen die Taliban gekämpft hat, ist Abdul Ghani Alipoor (AWM 22.08.2021; IFE 22.08.2021; vgl. ALM 15.08.2021). Alipoor gründete 2014 eine Hazara-Miliz mit dem Namen Jabha-ye Moqawamat (Widerstandskraft), die in den vergangenen Jahren Hazara in Distrikten wie Behsud verteidigt hat. Im November 2018 war Alipoor [von der damaligen Regierung] wegen des Vorwurfs der Führung einer illegalen Miliz verhaftet worden. Im März 2021 schossen seine Kämpfer ein afghanisches Militärflugzeug ab (CACI 26.08.2021). [...]
Haqqani-Netzwerk
Letzte Änderung: 17.01.2022
Das Haqqani-Netzwerk wurde Ende der 1980er Jahre, etwa zur Zeit des Einmarsches der damaligen Sowjetunion in Afghanistan, gegründet und verbündete sich später mit den Taliban (USDOS 16.12.2021). Die Organisation wurde im Jahr 1996 Teil der Taliban (ASP 01.09.2020) und gilt als Verbündeter von al-Qaida. Das Netzwerk wurde von Jalaluddin Haqqani gegründet, einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad [1979-1989] und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Sein Sohn Serajuddin [auch Sirajuddin] Haqqani führt das Netzwerk nun an (CRS 17.08.2021; vgl. France 24 21.08.2021). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.08.2021; vgl. RFE/RL 06.08.2021). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom, auch wenn es den Taliban angehört (France 24 21.08.2021). Mit September 2020 zählten die Haqqani-Kämpfer rund 10.000 Mann in Afghanistan, was etwa 20% der Kampfkräfte der Taliban ausmachte (ASP 01.09.2020), während eine andere Quelle Ende August 2021 von einem Anteil von rund 35% sprach (GN 31.08.2021). Das Außenministerium der Vereinigten Staaten (USDOS) wiederum schätzt im Dezember 2021, dass die Gruppe über 3.000 bis 5.000 Kämpfer verfügt (USDOS 16.12.2021). Laut einem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juni 2021 ist das Haqqani-Netzwerk die schlagkräftigste Truppe der Taliban (UNSC 01.06.2021).
Das Haqqani-Netzwerk ist nach wie vor eine Drehscheibe für Kontakte und Zusammenarbeit mit regionalen ausländischen Terrorgruppen und die wichtigste Verbindungsstelle zwischen den Taliban und Al-Qaida (UNSC 01.06.2021). Auch wurden dem Netzwerk in der Vergangenheit Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst nachgesagt (CRS 17.08.2021; TSP 23.08.2021, USDOS 16.12.2021). Bezüglich einer Zusammenarbeit zwischen dem Haqqani-Netzwerk und dem Islamischen Staat Khorasan Provinz (ISKP) bestehen unterschiedliche Auffassungen (UNSC 01.06.2021). Während der afghanische Geheimdienst im Mai 2020 von einer „gemeinsamen ISKP-Haqqani-Zelle“ sprach (RFE/RL 06.05.2021), ein Afghanistan-Experte Belege vergangener Kollaborationen erwähnte (GN 31.08.2021) und einige Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats von einer taktischen Zusammenarbeit zwischen dem ISKP und dem Haqqani-Netzwerk auf der Ebene der Befehlshaber berichten, bestreiten andere die Behauptungen einer taktischen Zusammenarbeit entschieden (UNSC 01.06.2021). Ende August 2021 wurde ein Anschlag auf eine Menschenmenge am Flughafen von Kabul verübt, bei dem mindestens 170 Menschen starben und zu dem sich der ISKP bekannte (MEE 27.08.2021; vgl. GN 31.08.2021). Kämpfer aus Khost und Paktia, Kerngebieten des Haqqani-Netzwerks, waren einer Quelle zufolge für die Sicherheit in manchen Teilen der Provinzhauptstadt zuständig, das Flughafenareal wurde jedoch von anderen Einheiten gesichert (NLM 26.08.2021).
Von den US-Truppen und der [ehemaligen] afghanischen Armee als „tödlichste und ausgefeilteste Aufständischengruppe in Afghanistan“ (ASP 01.09.2020) bzw. „gefährlichster“ Arm der Taliban bezeichnet, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.08.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 17.08.2021; vgl. France 24 21.08.2021). Das Netzwerk wurde von den USA als ausländische Terrorgruppierung eingestuft und befindet sich auf der Sanktionsliste der Vereinten Nationen (FR24 21.08.2021; vgl. NZZ 07.09.2021).
Trotz des Rufs des Haqqani-Netzwerks wird angenommen, dass es in einer künftigen Taliban-Regierung eine bedeutsame Rolle spielen wird (FR24 21.08.2021; vgl. TSP 23.08.2021). So wurde im August 2021 angekündigt, dass Sirajuddin Haqqani den Posten des Innenministers in der neu gebildeten „Übergangsregierung“ der Taliban bekleiden wird (NZZ 07.09.2021).
Im November 2021 wurde ein hochrangiges Mitglied des Haqqani-Netzwerkes durch die TalibanRegierung zum Gouverneur von Logar ernannt. Khan ist einer von mehreren wichtigen Anführern des Haqqani-Netzwerks, die in der neuen Taliban-Regierung in hochrangige Positionen berufen wurden. Neben Nabi Omari als Gouverneur von Khost, Sirajuddin Haqqani als Innenminister, Khalil al Rahman Haqqani als Flüchtlingsminister ist Mullah Taj Mir Jawad erster Stellvertreter des Geheimdienstes (LWJ 10.11.2021). [...]
Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)
Letzte Änderung: 17.01.2022
Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 05.03.2015). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP), wobei „Khorasan“ die historische Bezeichnung einer Region ist, welche Teile des heutigen Iran, Zentralasiens, Afghanistans und Pakistans umfasst. Zu seinen Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (MEE 27.08.2021; vgl. AAN 01.08.2017). Aber auch Mitglieder anderer extremistischer Gruppierungen in der Region wechselten zum ISKP (WP 26.08.2021b).
Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des Islamischen Staates in Ostafghanistan (NYT 02.12.2019) nach jahrelangen Militäroffensiven der US-Streitkräfte und intensivierten Talibanangriffen zusammengebrochen (SIGAR 30.01.2020), wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.05.2020). Die Gebietsverluste des ISKP haben seine Fähigkeiten zur Mitgliederrekrutierung und Mittelbeschaffung beeinträchtigt. Schätzungen zufolge verfügt der ISKP noch über eine Kerngruppe von etwa 1.500 bis 2.200 Kämpfern in kleinen Gebieten der Provinzen Kunar und Nangarhar. Er war gezwungen, sich zu dezentralisieren, und besteht hauptsächlich aus Zellen und kleinen Gruppen im ganzen Land, die autonom agieren, aber dieselbe Ideologie teilen (UNSC 01.06.2021). Im Zuge der Machtübernahme der Taliban wurden jedoch gemäß einem Sprecher des Pentagons „Tausende“ (MEE 27.08.2021) bzw. „Hunderte“ ISKP-Kämpfer aus Gefängnissen befreit, womit die Truppenstärke wieder steigen könnte (GN 31.08.2021). Trotz territorialer, führungsmäßiger, personeller und finanzieller Verluste in den Provinzen Kunar und Nangarhar im Jahr 2020 ist der ISKP in andere Provinzen vorgedrungen, darunter Nuristan, Badghis, Sari Pul, Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Kabul, wo Kämpfer Schläferzellen gebildet haben. Die Gruppe hat ihre Positionen in und um Kabul gestärkt, wo sie die meisten ihrer Anschläge verübt (UNSC 21.07.2021).
Der ISKP hat in Afghanistan bislang kein Gebiet [nachhaltig] erfolgreich eingenommen. Stattdessen fokussiert seine Strategie auf Anschläge gegen zivile Ziele, wie zum Beispiel Moscheen, Schulen und Hochzeiten (WP 26.08.2021a). Im ersten Halbjahr 2021 verzeichnete UNAMA eine Zunahme an zivilen Opfern von rund 45% durch Anschläge des ISKP gegenüber demselben Untersuchungszeitraum im Vorjahr. Insgesamt schrieb UNAMA 9% aller erfassten zivilen Opfer dem ISKP zu. UNAMA stellte auch ein Wiederaufleben vorsätzlicher sektiererisch motivierter Anschläge gegen die religiöse Minderheit der Schiiten fest, von denen die meisten auch der ethnischen Minderheit der Hazara angehören und die fast alle vom ISIL-KP beanspruchtwerden (UNAMA 26.07.2021). Nach Erkenntnissen derAIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) ist die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von ISKP-Angriffen im ersten Halbjahr 2021 im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr dagegen um 20% gesunken. Insgesamt verzeichnete AIHRC im ersten Halbjahr 2021 343 zivile Opfer bei ISKP-Anschlägen oder -Angriffen, davon 104 Todesopfer und 284 Verletzte (AIHRC 01.08.2021). Im gesamten Jahr 2020 schrieb AIHRC dagegen 403 zivile Opfer dem ISKP zu (AIHRC 28.01.2021; vgl. ACCORD 06.05.2021).
UNAMA zählte dagegen 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte). 80% der zivilen Opfer, die dem ISKP zugeschrieben wurden, entstanden bei Angriffen, die bewusst auf Zivilisten abzielten (UNAMA 2.2021a). Ende August 2021 übernahm der ISKP die Verantwortung für einen Anschlag auf eine Menschenmenge am Flughafen von Kabul, die sich im Zuge der Massenevakuierungsflüge nach der Machtübernahme der Taliban dort gebildet hatte. Mindestens 170 Personen sind bei dem Anschlag ums Leben gekommen (MEE 27.08.2021; vgl. BBC 28.08.2021), neben den Zivilisten auch 28 Talibankämpfer und 13 US-Soldaten, die zur Sicherung des Flughafengeländes dort postiert waren (MEE 27.08.2021).
Die Taliban stehen dem IS und seinen Vorstellungen eines globalen Dschihads ablehnend gegenüber und haben ISKP in den vergangenen Jahren bekämpft (AA 21.10.2021). Der ISKP verurteilt die Taliban als „Abtrünnige“, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.02.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.08.2019; vgl. WP 26.08.2021a). Die Rivalität des ISKP mit den Taliban wurde von einer Quelle auch als ein „Mikrokosmos des [internationalen] Wettbewerbs zwischen Al-Qaida und ihrem radikaleren Ableger, dem Islamischen Staat“ beschrieben. Zwischen den Gruppen bestehen Generations- und ideologische Unterschiede (WP 26.08.2021b). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele sowie afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränkten (AP 19.08.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sie Angriffe gegen Schiiten sowie Hindus und Sikhs richten (SC 27.08.2021; vgl. WP 19.08.2019). Anschläge des ISKP richten sich immer wieder gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Afghaninnen und Afghanen schiitischer Glaubensrichtung (AA 21.10.2021).
Experten zufolge werden die Taliban [nach ihrer Machtübernahme in Kabul] wahrscheinlich versuchen, die Gruppe zu eliminieren. Einige warnten jedoch im August 2021, dass der ISKP von einem Sicherheitsvakuum profitieren könnte, während die Taliban versuchen, ihre Macht zu konsolidieren (WP 26.08.2021a; vgl. AM 27.08.2021). Ein weiterer Experte wies auch darauf hin, dass der ISKP versuchen könnte, Spannungen zwischen den verschiedenen Talibanfraktionen auszunutzen, welche beispielsweise im Rahmen der Regierungsbildung deutlich wurden (GN 31.08.2021; vgl. SC 27.08.2021).
Der ISKP hat in den Monaten seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ihre Angriffe gegen die Taliban verstärkt (LWJ 23.11.2021; vgl. HRW 25.10.2021) und eine Handvoll öffentlichkeitswirksamer Selbstmordattentate auf Ziele wie Moscheen und Krankenhäuser verübt und kleinere, aber zahlreichere Anschläge mit Sprengsätzen und Handfeuerwaffen gegen die militärischen Kräfte der Taliban durchgeführt. Als Reaktion darauf haben die Taliban mehr als 1.000 Kämpfer in die Provinz Nangarhar, dem Zentrum der ISKP-Operationen, geschickt, um die Gruppe zu bekämpfen (LWJ 23.11.2021; vgl. WP 22.11.2021). Aktuell liegt nach Ansicht des Long War Journal der Vorteil klar bei den Taliban, da der ISKP über keine Verbündete im In- oder Ausland verfügt und die Taliban im Zuge der Machtübernahme ein großes Waffenarsenal requirieren konnten sowie über territoriale Kontrolle in alle Provinzen verfügen. Der ISKP verfügt nur über Kleinwaffen, und sein Hauptwerkzeug für Angriffe auf die Taliban sind Sprengfallen und Selbstmordattentate (LWJ 23.11.2021).
Im Oktober gab es Berichte, wonach in Jalalabad Leichen entdeckt wurden, einige mit handgeschriebenen Notizen in ihren Taschen, auf denen sie beschuldigt wurden, Mitglieder des ISKP zu sein. Die Taliban werden beschuldigt, für diese Tötungen verantwortlich zu sein (BBC 29.10.2021).
Mitte Dezember kam es zu zwei Bombenanschlägen in hauptsächlich schiitischen Gegenden Kabuls, bei denen mindestens eine Person getötet wurde. Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (RFE/RL 18.11.2021; vgl. REU 17.11.2021).
Die UNAMA-Vorsitzende Deborah Lyons sagte am 16.11.2021, ISKP sei mittlerweile nicht mehr nur im Osten, sondern im ganzen Land zunehmend aktiver (UNAMA 16.11.2021). [...]
Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen
Letzte Änderung: 17.01.2022
Al-Qaida und ihr regionaler Zweig, Al-Qaida auf dem indischen Subkontinent [Anmerkung: manchmal mit AQIS abgekürzt], operieren trotz wiederholter Behauptungen der Taliban, dass die Gruppe keine Präsenz im Land habe, weiterhin in ganz Afghanistan (LWJ 08.04.2021; vgl. BAMF 12.04.2021).
Gemäß einem Bericht des UN-Sicherheitsrates vom Juli 2021 ist Al-Qaida in mindestens 15 Provinzen Afghanistans aktiv, vor allem im Osten, Süden und Südosten des Landes (UNSC 21.07.2021). Ein bedeutender Teil der Führungsriege von Al-Qaida - einschließlich ihrem Anführer Aiman al-Zawahiri - hat ihre Basis in der Grenzregion von Afghanistan und Pakistan, von wo aus sie eng mit AQIS zusammenarbeitet (UNSC 01.06.2021). AQIS operiert unter dem Schutz der Taliban von Kandahar, Helmand und Nimruz aus (UNSC 21.07.2021). Die Zahl der Mitglieder von Al-Qaida, einschließlich AQIS, wird auf mehrere Dutzend bis 500 Personen geschätzt (UNSC 01.06.2021).
Al-Qaida operierte überwiegend unter der Schirmherrschaft der Taliban und in Verbindung mit anderen regierungsfeindlichen Gruppen gegen die [bis 15.08.2021 im Amt befindliche] afghanische Regierung. Die Aktivitäten konzentrierten sich auf die Ausbildung, einschließlich mit Waffen und Sprengstoff, sowie auf Beratung, und es wird behauptet, dass sie an Taliban-internen Diskussionen über die Beziehungen der Bewegung zu anderen dschihadistischen Gruppierungen teilnahmen (UNAMA 2.2021a). Kämpfer von AQIS waren in die Strukturen der Taliban eingebettet (CRS 17.08.2021). Die Nähe zwischen den beiden Gruppen wird auch durch die Tötung mehrerer Al-Qaida-Kommandeure bei Operationen der afghanischen Sicherheitskräfte in von den Taliban kontrollierten Gebieten unterstrichen (UNSC 01.06.2021; vgl. VOA 10.11.2020).
Die Taliban und Al-Qaida sind nach wie vor eng miteinander verbunden und zeigen keine Anzeichen für einen Abbruch der Beziehungen, wobei das Haqqani-Netzwerk hier eine wichtige Komponente ist. Die Verbindungen zwischen den beiden Gruppen beruhen auf ideologischer Übereinstimmung, auf Beziehungen, die durch gemeinsame Kämpfe entstanden sind, und auf der persönlichen Ebene z.B. durch Eheschließungen (UNSC 01.06.2021). Im Zuge des US-Taliban-Abkommens haben die Taliban zugesichert, zu verhindern, dass Al-Qaida den Boden Afghanistans nutzt, „um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen“ (USDOS 29.02.2020). Während in der Vergangenheit beide Gruppierungen immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont hatten (UNSC 15.01.2019), bestritten die Taliban dann, Verbindungen zu Al-Qaida zu haben, und gingen nach dem US-Abkommen im Juni 2020 so weit zu leugnen, dass Al-Qaida in Afghanistan überhaupt existiert (LWJ 15.06.2020; vgl. UNSC 01.06.2021). Nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul im August 2021 gratulierte die Al-Qaida-Führung den Taliban zu ihrem „historischen Sieg“ (LWJ 31.08.2021). Mit Stand 15.08.2021 ist noch unklar, welche Haltung die Taliban gegenüber Al-Qaida oder anderen islamistischen Extremisten einnehmen werden, sollten diese in Afghanistan grenzüberschreitende Gewaltaktionen durchführen. Es ist auch nicht klar, wie Al-Qaida auf die jüngsten Ereignisse reagieren wird (GN 15.08.2021).
Im August 2021 schätzte das US-Verteidigungsministerium die Präsenz von Al-Qaida in Afghanistan als nicht derart hoch ein, dass die Gruppierung eine Bedrohung für die USA darstellen würde, wie es am 11.09.2001 der Fall war (CNN 21.08.2021). Die Führung von Al-Qaida ist vielmehr mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt (CRS 17.08.2021). Zuvor hatte das US-amerikanische Verteidigungsministerium jedoch Präsident Biden widersprochen, der den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan damit gerechtfertigt hatte, dass Al-Qaida aus dem Land „verschwunden“ sei (CNN 21.08.2021).
Im September 2021 hatte die Taliban amerikanische Befürchtungen, dass Al-Qaida oder der ISKP (Islamic State Khorasan Province) im Land präsent sind, als „unbegründete Propaganda“ zurückgewiesen (VOA 21.09.2021; vgl. REU 21.09.2021).
Im Dezember 2021 erklärte der Leiter des US-Zentralkommandos, dass seit dem Abzug der US-Streitkräfte die Extremistengruppe Al-Qaida in Afghanistan „leicht gewachsen“ sei. Auch herrsche Uneinigkeit zwischen den neuen Taliban-Führern des Landes, ob sie ihr Versprechen aus dem Jahr 2020, die Beziehungen zu der Gruppe abzubrechen, einhalten sollen (ArN 10.12.2021; vgl. KP 11.12.2021).
Nach Angaben eines Taliban-Sprechers wurde Qari Baryal am 07.11.2021 zum Gouverneur der Provinz Kabul ernannt (LWJ 09.11.2021; vgl. REU 07.11.2021), der nach früheren Berichten vom US-Militär als „mit Al-Qaida verbundener Taliban-Führer“ bezeichnet wurde (LWJ 09.11.2021). [...]
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 17.01.2022
Die Taliban haben mit ihrer Machtübernahme im August 2021 faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Die Ein- und Zuteilung der bisherigen Kämpfer für diese Aufgaben folgt keiner einheitlichen Regelung. Neben bewaffneten Talibankämpfern in Uniform gibt es auch weiter eine Vielzahl von Talibankämpfern in Zivil, die Sicherheitsaufgaben wahrnehmen, ohne dass klar wäre, in wessen Auftrag oder auf welcher Grundlage sie dies tun (AA 21.10.2021).
Angaben des amtierenden Oberbefehlshabers der Taliban Qari Fasihuddin zufolge planen die Taliban den Aufbau einer regulären Armee unter Einbeziehung bisheriger Sicherheitskräfte, deren gute Ausbildung man nutzen wolle. Gleiches soll auch für die Polizei gelten. Erkenntnisse über die Umsetzung dieser Planungen liegen bisher nicht vor (AA 21.10.2021).
Wachsende Kriminalität war bereits in den vergangenen Jahren ein Problem, insbesondere in den Städten. Die Taliban nehmen für sich in Anspruch, dem entgegenzuwirken. Ihnen nahestehende Medien veröffentlichen beispielsweise Berichte über die Befreiung von Entführungsopfern oder die Gefangennahme von Dieben und Drogenschmugglern. Gleichzeitig existieren Berichte über öffentliche Strafmaßnahmen gegen und Zurschaustellung von Verbrechern durch die Taliban. Dies entspricht auch dem gängigen Vorgehen des ersten Talibanregimes (AA 21.10.2021).
Über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen gibt es bislang keine fundierten Erkenntnisse (AA21.10.2021). Obwohl die Taliban eine „Generalamnestie“ für alle versprochen haben, die für die frühere Regierung gearbeitet haben (ohne formellen Erlass), gibt es Berichte aus Teilen Afghanistans unter anderem über die gezielte Tötung von Personen, die früher für die Regierung gearbeitet haben (AI 9.2021). Es wurde berichtet, dass die Taliban eine schwangere Polizistin vor den Augen ihrer Familie getötet hätten (CNN 08.09.2021; vgl. BBC 05.09.2021). Es gibt weitere Berichte, wonach ehemalige Polizisten (PAJ 21.10.2021) oder Dolmetscher getötet wurden (ABC News 20.10.2021).
Während im Oktober afghanische Militärpiloten noch berichteten, dass ihre in Afghanistan verbliebenen Verwandten mit dem Tod bedroht würden, sollten sie nicht zurückkehren (RFE/RL 23.10.2021), forderte der Sprecher der Talibanregierung diese auf, im Land zu bleiben bzw. zurückzukehren. Sie würden durch eine Amnestie geschützt und nicht verhaftet werden. Dies geschah, nachdem Dutzende von in den USA ausgebildeten afghanischen Piloten Tadschikistan im Rahmen einer von den USA vermittelten Evakuierung verlassen hatten, wohin sie zuvor geflüchtet waren (AP 10.11.2021; vgl. TD 10.11.2021).
Nach einem Bericht von Human Rights Watch (HRW) vom November 2021 wurden seit der Machtübernahme der Taliban mehr als 100 ehemalige Polizei- und Geheimdienstmitarbeiter in nur vier Provinzen (Ghazni, Helmand, Kandahar und Kunduz) exekutiert oder waren gewaltsamem „Verschwindenlassen“ ausgesetzt (HRW 30.11.2021). [...]
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 17.01.2022
Es ist nicht davon auszugehen, dass die Verfassung der afghanischen Republik aus Sicht der Taliban aktuell fortbesteht. Eine neue oder angepasste Verfassung existiert bislang nicht; politische Aussagen der Taliban, übergangsweise die Verfassung von 1964 in Teilen nutzen zu wollen, blieben bislang ohne unmittelbare Auswirkungen (AA 21.10.2021).
Es gibt Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 23.08.2021; vgl. AA 21.10.2021), wobei diese im Einzelfall nur schwer zu verifizieren sind, darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Erschießungen (AA 21.10.2021).
Die Gruppe soll Tür-zu-Tür-Durchsuchungen durchführen, und auch an einigen Kontrollpunkten der Taliban wurden gewalttätige Szenen gemeldet (HRW 30.11.2021; vgl. BBC 20.08.2021, AP 03.09.2021). Diejenigen, die für die Regierung oder andere ausländische Mächte gearbeitet haben, sowie Journalisten und Aktivisten sagen, sie hätten Angst vor Repressalien (BBC 20.08.2021). Es existieren Berichte über Einzeltäter oder kriminelle Gruppen, die sich als Taliban ausgeben und Hausdurchsuchungen, Plünderungen o.Ä. durchführen (AA 21.10.2021).
Beispielsweise wurde Berichten zufolge ein beliebter Komiker, der früher für die Polizei gearbeitet hatte, aus seinem Haus entführt und von den Taliban am oder um den 28.07.2021 getötet (AI 9.2021; vgl. WP 28.07.2021), ein Volkssänger von den Taliban erschossen (AI 9.2021; vgl. RFE/RL 29.08.2021) und eine frühere Polizeiangestellte, die im achten Monat schwanger war, vor ihren Kindern erschossen (AI 9.2021; vgl. BBC 05.09.2021).
Die Europäische Union hat erklärt, dass die von ihr zugesagte Entwicklungshilfe in Höhe von mehreren Mrd. USD von Bedingungen wie der Achtung der Menschenrechte durch die Taliban abhängt (MPI 02.09.2021; vgl. REU 03.09.2021). [...]
Internet und Mobiltelefonie
Eine schnelle Verbreitung von Mobiltelefonen, Internet und sozialen Medien hat vielen Bürgern einen besseren Zugang zu unterschiedlichen Ansichten und Informationen ermöglicht (USDOS 30.03.2021).
Es gibt Mobiltelefone in 90% der afghanischen Haushalte, wobei sich oft mehrere Personen eines teilen (DFJP/SEM 30.06.2020).
Fünf GSM-Betreiber decken zwei Drittel der bevölkerungsreichsten Gebiete ab. Ungefähr jeder zweite Einwohner hat im Jahr 2020 eine aktive SIM-Karte. Weniger als einer von zehn Nutzern geht mit einem Mobiltelefon ins Internet (DFJP/SEM 30.06.2020).
Im Laufe des Jahres 2020 gab es viele Berichte über Versuche der Taliban, den Zugang zu Informationen einzuschränken, oft durch die Zerstörung oder Abschaltung von Telekommunikationsantennen und anderen Geräten (USDOS 30.03.2021).
Aus strategischen Gründen schnitten die Taliban im Zuge der Kampfhandlungen die Internetverbindungen nach Panjshir zeitweise ab (AAN 01.07.2021), und es gibt auch Berichte, wonach die Taliban in Kabul das Internet an- und abschalten würden (DW 30.08.2021). Am 09.09.2021 forderten die Taliban die Telekommunikationsbetreiber auf, die Internetverbindung in mehreren Bezirken Kabuls abzuschalten, darunter auch in Gebieten wie Dasht-e-Barchi, wo in den Tagen zuvor Proteste stattgefunden hatten (AI 9.2021; vgl. IT 09.09.2021, AA 21.10.2021). [...]
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 27.01.2022
Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 16.07.2021). Nach der Machtübernahme der Taliban gab es Berichte über härtere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für Frauen (HRW 17.08.2021).
Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischsten ist, da viele von ihnen - zumindest anfangs - regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln. Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht „man kenne seine Nachbarn nicht mehr“ (AAN 19.03.2019).
Die Absorptionsfähigkeit der Ausweichmöglichkeiten, vor allem im Umfeld größerer Städte, ist durch die hohe Zahl der Binnenvertriebenen und Rückkehrer bereits stark beansprucht. Dies schlägt sich sowohl im Anstieg der Lebenshaltungskosten als auch im erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder. Die Auswirkungen des anhaltenden Konflikts und der Covid-19-Pandemie haben die Lage weiter verschärft (AA 16.07.2021).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es Berichte, wonach die afghanische Bevölkerung daran gehindert wurde, ins Ausland zu fliehen und dort Asyl zu suchen, weil die Taliban den Zugang zum Flughafen von Kabul verhinderten oder die Landgrenzen geschlossen wurden. Einige Männer und Frauen wurden Berichten zufolge gefoltert oder misshandelt, als sie versuchten, das Land zu verlassen (AI 9.2021).
Sowohl Iran wie auch Pakistan haben ihre Grenzen für Personen ohne gültige Reisedokumente geschlossen, die aus Afghanistan einreisen wollen (DIS 12.2021; vgl. France 24), wobei nach Angaben von UNHCR Afghanen weiterhin illegal über inoffizielle Grenzübergänge in den Iran gelangen (UNHCR 10.11.2021). Pakistan hat im Jahr 2020 begonnen, seine Grenze zu Afghanistan mit 2.600 km an Zäunen zu verstärken (DIS 12.2021). Der Bau des Zauns wurde mit Ende 2021 weiter fortgesetzt, trotz Versuchen seitens der Taliban, den Bau zu behindern (Dawn 07.01.2022; vgl. VOA 03.01.2022).
Unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban riegelte die usbekische Regierung die Grenze zu Afghanistan ab und erklärte, dass keine afghanischen Flüchtlinge ins Land gelassen würden. Der usbekische Flughafen wurde zwar als Zwischenstopp zum Auftanken für Flüchtlingsflüge nach Europa und darüber hinaus zur Verfügung gestellt, doch das Einreiseverbot für Flüchtlinge blieb bestehen, auch nachdem der Grenzübergang Termez wieder für den zugelassenen gewerblichen Verkehr geöffnet wurde (VOA 23.12.2021). Auch die Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan bleibt geschlossen (DIS 12.2021), und es gibt Berichte über zwangsweise Rückführungen von Afghanen aus Tadschikistan (UNHCR 19.11.2021; vgl. DIS 12.2021).
Seit dem 26.12.2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, mehr als 72 Kilometer (45 Meilen) ohne einen männlichen Verwandten zu reisen. Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 06.01.2022; vgl. DW 26.12.2021).
[Anmerkung: Weitere Informationen zum nationalen und internationalen Flugverkehr sowie zum Status der Grenzen finden sich im Kapitel Erreichbarkeit. Aufgrund der aktuellen Situation - der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 - kann es zu plötzlichen Änderungen im Hinblick auf die Öffnung und Schließung von Grenzen und auf den Flugverkehr kommen. Mit Stand Dezember 2021 ist noch nicht abschließend klar, ob bzw. welche Maßnahmen die Talibanregierung erlassen wird, und welchen Einfluss diese auf die Bewegungsfreiheit der Menschen haben werden.] [...]
IDPs und Flüchtlinge
Letzte Änderung: 27.01.2022
Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten (AA 16.07.2021).
Der begrenzte Zugang zu humanitären Hilfeleistungen führte vor der Machtübernahme durch die Taliban zu Verzögerungen bei der Identifizierung, Einschätzung und zeitnahen Unterstützung von Binnenvertriebenen. Diesen fehlte weiterhin Zugang zu grundlegendem Schutz, einschließlich der persönlichen und physischen Sicherheit sowie Unterkunft (USDOS 30.03.2021).
IDPs waren in den Möglichkeiten eingeschränkt, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Oft kam es nach der ersten Binnenvertreibung zu einer weiteren Binnenwanderung. Vor allem binnenvertriebene Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand hatten oft Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen zu erhalten, weil sie keine Identitätsdokumente besitzen (USDOS 30.03.2021). Das Einkommen von Binnenvertriebenen und Rückkehrern war gering, da die Mehrheit der Menschen innerhalb dieser Gemeinschaften von Tagelöhnern und/oder Überweisungen von Verwandten im Ausland abhängig war, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (Halle 12.2020).
Die vier Mio. Binnenvertriebenen in Afghanistan leben unter Bedingungen, die sich perfekt für die schnelle Übertragung eines Virus wie COVID-19 eignen. Die Lager sind beengt, unhygienisch, und es fehlt selbst an den grundlegendsten medizinischen Einrichtungen. Sie leben in Hütten aus Lehm, Pfählen und Plastikplanen, in denen bis zu zehn Personen in nur einem oder zwei Räumen untergebracht sind, und sind nicht in der Lage, soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren (AI 30.03.2021). Der Zugang zur Gesundheitsversorgung war für Binnenvertriebene und Rückkehrer bereits vor der COVID-19-Pandemie eingeschränkt. Seit Beginn der Pandemie hat sich der Zugang weiter verschlechtert, da einige medizinische Zentren in COVID-19-Behandlungszentren umgewandelt wurden und die Finanzierung der humanitären Hilfe zurückging (Halle 12.2020).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021
UNOCHA bestätigte im Jahr 2020 332.902 Menschen als neue Binnenvertriebene aufgrund des Konflikts und Naturkatastrophen (UNOCHA 27.12.2020; vgl. NRC 11.2020, AI 30.03.2021) und, bis 21.11.2021 wurden von UNOCHA 667.938 neue Binnenvertriebene im laufenden Jahr 2021 verifiziert (UNOCHA 26.11.2021). Damit stieg die Zahl der Binnenvertriebenen bis Oktober 2021 auf insgesamt mehr als 3,5 Mio. Menschen (AA 21.10.2021), die genaue Zahl lässt sich jedoch nicht bestimmen (STDOK 10.2020).
Die Unsicherheit ist nicht der einzige Faktor, der die Menschen zum Verlassen ihrer Häuser zwingt. Afghanistan erlebt derzeit die zweite schwere Dürre innerhalb von vier Jahren, und die Nahrungsmittelproduktion ist stark betroffen (UNHCR 15.10.2021; vgl. NH 30.08.2021).
Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan (BBC 01.09.2021) oder über den Grenzübergang Islam Qala in den Iran geflohen (DZ 01.09.2021). Insgesamt 32 von 34 Provinzen haben ein gewisses Maß an Vertreibung zu verzeichnen (IOM 19.08.2021). Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Taliban verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (DZ 01.09.2021).
Nach dem Ende der gewaltsamen Auseinandersetzungen in weiten Teilen des Landes gibt es erste Anzeichen für eine Rückkehr Binnenvertriebener in ihre Heimatprovinzen (AA 21.10.2021; vgl. UNOCHA 14.10.2021). Die Taliban haben internationale Organisationen der humanitären Hilfe um Unterstützung bei der Rückführung Binnenvertriebener gebeten, die selbst in der Regel nicht über ausreichende Mittel zur Rückkehr verfügen (AA 21.10.2021).
Aufgrund des nahenden Winters zieht es viele Binnenflüchtlinge nach Kabul, wo sie auf Hilfe hoffen (UNHCR 15.10.2021). Das Ministerium für Flüchtlingsangelegenheiten der Übergangsregierung der Taliban hat zusammen mit einer Reihe von Hilfsorganisationen mit der Umsiedlung von Tausenden von Binnenvertriebenen im Oktober begonnen, die zumeist aus Behelfsunterkünften in Kabul in ihre Heimatprovinzen umgesiedelt wurden (XI 05.10.2021; vgl. KP 03.10.2021). [...]
Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung: 27.01.2022
Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index (UNDP o.D.). Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig (AF 2018; vgl. WB 7.2019). Jedoch konnte die vormalige afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (USIP 15.08.2019; vgl. WB 7.2019).
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 07.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). Rund 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018).
Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: Einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9% (SIGAR 30.01.2021).
Die afghanische Wirtschaft war bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban schwach, wenig diversifiziert und in hohem Maße von ausländischen Einkünften abhängig. Diese umfasste zivile Hilfe, finanzielle Unterstützung für die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) und Geld, das von ausländischen Armeen im Land ausgegeben wurde (AAN 11.11.2021).
Bevor sie die Macht übernahmen, hatten die Taliban große Teile des Landes kontrolliert oder in ihrem Einfluss und konnten die Bevölkerung und die verschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten, denen die Menschen dort nachgingen, „besteuern“. Dazu gehörten unter anderem: die landwirtschaftliche Ernte (Ushr) [Anmerkung: 10% Steuer auf landwirtschaftliche Produkte nach islamischem Recht], insbesondere Opium; der grenzüberschreitende Handel, sowohl legal als auch illegal; Bergbau; Gehälter, auch von Beamten und NGO-Mitarbeitern. Sie erzielten auch Einnahmen in Form von Schutzgeldern sowie durch die Einhebung von Geld von Reisenden an Kontrollpunkten. Die Taliban erhielten auch Spenden von afghanischen und ausländischen Anhängern (AAN 11.11.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben die Banken geschlossen, so haben dieVereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. USD (7,66 Mrd. Euro) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt (DW 24.08.2021; vgl. AAN 11.11.2021).
Im November 2021 sagte der Präsident der Weltbank, dass es unwahrscheinlich sei, dass sie die direkte Hilfe für Afghanistan wieder aufnehmen werde, da das Zahlungssystem des Landes Probleme aufweise (KP 09.11.2021; vgl. ANI 09.11.2021).
Die Regierung der Taliban hat einige kleine Schritte zur Bewältigung der Krise unternommen und teilweise die Arbeit mit NRG und UN-Organisationen aufgenommen (AAN 11.11.2021). Anfang Dezember wurde berichtet, dass die Taliban begonnen haben, landesweit eine Ushr einzutreiben (BAMF 06.12.2021).
Die Vereinten Nationen warnen nachdrücklich vor einer humanitären Katastrophe, falls internationale Hilfsleistungen ausbleiben oder nicht implementiert werden können. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen ist ebenso wie eine Reihe von UN-Unterorganisationen (z. B. WHO, WFP, UNHCR, IOM) vor Ort - mit Abstrichen - weiter arbeitsfähig. Bei einer internationalen Geberkonferenz am 13.09.2021 hat die internationale Gemeinschaft über 1 Mrd. USD an Nothilfen für Afghanistan zugesagt (AA 21.10.2021).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 4% der Befragten an, dass sie in der Lage sind, ihre Familien mit den grundlegendsten Gütern zu versorgen. In Kabul gaben 80% der Befragten an, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Haushalt zu versorgen, gefolgt von 66% in Mazar-e Sharif und 45% in Herat. Ebenso gaben 8% der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien mit grundlegenden Gütern zu versorgen, gefolgt von 24% in Mazar-e Sharif und 42% in Herat (ATR/STDOK 18.01.2022).
Dürre und Überschwemmungen
Starke Regenfälle haben im Mai 2021 mehrere Provinzen Afghanistans, insbesondere Herat, heimgesucht und Sturzfluten und Überschwemmungen verursacht, die zu Todesopfern und Schäden führten. Die am Stärksten betroffenen Provinzen sind Herat, Ghor, Maidan Wardak, Baghlan, Samangan, Khost, Bamyan, Daikundi und Badakhshan. Medienberichten zufolge sind in der Provinz Herat bis zu 37 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden vertrieben und mehr als 150 Häuser wurden zerstört (ECHO 05.05.2021; vgl. UNOCHA 11.05.2021). 405 Familien wurden in weiterer Folge landesweit aus ihren Häusern vertrieben (BAMF 10.05.2021).
Im Jahr 2021 kam es zur zweiten schweren Dürre innerhalb von drei Jahren (AAN 11.11.2021; vgl. AAN 06.11.2021), welche zu Missernten, einem drastischen Verfall der Viehpreise und zu Trinkwasserknappheit geführt hat. Besonders schlimm sind die Bedingungen im Süden, Westen und Nordwesten des Landes (AAN 06.11.2021)
Für den Winter droht angesichts der anhaltenden Dürre und des Hungers eine weitverbreitete Hungersnot (NPR 10.11.2021; vgl. BBC 08.11.2021, WFP/FAO 25.10.2021). [...]
Armut und Lebensmittelunsicherheit
Letzte Änderung: 27.01.2022
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 16.07.2021; AF 2018). Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Mio. Menschen (2020: 14 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden (UNGASC 09.12.2020).
Da keine neuen Dollarlieferungen eintreffen, um die Währung zu stützen, ist die afghanische Währung Ende August 2021 auf ein Rekordtief gefallen und hat die Preise in die Höhe getrieben. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Öl und Reis sind innerhalb weniger Tage um bis zu 10-20% gestiegen (DW 24.08.2021). Dieser Trend setzte sich auch im Dezember 2021 fort, als die afghanische Währung gegenüber dem Dollar in nur einer Woche 30% des Wertes verlore (France 24 13.12.2021).
Das World Food Program (WFP), die Food and Agriculture Organization (FAO), die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) sowie die Integrated Food Security Phase Classification (IPC) warnten im Oktober 2021, dass im kommenden Winter fast 23 Mio. Afghanen unter „akuter Ernährungsunsicherheit“ leiden werden. Grund dafür sind die kombinierten Auswirkungen von Dürre, Konflikten, der Coronavirus-Pandemie und einer Wirtschaftskrise, die sich durch die Unruhen nach der Machtübernahme der Taliban im Land noch verschärft hat (WFP/FAO 25.10.2021; vgl. IPC 10.2021, RFE/RL 25.10.2021, UNAMA 16.11.2021). Der im Oktober 2021 veröffentlichte IPC-Bericht zeigt, dass die Zahl der Afghanen, die von akutem Hunger betroffen sind, seit der letzten Bewertung im April 2021 um 37% gestiegen ist (WFP/FAO 25.10.2021). Unter den Gefährdeten sind 3,2 Mio. Kinder unter fünf Jahren, die bis Ende des Jahres an akuter Unterernährung leiden dürften. NGOs warnten, dass 1 Mio. Kinder an schwerer akuter Unterernährung zu sterben drohen, wenn sie nicht umgehend lebensrettende Maßnahmen erhalten (IPC 10.2021; vgl. WFP/FAO 25.10.2021).
Während das Risiko einer Hungersnot früher hauptsächlich in ländlichen Gebieten bestand, sind nun auch die Menschen in den Städten betroffen. Im dritten Quartal 2021 ließen die UN 10,5 Mio. Menschen humanitäre Hilfe zukommen. Am 18.11.2021 sind 36 Tonnen an humanitärer Hilfe der russischen Regierung in Kabul eingetroffen. Insgesamt sollten 108 Tonnen geliefert werden. Ein Zug mit über 1.000 Tonnen Hilfsgütern aus China wurde für Anfang Dezember erwartet (UNAMA 16.11.2021). Am 06.12.2021 waren bereits 500 Tonnen in der Provinz Balkh angekommen (XI 06.12.2021). [...]
Nach der Machtübernahme der Taliban haben sich die Preise für Lebensmittel und Treibstoff erhöht und stiegen (mit Stand November 2021) immer noch an (RA KBL 08.11.2021), und für den nahenden Winter wurde ein weiterer Anstieg prognostiziert (BAMF 08.11.2021; vgl. TN 31.12.2021).
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) stellte in seinem Weekly Market Price Bulletin für die dritte Novemberwoche 2021 fest, dass die Preise für Lebensmittel immer noch deutlich höher lagen als in der letzten Juniwoche 2021 (WFP 15.11.2021; vgl. BAMF 29.11.2021). [...]
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 3,6% der Befragten an, dass sie in der Lage seien, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 53% der Befragten in Herat, 26% in Balkh und 12% in Kabul gaben an, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ebenso gaben 33% der Befragten in Herat und Balkh und 57% der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage seien, ihre Familien ausreichend zu ernähren (ATR/STDOK 18.01.2022). [...]
Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten
Letzte Änderung: 28.01.2022
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 lag die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard musste zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden (IOM 2020). Auch in Mazar-e Sharif standen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankte unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich (STDOK 21.07.2020). Einer anderen Quelle zufolge lagen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließendem Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat (Schwörer 30.11.2020).
Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden (STDOK 21.07.2020). Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden – vorausgesetzt, die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel (Schwörer 30.11.2020; vgl. STDOK 21.07.2020). Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen (IOM 2020).
Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (IOM 2020).
Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosteten vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat, wobei abhängig vom Verbrauch diese Kosten auch höher liegen konnten. In ländlichen Gebieten konnte man mit mind. 50% weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen als in den Städten (IOM 2020).
Seit der Machtübernahme der Taliban sind die Mieten um 20-40% gesunken. Die durchschnittliche Miete für eine Wohnung wird mit November 2021 auf 110 USD bis 550 USD (10.000 AFN bis 50.000 AFN) für Kabul, Herat und Mazar-e Sharif geschätzt, je nach Standort und Art der Einrichtung (RA KBL 08.11.2021).
In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 durchgeführten Studie gaben die meisten der Befragten in Herat (66%) und Mazar-e Sharif (63%) an, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben, während weniger als 50% der Befragten in Kabul angaben, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben. Von jenen, die Miete bezahlten, gaben 54,3% der Befragten in Kabul, 48,4% in Balkh und 8,7% in Herat an, dass sie 5.000-10.000 AFN (ca. 40 bis 80 Euro) pro Monat Miete zahlten. In Kabul mieteten 41,3% der Befragten Wohnungen/Häuser für weniger als 5.000 AFN pro Monat, in Herat 91,3% und in Balkh 48,4%. Nur 4,3% der Befragten in Kabul mieteten Immobilien zwischen 10.000 und 20.000 AFN, während kein Befragter in Herat und Balkh mehr als 10.000 AFN für Miete zahlte (ATR/STDOK 18.01.2022). [...]
Arbeitsmarkt
Letzte Änderung: 27.01.2022
Jeder vierte Afghane ist offiziell arbeitslos, viele sind unterbeschäftigt. Rückkehrer - etwa 1,5 Mio. in den letzten zwei Jahren - und eine ähnliche Zahl von Binnenvertriebenen erhöhen den Druck auf den Arbeitsmarkt zusätzlich (UNDP 30.11.2021).
Vor der Machtübernahme durch die Taliban war der Arbeitsmarkt durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (STDOK 10.2020; vgl. Ahmend 2018; CSO 2018). 80% der afghanischen Arbeitskräfte befanden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“ mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen (AAN 03.12.2020; vgl.: CSO 2018). Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten waren Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (AAN 03.12.2020).
Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen (AA 16.07.2020; vgl. IOM 18.03.2021), ebenso wie die Anzahl der prekär Beschäftigten (AAN 03.12.2020).
Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt (NSIA 01.06.2020; vgl. STDOK 10.2020). Am Arbeitsmarkt müssen jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (STDOK 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten bislang aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020, CSO 2018).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenig Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (CSO 08.06.2017). Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig (STDOK 21.07.2020; vgl. STDOK 13.06.2019, STDOK 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen, und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.06.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018).
Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor (CSO 2018; vgl. Haider/Kumar 2018): Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (CSO 2018).
Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag (IOM 18.03.2021). Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden (IOM 18.03.2021).
Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021
Das Personal der Streitkräfte, vor allem des Verteidigungsministeriums, des Innenministeriums und des nationalen Sicherheitsministeriums, das auf etwa eine halbe Mio. Personen geschätzt wird, hat nach der Machtübernahme durch die Taliban keine Arbeit mehr (IPC 10.2021; vgl. RA KBL 08.11.2021). Die Arbeit von Tagelöhnern ist gleichgeblieben, allerdings ist es schwerer, Arbeit zu finden (RA KBL 08.11.2021). Auch viele Mitarbeiter des Gesundheitssystems haben mit Stand November 2021 seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten (MSF 10.11.2021; vgl. IPC 10.2021).
Das UNDP (United Nations Development Program) erwartet, dass sich die Arbeitslosigkeit in den nächsten zwei Jahren fast verdoppeln wird, während die Löhne Jahr für Jahr um 8 bis 10% sinken werden (UNDP 30.11.2021). Afghanische Arbeitnehmerinnen machten vor der Krise 20% der Beschäftigten aus. Die Beschränkungen für die Beschäftigung von Frauen werden sich sowohl auf die Wirtschaft als auch auf die Gesellschaft auswirken. Außerdem wird das Einkommen der Haushalte verringern, deren weibliche Mitglieder nun nicht mehr arbeiten, weniger arbeiten bzw. weniger verdienen, was zu einem Rückgang des Konsums auf der Mikroebene und der Nachfrage auf der Makroebene führen wird (UNDP 30.11.2021).
Die Markt- und Preisbeobachtung des Welternährungsprogramms (WFP) ergab einen drastischen Rückgang der Zahl der Arbeitstage für Gelegenheitsarbeiter in städtischen Gebieten: Im Juli waren es zwei Tage pro Woche, im August nur noch 1,8 Tage und im September nur noch ein Arbeitstag (IPC 10.2021). Die durchschnittliche Anzahl der Tage, an denen Gelegenheitsarbeiter Arbeit finden, lag Ende November 2021 bei 1,4 Tagen pro Woche (BAMF 29.11.2021).
Laut der saisonalen Bewertung der Ernährungssicherheit (SFSA) für das Jahr 2021 meldeten 95% der Bevölkerung Einkommenseinbußen, davon 76% einen erheblichen Einkommensrückgang (83% bei städtischen und 72% bei ländlichen Haushalten) im Vergleich zum Vorjahr. Die Hauptgründe waren ein Rückgang der Beschäftigung (42%) und Konflikte (41%) (IPC 10.2021).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie mit 300 Befragten gaben 58,3% der Befragten an, keine Arbeit zu haben oder bereits längere Zeit arbeitslos zu sein (Männer: 35,3%, Frauen: 81,3%). Was die Art der Beschäftigung betrifft, so gaben 62% der Befragten an, entweder ständig oder gelegentlich eine Vollzeitstelle zu haben, während 25% eine Teilzeitstelle hatten, 9% als Tagelöhner arbeiteten und 2% mehrere Teilzeit- oder Saisonstellen hatten. Die Mehrheit der Befragten (89,1%) gab an, ein Einkommensniveau von weniger als 10.000 AFN (100 USD) pro Monat zu haben. 8,7% der Befragten gaben an, ein Einkommensniveau zwischen 10.000 und 20.000 AFN (100-200 USD) pro Monat zu haben, und 2,2% stuften sich auf ein höheres Niveau zwischen 20.000 und 50.000 AFN (200-500 USD) pro Monat ein (ATR/STDOK 18.01.2022). [...]
Bank- und Finanzwesen
Letzte Änderung: 27.01.2022
Nach der Machtübernahme der Taliban wurden Bank- und Geldüberweisungsdienste weithin ausgesetzt. Aus Kabul wird berichtet, dass die Geldautomaten leer seien und Geldwechsel nicht möglich sei und dass einige Menschen seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten hätten. Vor den Banken bilden sich lange Schlangen, aber diese bleiben geschlossen. Die Taliban haben einen kommissarischen Leiter der Zentralbank ernannt, der helfen soll, die wirtschaftlichen Turbulenzen zu lindern (DW 24.08.2021). Laut einem Sprecher der Taliban sollen die Banken bald wieder öffnen (REU 25.08.2021). Nach Aussagen des Vorsitzenden der Bankiersgewerkschaft in der Hauptstadt Kabul hätten die Banken ihren Betrieb aufgrund technischer Probleme noch nicht wieder aufgenommen. Gerüchte, dass die Banken kein Bargeld mehr hätten, dementiert er und fügte hinzu, dass die Banken voraussichtlich in den nächsten Tagen wieder normale Dienstleistungen anbieten würden (AnA 28.08.2021).
Mit Stand November 2021 sind die Banken wieder geöffnet. Aktuell sind Einzahlungen, begrenzte Abhebungen sowie begrenzte inländische und (sehr) begrenzte internationale Überweisungen möglich. Geldautomaten sind geschlossen, und in den meisten Banken muss man in langen Schlangen warten, was einen halben oder ganzen Tag dauert, um die begrenzte Geldsumme abzuheben (RA KBL 08.11.2021. Aktuell kann man 30.000 AFN (ca. 400 USD) pro Woche abheben (RA KBL 08.11.2021; vgl. BAMF 08.11.2021). Bei Geldüberweisungen aus dem Ausland kann es sein, dass die Mittelsbank die Überweisung nicht zulässt. Überweisungen von Western Union und MoneyGram sind für Einzelpersonen auf 20.000 AFN (220 USD) pro Woche begrenzt und erfordern lange Warteschlangen (RA KBL 08.11.2021).
Anfang November 2021 hat die Taliban-Regierung die Nutzung fremder Währungen im Land verboten. Einzig der Afghani solle für den Zahlungsverkehr benutzt werden (BBC 02.11.2021; vgl. REU 02.11.2021).
Hawala-System
Über Jahrhunderte hat sich eine Form des Geldaustausches entwickelt, welche Hawala genannt wird. Dieses System, welches auf gegenseitigem Vertrauen basiert, funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig, und der Geldtransfer ist weltweit möglich. Hawala wird von den unterschiedlichsten Kundengruppen in Anspruch genommen: Gastarbeiter, die ihren Lohn in die Heimat transferieren wollen, große Unternehmen und Hilfsorganisationen bzw. NGOs, aber auch Terrororganisationen (WKO 2.2017; vgl. WB 2003, FA 07.09.2016).
Das System funktioniert folgendermaßen: Person A übergibt ihrem Hawaladar (X) das Geld, z.B. 10.000 Euro, und nennt ihm ein Passwort. Daraufhin teilt die Person A der Person B, die das Geld bekommen soll, das Passwort mit. Der Hawaladar (X) teilt das Passwort ebenfalls seinem Empfänger-Hawaladar (Y) mit. Jetzt kann die Person B einfach zu ihrem Hawaladar (Y) gehen. Wenn sie ihm das Passwort nennt, bekommt sie das Geld, z.B. in Afghani, ausbezahlt (WKO 2.2017; vgl. WB 2003).
So ist es möglich, auch größere Geldsummen sicher und schnell zu überweisen. Um etwa eine Summe von Peshawar, Dubai oder London nach Kabul zu überweisen, benötigt man sechs bis zwölf Stunden. Sind Sender und Empfänger bei ihren Hawaladaren anwesend, kann die Transaktion binnen Minuten abgewickelt werden. Kosten dafür belaufen sich auf ca. 1-2%, hängen aber sehr stark vom Verhandlungsgeschick, den Währungen, der Transaktionssumme, der Vertrauensposition zwischen Kunde und Hawaladar und nicht zuletzt von der Sicherheitssituation in Kabul ab. Die meisten Transaktionen gehen in Afghanistan von der Hauptstadt Kabul aus, weil es dort auch am meisten Hawaladare gibt. Hawaladare bieten aber nicht nur Überweisungen an, sondern eine ganze Auswahl an finanziellen und nicht-finanziellen Leistungen in lokalen, regionalen und internationalen Märkten. Beispiele für das finanzielle Angebot sind Geldwechsel, Spendentransfer, Mikro-Kredite, Tradefinance oder die Möglichkeit, Geld anzusparen. Als nichtmonetäre Leistungen können Hawaladare Fax- oder Telefondienste oder eine Internetverbindung anbieten (WKO 2.2017; vgl. WB 2003). […]
Rückkehr
Letzte Änderung: 27.01.2022
IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten (MENAFN 15.02.2021). Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan (USAID 12.01.2021; vgl. NH 26.01.2021). Im Jahr 2021 wurden bis August 759.046 undokumentierte Rückkehrer verzeichnet (USAID 27.08.2021).
Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.04.2020, Reach 10.2017). Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (VIDC 1.2021; vgl. IOM KBL 30.04.2020, MMC 1.2019, Reach 10.2017), da es ohne familiäre Netzwerke sehr schwer sein kann, sich selbst zu erhalten. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme, und der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.06.2019, IOM KBL 30.04.2020). Einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.04.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019).
Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.06.2019). Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte (STDOK 4.2018; vgl. VIDC 1.2021). Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren (VIDC 1.2021; vgl. STDOK 13.06.2019, STDOK 4.2018).
„Erfolglosen“ Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des „Versagens“ an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa (VIDC 1.2021; vgl. SFH 26.03.2021, Seefar 7.2018), was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird (VIDC 1.2021). Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen (AA 16.07.2021; vgl. SFH 26.03.2021). UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich (STDOK 13.06.2019; vgl. SFH 26.03.2021, VIDC 1.2021) und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (STDOK 13.06.2019).
IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.08.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. Zu Tätigkeiten vor Ort im Rahmen anderer Projekte (RADA, etc.) kann derzeit noch keine Rückmeldung gegeben werden (IOM AUT 08.09.2021; vgl. IOM 19.08.2021).
Die Taliban haben in öffentlichen Verlautbarungen im Ausland lebende Afghanen aufgefordert, nach Afghanistan zurückzukehren. Zum Umgang der Taliban mit Rückkehrern liegen keine Erkenntnisse vor (AA 21.10.2021). […]
Ethnische Gruppen
Letzte Änderung: 27.01.2022
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 37,5 Mio. Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 23.08.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 23.08.2021). Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42%), Tadschiken (ca. 27%), Hazara (ca. 9-20%) und Usbeken (ca. 9%), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2%) (AA 21.10.2021).
Neben den alten Blöcken der Islamisten und linksgerichteten politischen Organisationen [Anmerkung: welche oftmals vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan entstanden] mobilisieren politische Parteien in Afghanistan vornehmlich entlang ethnischer Linien, wobei letztere Tendenz durch den Krieg noch weiter zugenommen hat (AAN 24.03.2021; vgl. Karrell 26.01.2017). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.03.2021).
Die am 07.09.2021 gebildete Übergangsregierung der Taliban umfasste nur drei Vertreter der usbekischen bzw. der tadschikischen Minderheiten, durch weitere Ernennungen kamen mittlerweile wenige weitere, darunter ein Vertreter der Hazara, hinzu (AA 21.10.2021).
Darüber hinaus unterliegen - soweit bislang erkennbar - ethnische Minderheiten aber keiner grundsätzlichen Verfolgung durch die Taliban, solange sie deren Machtanspruch akzeptieren (AA 21.10.2021). [...]
Hazara
Letzte Änderung: 27.01.2022
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazarajat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).
Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri, Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.03.2019).
Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.05.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazarajat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.08.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.05.2021).
Die Lage der Hazara, die während der ersten Taliban-Herrschaft [1996-2001] besonders verfolgt waren, hat sich [bis zur erneuten Machtübernahme durch die Taliban im August 2021] grundsätzlich verbessert (AA 16.07.2021; vgl. FH 04.03.2020). Sie wurden jedoch weiterhin am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, fanden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 30.03.2021).
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.03.2018).
Während des gesamten Jahres 2020 und auch 2021 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Am 06.03.2021 griffen Bewaffnete eine Zeremonie in Kabul an, an der hauptsächlich schiitische Hazara teilnahmen, und töteten 32 Personen. Am 24.10.2020 tötete ein Selbstmordattentäter in einem Bildungszentrum in einem Hazara-Viertel von Kabul 40 Personen und verwundete 72 weitere. Der ISKP bekannte sich dazu. Viele der Opfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt (USDOS 30.03.2021). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen (USDOS 12.05.2021) wie im Mai 2021, als eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi explodierte, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 09.05.2021; vgl. RFE/RL 09.05.2021, BBC 09.05.2021).
In Randgebieten des Hazarajat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).
Im Juli 2021 berichtete AI (Amnesty International) über die Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni (AI 19.08.2021; vgl. BBC 20.08.2021) und im August 2021 sollen nach Angaben der NGO in der Provinz Daikundi 13 Angehörige der Hazara-Minderheit, darunter ein 17-jähriges Mädchen von den Taliban getötet worden sein (AI 05.10.2021; vgl. BBC 05.11.2021).
AI nimmt an, dass diese Tötungen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Todesopfer durch die Taliban darstellen, da die Gruppe in vielen Gebieten, die sie kürzlich erobert hat, die Mobilfunkverbindung gekappt hat und kontrolliert, welche Fotos und Videos aus diesen Regionen verbreitet werden (AI 19.08.2021).
Im Zuge der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 haben diese erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Sie haben insbesondere den überwiegend der schiitischen Konfession angehörigen Hazara, die während des ersten Talibanregimes benachteiligt und teilweise verfolgt wurden, Zusicherungen gemacht (AA 21.10.2021; vgl. WSJ 02.09.2021). Zum Nachweis haben die Taliban mit ihren Kämpfern die Ashura-Feierlichkeiten [Anmerkung: Gedenken des Martyriums von Imam Hussein, einem Enkel des Propheten Mohammed] am 19.08.2021 abgesichert und sich medienwirksam mit Hazara-Führern getroffen (AA 21.10.2021; vgl. AJ 19.08.2021). Nach Angaben des in London lebenden Journalisten und eines afghanischen Rechtsprofessors werden die Hazara in Afghanistan von vielen Taliban-Mitgliedern weiterhin als minderwertig angesehen, da sie schiitische Muslime sind. Die dänische Einwanderungsbehörde verweist in einem Bericht auf zwei Quellen, denen zufolge Hazara seit der Machtübernahme durch die Taliban beim Zugang zum Rechtssystem und zu Ressourcen diskriminiert werden (DIS 12.2021). Außerdem wurde die Hazara-Gemeinschaft weitgehend von der Übergangsregierung und anderen hochrangigen Positionen auf nationaler und provinzieller Ebene ausgeschlossen (DIS 12.2021; vgl. WP 01.11.2021).
Es gibt Berichte, dass Angehörige der Taliban beschuldigt werden, Zwangsumsiedlungen, vor allem unter Angehörigen der schiitischen Hazara, vorzunehmen, um das Land unter ihren eigenen Anhängern aufzuteilen. Die Quellen verweisen auf Vertreibungen in Daikundi, Uruzgan, Kandahar, Helmand und Balkh (HRW 22.10.2021; vgl. DIS 12.2021). In Helmand und Balkh wurden Anfang Oktober „Hunderte von Hazara-Familien“, und aus 14 Dörfern in Daikundi und Uruzgan im September mindestens 2.800 Hazara-Bewohner vertrieben (HRW 22.10.2021). Drei im Bericht der dänischen Einwanderungsbehörde zitierten Quellen zufolge zeigen diese Vertreibungen, dass die Taliban die Hazara zwar nicht systematisch verfolgen, sie aber auch nicht bereit sind, sie zu schützen (DIS 12.2021).
Die Hazara sind weiterhin besonders gefährdet, Opfer von Anschlägen des ISKP zu werden. Diese Anschläge waren bereits in der Vergangenheit häufig gegen überwiegend von Hazara genutzte Einrichtungen oder Wohnviertel gerichtet (AA 21.10.2021). Am 08. und 15.10.2021 kamen bei Selbstmordattentaten auf schiitische Moscheen zum Zeitpunkt des Freitagsgebets in Kunduz und Kandahar mehr als 100 Menschen ums Leben, zahlreiche weitere wurden verletzt (AA 21.10.2021; vgl. UNOCHA 14.10.2021, WP 15.10.2021). Der amtierende Außenminister der Taliban sagte zu, die Sicherheitsvorkehrungen für schiitische Moscheen zu verstärken (AA 21.10.2021; vgl. DIS 12.2021). [...]“
3.3.2. UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021
„Einleitung
1. Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern. UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghaninnen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen.
2. Aufgrund des Konflikts sind seit Anfang 2021 Schätzungen zufolge über 550.000 Afghaninnen innerhalb des Landes neu vertrieben worden, davon 126.000 neue Binnenvertriebene allein zwischen 7. Juli und 9. August 2021. Während es bis dato noch keine genauen Zahlen gibt, wie viele Afghaninnen das Land aufgrund der Kampfhandlungen und Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, haben Berichten zufolge zehntausende Afghaninnen in den letzten Wochen die Landesgrenzen überschritten.
Zugang zum Staatsgebiet und zu internationalem Schutz
3. Da die Situation in Afghanistan instabil und unsicher bleibt, fordert UNHCR alle Länder dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen. UNHCR weist auf die Notwendigkeit hin zu gewährleisten, dass das Recht, Asyl zu beantragen, nicht eingeschränkt wird, dass Grenzen offengehalten werden und dass Personen, die internationalen Schutzbedarf haben, nicht in Gebiete innerhalb ihres Herkunftslands zurückgedrängt werden, die möglicherweise gefährlich sind. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Staaten auch gemäß Völkergewohnheitsrecht verpflichtet sind, die Grenzen für die vor dem Konflikt fliehende Zivilbevölkerung offen zu halten und Flüchtlinge nicht zwangsweise zurückzuführen. Der Non-Refoulement-Grundsatz beinhaltet auch die Nicht-Zurückweisung an der Grenze.
4. Alle Anträge auf internationalen Schutz von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan sollten in fairen und effizienten Verfahren im Einklang mit internationalem und regionalem Flüchtlingsrecht behandelt werden. UNHCR ist besorgt, dass die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan zu einem Anstieg des internationalen Schutzbedarfs von Personen, die aus Afghanistan fliehen, führen - sei es als Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention oder regionalen Flüchtlingsabkommen, sei es als anderweitig international Schutzberechtigte. Das gleiche gilt für diejenigen, die sich bereits vor der jüngsten Eskalation der Gewalt in Afghanistan in Abnahmeländern befanden. Vor dem Hintergrund der volatilen Situation in Afghanistan begrüßt UNHCR den Schritt einiger Aufnahmeländer, Entscheidungen über den internationalen Schutzbedarf von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und zuverlässige Informationen über die Sicherheits- und Menschenrechtslage verfügbar sind, um den internationalen Schutzbedarf der einzelnen Antragsteller*innen zu prüfen. Aufgrund der Unbeständigkeit der Situation in Afghanistan hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsperspektive zu verwehren.
5. Bei Personen, deren Asylgesuch vor den jüngsten Geschehnissen abgelehnt wurde, kann die aktuelle Situation in Afghanistan zu einer Änderung der Umstände führen, die im Rahmen eines Folgeantrags zu berücksichtigen sind.
6. Es kann Personen geben, die mit Taten in Verbindung stehen, aufgrund derer sie unter die Ausschlussklauseln von Artikel 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. In diesen Fällen wird es notwendig sein, Fragen betreffend die persönliche Verantwortung für Verbrechen, die einen Ausschluss vom Flüchtlingsschutz begründen können, sorgfältig zu prüfen. Um den zivilen Charakter von Asyl zu bewahren, sollten Staaten zudem die Situation der Ankommenden sorgfältig prüfen, um bewaffnete Elemente zu identifizieren und diese von der geflüchteten Zivilbevölkerung zu trennen.
Empfehlung eines Abschiebestopps
7. Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der sich abzeichnenden humanitären Notlage fordert UNHCR die Staaten dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen - auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Ein Moratorium für zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan sollte bestehen bleiben, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und geprüft wurde, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würden. Die Hemmung von zwangsweisen Rückführungen stellt eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben muss, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert haben, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.
8. In Übereinstimmung mit den Zusagen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen im Rahmen des Globalen Flüchtlingsforums, die Verantwortung für den internationalen Flüchtlingsschutz gerecht aufzuteilen, hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanische Staatsangehörige und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan zwangsweise in Länder in der Region zurückzuführen, auch in Anbetracht der Tatsache, dass Länder wie der Iran und Pakistan jahrzehntelang großzügig die überwiegende Mehrheit der Gesamtzahl afghanischer Flüchtlinge weltweit aufgenommen haben.
9. UNHCR wird die Situation in Afghanistan weiterhin beobachten, um den internationalen Schutzbedarf, der sich aus der aktuellen Situation ergibt, zu prüfen.“
4. Beweiswürdigung:
Der Beweiswürdigung liegen folgende maßgebende Erwägungen zugrunde:
Der Verfahrensgang ergibt sich aus den zur gegenständlichen Rechtssache vorliegenden Verfahrensakten des BFA und des BVwG.
4.1. Zur Person des BF:
Die Feststellungen zur Identität des BF ergeben sich aus seinen Angaben vor dem BFA und im Beschwerdeverfahren.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und Herkunft, insbesondere zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie zu den Lebensumständen des BF, stützen sich auf die diesbezüglich glaubhaften Angaben des BF im Verfahren vor dem BFA und im Beschwerdeverfahren und auf die Kenntnis und Verwendung der Sprache Dari sowie die Kenntnis der geografischen Gegebenheiten Afghanistans.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen sich auf die Vorlage medizinischer Unterlagen und diesbezüglich widerspruchsfreie Angaben des BF.
Die Identität des BF steht mit für das Verfahren ausreichender Sicherheit fest.
4.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Die Feststellungen zu den Gründen des BF für das Verlassen seines Heimatstaates stützen sich auf die von ihm vor dem BFA und im Beschwerdeverfahren getroffenen Aussagen.
Der BF brachte bei seiner Erstbefragung und in der Einvernahme vor dem BFA vor, dass die Taliban Afghanistan nunmehr übernommen hätten. Sie würden Hazara und Schiiten töten, daher könne er dort nicht leben. Zudem leide er an psychischen und physischen Krankheiten. Damit brachte der BF kein konkretes und individuelles Verfolgungsvorbringen vor.
Den Länderinformationen der Staatendokumentation des BFA vom 28.01.2022 ist zu entnehmen, dass ethnische Minderheiten (wie die Hazara) keiner grundsätzlichen Verfolgung durch die Taliban unterliegen, solange sie deren Machtanspruch akzeptieren.
Es ist festzuhalten, dass zwar aus den bisherigen Ausführungen in der Länderinformation hervorgeht, dass Hazara in Afghanistan Diskriminierungen ausgesetzt sind, jedoch lässt sich daraus nach Ansicht des BVwG nicht ableiten, dass diese Gefährdung ein Ausmaß erreicht, das die Annahme rechtfertigen würde, dass in Afghanistan lebende schiitische Hazara wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen und religiösen Minderheit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung zu befürchten hätten.
Weitere Verfolgungsgründe wurden von Seiten des BF nicht vorgebracht.
Aus einer Gesamtschau der oben angeführten Angaben des BF im gesamten Verfahren ergibt sich somit, dass der BF mit dem genannten Vorbringen eine im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bestehende Verfolgungsgefahr nicht glaubhaft gemacht hat. Es konnte weder eine konkret gegen die Person des BF gerichtete asylrelevante Verfolgung festgestellt werden, noch sind im Verfahren sonst Anhaltspunkte hervorgekommen, die eine mögliche Verfolgung im Herkunftsstaat für wahrscheinlich erscheinen lassen hätten.
Von weiteren Erhebungen im Herkunftsland konnte daher Abstand genommen werden. Da weitere Fluchtgründe weder behauptet wurden, noch von Amts wegen hervorgekommen sind, konnte eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht werden.
4.3. Zu den Länderfeststellungen:
Die diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderfeststellungen (siehe oben Punkt 3.3.) gründen sich auf Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Personen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes und schlüssiges Gesamtbild der Situation in Afghanistan ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der überwiegend übereinstimmenden Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem BVwG von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation fallrelevant nicht wesentlich geändert haben.
Die Verfahrensparteien haben diese Feststellungen nicht bestritten.
5. Rechtliche Beurteilung:
5.1. Anzuwendendes Recht:
Gegenständlich sind die Verfahrensbestimmungen des AVG, des BFA-VG, des VwGVG und jene im AsylG enthaltenen sowie die materiellen Bestimmungen des AsylG in der geltenden Fassung samt jenen Normen, auf welche das AsylG verweist, anzuwenden.
Mit 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der geltenden Fassung) und auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.
Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG, BGBl. I Nr. 10/2013 in der geltenden Fassung, entscheidet das BVwG durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß § 15 AsylG hat der Asylwerber am Verfahren nach diesem Bundesgesetz mitzuwirken und insbesondere ohne unnötigen Aufschub seinen Antrag zu begründen und alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.
Gemäß § 18 AsylG hat die Behörde in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Bescheinigungsmittel für die Angaben bezeichnet oder die angebotenen Bescheinigungsmittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Bescheinigungsmittel auch von Amts wegen beizuschaffen.
5.2. Rechtlich folgt daraus:
Zu Spruchteil A):
5.2.1. Die gegenständliche, zulässige und rechtzeitige Beschwerde wurde am 21.01.2022 fristgerecht beim BFA eingebracht und ist nach Vorlage am 28.01.2022 beim BVwG eingegangen. Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des BVwG zuständigen Einzelrichter.
5.2.2. Das BVwG stellt weiters fest, dass das Verwaltungsverfahren in wesentlichen Punkten rechtmäßig durchgeführt wurde.
5.2.3. Zur Beschwerde:
Dem Vorbringen in der Beschwerde des BF war mangels Glaubhaftmachung einer aktuellen, konkreten und individuellen Verfolgung – wie auch einer Gruppenverfolgung – kein Erfolg beschieden.
5.2.4. Zum angefochtenen Spruchpunkt I. des Bescheides (§ 3 AsylG, Asyl):
5.2.4.1. Gemäß § 3 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist und glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes; Neufassung) verweist.
Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. z.B. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031 u.a.). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde.
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031 u.a.). Für eine „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; VwGH 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr – Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung – bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; vgl. auch VwGH 16.02.2000, 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose.
Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. dazu VwGH 09.03.1999, 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99720/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorherigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183; VwGH 18.02.1999, 98/20/0468). Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, 94/18/0263; VwGH 01.02.1995, 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht – diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann –, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).
Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, 98/01/0370; VwGH 22.10.2002, 2000/01/0322).
Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. „inländische Fluchtalternative“ vor. Der Begriff „inländische Fluchtalternative“ trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 08.09.1999, 98/01/0503 und 98/01/0648).
Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (vgl. z.B. VwGH 24.03.1999, 98/01/0352 mwN; VwGH 15.03.2001, 99/20/0036; VwGH 15.03.2001, 99/20/0134). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen – mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates – im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer „inländischen Flucht- oder Schutzalternative“ (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614, VwGH 29.03.2001, 2000/20/0539).
Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße – möglicherweise vorübergehende – Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände im Sinne des Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, 98/20/0399; VwGH 03.05.2000, 99/01/0359).
5.2.4.2. Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des BF, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, nicht begründet ist:
Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einem in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft.
Eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen konnte vom BF jedoch nicht glaubhaft gemacht werden.
Das Verlassen des Herkunftsstaates aus persönlichen Gründen oder wegen der dort vorherrschenden prekären Lebensbedingungen stellt keine relevante Verfolgung im Sinne der GFK dar. Auch Nachteile, die auf die in einem Staat allgemein vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen zurückzuführen sind, stellen keine Verfolgung im Sinne der GFK dar.
Überdies ist darauf hinzuweisen, dass dem BF auf Grund der aktuellen Lage in Afghanistan und seiner individuellen Situation bereits der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist.
Da der BF eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft machen konnte, liegt die Voraussetzung für die Gewährung von Asyl, nämlich die Gefahr einer aktuellen Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe, nicht vor.
Daher war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG als unbegründet abzuweisen.
Zu Spruchteil B):
Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 in der geltenden Fassung, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt.
Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des VwGH ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des VwGH bezüglich Glaubhaftmachung asylrelevanter Verfolgungsgründe auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind somit weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden, noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen, zumal im vorliegenden Fall vornehmlich die Klärung von Sachverhaltsfragen maßgeblich für die zu treffende Entscheidung war.
Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zum Teil zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich weitestgehend gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
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