OGH 12Os88/24v

OGH12Os88/24v9.1.2025

Der Oberste Gerichtshof hat am 9. Jänner 2025 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger als Vorsitzende sowie die Hofräte und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Oshidari, Dr. Haslwanter LL.M., Dr. Sadoghi und Dr. Farkas in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Prieth in der Strafsache gegen Dr. * L* wegen Verbrechen der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 4 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung der Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 13. November 2023, GZ 9 Hv 26/23d‑193, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0120OS00088.24V.0109.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde und aus deren Anlass wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch zur Gänze, demzufolge auch im Strafausspruch, im Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche (einschließlich der Feststellungen gemäß § 69 Abs 1 StPO) und im Verfallserkenntnis aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Graz verwiesen.

Mit ihren Berufungen werden die Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde – soweit hier relevant – Dr. * L* der Verbrechen der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs 4 StGB (I) und des Vergehens des schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2, 148 erster Fall, 15 StGB (II) schuldig erkannt.

[2] Danach hat sie in W*

(I) nachgenannte Personen durch die angeführten, medizinisch nicht indizierten Behandlungen vorsätzlich am Körper verletzt und vorsätzlich an der Gesundheit geschädigt und dadurch eine „jeweils länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung“ jener herbeigeführt, und zwar „in wiederholten Angriffen“

(1) in den Jahren 2016 bis zumindest 2019 * G*durch die medizinisch nicht indizierte Entfernung von Zähnen und Implantatsetzungen „in zu großem Ausmaß (betroffen sind die Zähne 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 31, 32, 33, 34, 35, sowie 41, 42, 43, 44, 45, 46 und 47)“ sowie die Vornahme medizinisch nicht indizierter chirurgischer Begleitmaßnahmen (Schleimhauttransplantationen, Vestibulumplastik);

(2) im Zeitraum Oktober 2016 bis Dezember 2018 * B*durch das medizinisch nicht indizierte Einsetzen von Inlays bei den Zähnen 14, 17, 18, 24, 25, 27 und 28, womit eine nicht erforderliche Abtragung von Zahnsubstanz einherging;

(3) am 13. April 2017 * K*durch das medizinisch nicht indizierte Einsetzen von Inlays bei Zahn 27, womit eine nicht erforderliche Abtragung von Zahnsubstanz einherging;

(4) im Zeitraum Februar 2018 bis Juni 2018 Michael Kö*durch die Vornahme von medizinisch nicht indizierten „Füllungsmaßnahmen“ bei den Zähnen 27, 36, 37, 38, 47, womit eine nicht erforderliche Abtragung von Zahnsubstanz einherging;

(5) im August 2018 * J*durch die medizinisch nicht indizierte Vornahme einer Kauflächenfüllung am Zahn 24, womit eine nicht erforderliche Abtragung von Zahnsubstanz einherging;

(6) im Frühling 2019 * S*durch das medizinisch nicht indizierte Einsetzen von Onlays bei den Zähnen 17 und 16 im rechten Oberkiefer und dem „Versuch der Durchführung von Füllungsmaßnahmen“ am Zahn 11, womit eine nicht erforderliche Abtragung von Zahnsubstanz einherging;

(7) am 21. August 2019 * Kn*durch das medizinisch nicht indizierte Einsetzen eines Inlays bei Zahn 17, womit eine nicht erforderliche, ausgedehnte Zerstörung von Zahnsubstanz einherging;

(8) im Dezember 2019 * R*durch das medizinisch nicht indizierte Einsetzen von Inlays und Onlays bei den Zähnen 17, 24, 35 und 47, womit eine nicht erforderliche, ausgedehnte Zerstörung von Zahnsubstanz einherging;

(9) am 4. März 2020 * Ku*durch die medizinisch nicht indizierte Vornahme von „Füllungsmaßnahmen“ bei den Zähnen 24, 26 und 27, womit eine nicht erforderliche Abtragung von Zahnsubstanz einherging;

(10) im Frühjahr 2020 K* H*durch das medizinisch nicht indizierte Einsetzen von Inlays und Onlays bei den Oberkieferseitenzähnen 14, 15, 17, 24, 25, 26, 27, womit eine nicht erforderliche, ausgedehnte Zerstörung von Zahnsubstanz einherging;

(II) nachgenannte Personen mit dem Vorsatz, sich oder einen Dritten durch das Verhalten der Getäuschten unrechtmäßig zu bereichern, durch Täuschung über Tatsachen, nämlich teilweise durch die wahrheitswidrige Behauptung, dass eine „Sanierungsbedürftigkeit schadhafter Zähne vorliegen würde und die zu I angeführten Behandlungen medizinisch indiziert wären, teilweise durch die Vorspiegelung, verrechnete zahnärztliche Leistungen auch tatsächlich erbracht zu haben“, zu Handlungen, nämlich zu nachangeführten Zahlungen verleitet oder zu verleiten versucht, die sie insgesamt in einem 5.000 Euro übersteigenden Betrag von 49.280 Euro am Vermögen schädigten oder schädigen sollten, wobei sie in der Absicht handelte, sich durch die wiederkehrende Begehung derartiger Betrugshandlungen über eine längere Zeit von mehreren Jahren (US 15 und 75) ein fortlaufendes, bei einer jährlichen Durchschnittsbetrachtung monatlich den Betrag von 400 Euro übersteigendes Einkommen zu verschaffen, und sie bereits mehr als zwei solche Taten begangen hat, und zwar

(1) anlässlich der zu Punkt I/1 geschilderten Behandlungen G*zur Zahlung von insgesamt zumindest 30.000 Euro;

(2) anlässlich der zu (richtig) Punkt I/2 geschilderten Behandlungen B*zur Zahlung von 3.820 Euro;

(3) anlässlich der zu Punkt I/3 geschilderten Behandlung K*zur Zahlung von 800 Euro;

(4) anlässlich der zu Punkt I/4 geschilderten Behandlungen Kö*zur Zahlung von 2.000 Euro;

(5) anlässlich der zu Punkt I/5 geschilderten Behandlung und „ebenfalls im August 2018 durch das Verrechnen von nicht erforderlichen Kauflächenfüllungen“ (vgl aber US 32) bei zwei Zähnen J*zur Zahlung von 160 Euro;

(6) anlässlich der zu Punkt I/6 geschilderten Behandlungen S*zur Zahlung von 1.000 Euro;

(7) anlässlich der zu Punkt I/7 geschilderten Behandlung Kn*zur Zahlung von 500 Euro;

(8) anlässlich der zu Punkt I/8 geschilderten Tathandlungen R*zur Zahlung von insgesamt zumindest 1.000 Euro;

(9) anlässlich der zu Punkt I/9 geschilderten Tathandlungen Ku*zur Zahlung von insgesamt zumindest 1.000 Euro;

(10) anlässlich der zu Punkt I/10 geschilderten Tathandlungen K* H*zur Zahlung von insgesamt zumindest 2.000 Euro sowie im Frühjahr 2020 durch das Angebot medizinischnicht indizierter Füllungsmaßnahmen bei mehreren Zähnen des Unterkiefers zur Zahlung eines nicht näher bekannten Betrags von 3.000 Euro, wobei es aufgrund eines Behandlungsabbruchs beim Versuch blieb;

(11) im Mai 2020 durch das Angebot einer medizinisch nicht indizierten Sanierung mehrerer Zähne durch Vortäuschung eines Kariesbefalls V* H*zur Zahlung von 4.000 Euro, wobei es aufgrund der Nichtinanspruchnahme der Behandlung beim Versuch blieb.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 5, 5a, 8, 9 lit a und 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten.

[4] Zutreffend zeigt die Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) zu I/10 und II/10 des Schuldspruchs eine unvollständige Begründung der Feststellungen zum Fehlen medizinischer Indikation der bei K* H* lege artis durchgeführten Behandlungen (US 45 und 47) auf. Die Tatrichter setzten sich nämlich mit der (in den Entscheidungsgründen bloß erwähnten [US 55; vgl aber 14 Os 84/12b; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 429]) Verantwortung der Angeklagten, dass die Behandlungen medizinisch notwendig gewesen seien (ON 166 S 3, ON 167 S 28 bis 30), nicht auseinander.

[5] Gleichfalls im Recht ist die Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) mit dem zu II/11 des Schuldspruchs erhobenen Einwand unvollständiger Begründung der Feststellungen, wonach die Angeklagte V* H* zur Inanspruchnahme einer Behandlung mehrerer kariöser Zähne zu einem Honorar von zumindest 4.000 Euro zu verleiten versuchte (US 49 f). Denn die Tatrichter ließen die Verantwortung der Angeklagten, dass sie den Zustand der Zähne zwar befundet, nicht aber die Behandlung mehrerer Zähne wegen Karies zu einem Honorar von 4.000 Euro angeboten habe (ON 167 S 30 f), unerörtert (vgl im Übrigen zur Unterscheidung zwischen bloß vorbereitender, nicht ausführungsnaher Täuschung und den Willensentschluss des Getäuschten mitbestimmender Täuschung RIS‑Justiz RS0130106; Kirchbacher/Sadoghi in WK² StGB § 146 Rz 124 f; Bauer/Plöchl in WK² StGB §§ 15, 16 Rz 221).

[6] Die sofortige Aufhebung des Schuldspruchs zu I/10, II/10 und II/11 bereits bei der nichtöffentlichen Beratung war Folge dieser Begründungsmängel (§ 285e StPO).

 

Zur amtswegigen Maßnahme:

[7] Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde überzeugte sich der Oberste Gerichtshof, dass dem übrigen Schuldspruch – wie von der Generalprokuratur zutreffend aufgezeigt – nicht geltend gemachte Rechtsfehler mangels Feststellungen (Z 9 lit a) zum Nachteil der Angeklagten anhaften, die von Amts wegen wahrzunehmen waren (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO).

[8] Schwere Körperverletzung nach § 84 Abs 4 StGB setzt voraus, dass der Täter durch die Tat, wenn auch nur fahrlässig, eine schwere Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung (§ 84 Abs 1 StGB) des anderen herbeiführt. Bei (wie hier) Tatmehrheit ist hinsichtlich dieser Folgen jede Tat für sich zu betrachten, weil eine gesamthafte (rechtliche) Beurteilung der Verletzungen oder Gesundheitsschädigungen derselben Person durch verschiedene Taten desselben Täters unzulässig ist (Burgstaller/Schütz in WK² StGB § 84 Rz 28; vgl 9 Os 183/77, EvBl 1978/168).

[9] Eine einzige Tat (im materiellen Sinn) ist im hier gegebenen Zusammenhang jede (medizinische) Behandlung für sich und dies unabhängig von der Anzahl der im Zuge dieser Behandlung (gegebenenfalls auch durch chirurgische Maßnahmen) medizinisch versorgten Zähne. Ebenfalls eine einzige Tat (im materiellen Sinn) stellen mehrere von vornherein festgelegte (tatbestandliche) Behandlungsschritte auf Grundlage eines Behandlungsplans dar, mögen diese auch an unterschiedlichen Tagen stattfinden. Diesfalls wäre nämlich von einer Tatbegehung durch Annäherung an den tatbestandsmäßigen Erfolg durch Einzelakte bei einheitlicher Tatsituation und gleicher Motivationslage und damit von einer tatbestandlichen Handlungseinheit auszugehen (zum Begriff vgl RIS-Justiz RS0120233; Ratz in WK² StGB Vor §§ 28–31 Rz 89).

[10] Treten § 84 Abs 1 StGB zu subsumierende Tatfolgen nicht ein, kommt (Versuchs‑)Strafbarkeit nach § 84 Abs 4 StGB nur in Betracht, wenn sich der Vorsatz des Täters auf deren Herbeiführung erstreckte (vgl RIS-Justiz RS0131591).

[11] Davon ausgehend ist hinsichtlich der (rechtlichen) Unterstellung von Tatfolgen unter eine der Varianten des § 84 Abs 1 StGB im hier gegebenen Zusammenhang Folgendes zu beachten:

[12] Medizinisch nicht indiziertes Abtragen von Zahnsubstanz oder Entfernen eines Zahns erfüllt wegen der damit verbundenen Substanzbeeinträchtigung das Tatbestandsmerkmal einer Verletzung am Körper (vgl zu ärztlichen Eingriffen Burgstaller/Schütz in WK² StGB § 83 Rz 32 f mit Hinweis auf die hier verneinten Voraussetzungen des § 90 StGB).

[13] Die (rechtliche) Beurteilung einer an sich schweren Verletzung (§ 84 Abs 1 StGB) bedarf einer wertenden Betrachtung der durch die Tat im Einzelfall bewirkten Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Gebisses. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Anzahl der verletzten Zähne, deren Zustand (vgl dazu insbesondere US 16 ff betreffend Vorerkrankungen von G*), ihre Funktion im Gebiss und das Vorhandensein von Antagonisten (vgl RIS‑Justiz RS0092546). Verliert das Gebiss des Verletzten etwa die zuvor vorhanden gewesene Kauffähigkeit, liegt eine an sich schwere Verletzung vor (vgl 11 Os 186/82). Der Umstand, dass die Funktionsfähigkeit des Gebisses durch Ersatz abgetragener Zahnsubstanz durch (hier) Keramikfüllungen (oder Ähnliches) oder Ersatz gerissener Zähne durch (hier) Implantate wiederherstellbar ist, hat hingegen bei Beurteilung einer an sich schweren Verletzung (oder Gesundheitsschädigung) außer Betracht zu bleiben (vgl Burgstaller/Schütz in WK² StGB § 84 Rz 24).

[14] Gesundheitsschädigung setzt eine körperliche oder seelische Funktionsstörung voraus, die Krankheitswert im medizinischen Sinn hat (vgl RIS‑Justiz RS0092510; 11 Os 160/93 [pathologische Veränderung des Körpers]; 13 Os 82/02 [medizinischer Krankheitswert]; ErläutRV 30 BlgNR 13. GP  212 [Herbeiführung oder Verschlimmerung einer Krankheit]; Birklbauer/Lehmkuhl/Tipold, Strafrecht BT I6 § 83 Rz 8; Burgstaller/Schütz in WK² StGB § 83 Rz 9 f; vgl auch 11 Os 42/87, wo ein Bänderriss im Sprunggelenk als eine an sich schwere Verletzung beurteilt und die mit dem Tragen eines Gipsverbands einhergehende Bewegungseinschränkung als „Gesundheitsstörung“ bezeichnet wird).

[15] Schmerzen haben (auch ohne Objektivierung einer pathologischen Veränderung des Körpers) die Qualität einer Schädigung an der Gesundheit, wenn ein vom Opfer als Leiden empfundener Schmerzzustand von einiger Dauer vorliegt, welcher die Einwirkung auf seinen Körper überdauert und solcherart einer krankheitswertigen körperlichen oder seelischen Störung entspricht (12 Os 103/17i, 13 Os 96/12k, 12 Os 140/87; Burgstaller/Fabrizy in WK² StGB § 83 Rz 10 und 12; Leukauf/Steininger/Nimmervoll/Stricker, StGB4 update 2020 § 83 Rz 10a; Kienapfel/Schroll BT I5 § 83 Rz 15 und 17; Messner, SbgK § 83 Rz 58, jeweils mwN; vgl RIS-Justiz RS0092475, RS0092661, RS0092612; vgl zur älteren Rsp, die Schmerzen lediglich eine Indizfunktion zuerkannte 11 Os 176/01, 14 Os 193/94, 13 Os 150/93).

[16] Das Erstgericht nahm in rechtlicher Hinsicht zu I des Schuldspruchs jeweils eine länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung an. Ausgehend von den dargestellten Grundsätzen tragen die Entscheidungsgründe diese Beurteilung jedoch nicht:

 

Schuldspruch zu I/1:

[17] Nach dem Urteilssachverhalt entfernte die Angeklagte der Patientin im Behandlungszeitraum 4. Mai 2016 (US 15) bis Februar 2021 (US 16) 28 im Urteil bezeichnete Zähne (US 15 iVm US 18) und ersetzte sie durch Implantate. Eine medizinische Indikation lag nur bei zwei Zähnen vor (US 18). Offenbar gemeint begleitend zu den Zahnextraktionen nahm die Angeklagte teilweise medizinisch nicht indizierte Maßnahmen vor (US 20). Wie viele Behandlungen die Angeklagte durchführte und welche Zähne bei welcher Behandlung entfernt wurden, ergibt sich aus den Entscheidungsgründen nicht. Ebenso unklar ist, ob die Angeklagte nach einem bestimmten Behandlungsplan vorging. Auch zu den Auswirkungen der jeweiligen Tat (im materiellen Sinn) auf die Funktionsfähigkeit des Gebisses fehlen Feststellungen und sind die konstatierten Schmerzperioden (US 21) nicht einer bestimmten Tat (im materiellen Sinn) zuordenbar.

[18] Diese Sachverhaltsgrundlage lässt daher die rechtliche Annahme einer (durch eine einzige Tat herbeigeführten) an sich schweren Verletzung (oder Gesundheitsschädigung) oder einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung nicht zu.

[19] Weiters ist den Entscheidungsgründen nicht zu entnehmen, dass der Vorsatz der Angeklagten die Herbeiführung einer „länger als 24 Tage dauernde[n] Gesundheitsschädigung“ (US 21) durch eine bestimmte Tat (im materiellen Sinn) umfasste (vgl im Übrigen zur bloßen Wiedergabe der verba legalia RIS‑Justiz RS0119090).

[20] Hinsichtlich des medizinisch nicht indizierten Abtragens von Zahnsubstanz bei den Zähnen 34 und 35 (vgl demgegenüber das Referat der entscheidenden Tatsachen, wo eine Verletzung am Körper durch eine solche Behandlung nicht genannt wird [US 2]) mangelt es den Entscheidungsgründen generell an Ausführungen zur subjektiven Tatseite.

[21] Im zweiten Rechtsgang wird im Fall der Nachweisbarkeit einer (vorsätzlichen oder fahrlässigen) Verletzung am Körper oder Schädigung an der Gesundheit durch medizinisch nicht indizierte oder nicht lege artis durchgeführte Zahnextraktionen zu berücksichtigen sein, dass bei medizinischer Indikation des Ersatzes gerissener Zähne durch Implantate die mit einer solchen ordnungsgemäßen medizinischen (und deshalb für sich nicht tatbildlichen [vgl Burgstaller/Schütz in WK² StGB § 83 Rz 31]) Behandlung verbundenen Beeinträchtigungen den Zahnentfernungen zurechenbar sind (Burgstaller/Schütz in WK² StGB § 84 Rz 8; vgl 11 Os 42/87 [Beeinträchtigungen der Bewegungsfreiheit durch einen Gipsverband], 11 Os 74/77 [Zahnspange]).

 

Schuldspruch zu I/2, I/4 und I/5:

[22] Das Erstgericht beurteilte den Verlust von Zahnsubstanz als Gesundheitsschädigung, die länger als 24 Tage dauerte (US 24, 28 und 31). Nach den Urteilskonstatierungen ersetzte die Angeklagte die abgetragene Zahnsubstanz durch Inlays (US 23 und 30 f) oder nahm „Füllungsmaßnahmen“ vor (US 28). Ob das Abtragen der Zahnsubstanz (allenfalls je eine Tat im materiellen Sinn) zu einer Funktionsstörung des Gebisses geführt hat, ergibt sich aus den Entscheidungsgründen nicht. Demzufolge auch nicht ihre für die Subsumtion nach § 84 Abs 1 erster Fall StGB entscheidende Dauer, bei deren Bestimmung überdies (im Gegensatz zur Beurteilung der Rechtsfrage nach einer an sich schweren Verletzung oder Gesundheitsschädigung) der Zeitpunkt der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit durch „Füllungsmaßnahmen“ sowie Einsetzen von Inlays und Onlays zu berücksichtigen wäre. Die (jeweilige) Wiedergabe der verba legalia des § 84 Abs 1 erster Fall StGB (hinsichtlich der objektiven und subjektiven Tatseite [zu letzterer US 25, 28 f und US 31]) ist somit ohne Sachverhaltsbezug geblieben (vgl aber erneut RIS‑Justiz RS0119090).

[23] Mangelnde Feststellungen zu einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Gebisses stehen im Übrigen auch der (grundsätzlich denkbaren) rechtlichen Annahme einer an sich schweren Verletzung (§ 84 Abs 1 dritter Fall StGB) entgegen.

 

Schuldspruch zu I/3, I/6, I/7, I/8 und I/9:

[24] Auch hier beurteilte das Erstgericht das Abtragen von Zahnsubstanz als Gesundheitsschädigung, die länger als 24 Tage dauerte, und konstatierte zur Klärung der privatrechtlichen Ansprüche Schmerzperioden (vgl zu deren Einordnung als bloße Berechnungshilfe RIS-Justiz RS0122794). Zusätzlich stellten die Tatrichter zu I/6, I/7 und I/8 des Schuldspruchs „Kälteschmerzen“ (oder auch „Kältebeschwerden“, „Druckempfindlichkeit“, „Temperaturempfindlichkeit“) fest (US 33, 34, 36 f, 40 und 41). Was darunter zu verstehen ist und wie sich diese Schmerzen konkret ausgewirkt haben, ob also ein als Leiden empfundener Schmerzzustand von einiger Dauer im eingangs dargelegten Sinn vorlag, ergibt sich jedoch nicht.

[25] Hinsichtlich der subjektiven Tatseite ist zu berücksichtigen, dass sich die Feststellungen auch hier (jeweils) auf die Wiedergabe der verba legalia beschränken und deshalb keinen Sachverhaltsbezug aufweisen (US 26, 34 f, 37, 41 und 44; vgl abermals RIS-Justiz RS0119090).

Im Einzelnen ist darüber hinaus Folgendes zu bemerken:

 

* K* (Schuldspruch zu I/3):

[26] Nach den Urteilskonstatierungen erlitt K* gerafft 30 Tage leichte Schmerzen (US 26, vgl auch ON 81 S 76, wonach K* gegenüber dem Sachverständigen angab, unter „Kälteproblemen“ zu leiden), ohne dass klar wird, ob diese Schmerzen just auf jene Tat (im materiellen Sinn) zurückzuführen sind, im Zuge derer die Angeklagte den Zahn 27 medizinisch versorgte, oder auf die zahlreichen (medizinisch indizierten) Behandlungen (nicht genannter Art) im Zeitraum November 2016 bis Mai 2017 (US 25; vgl ON 82 S 12, wo der Sachverständige die Schmerzperioden ohne Differenzierung nach Behandlungen [Taten im materiellen Sinn] gesamthaft ermittelte). Feststellungen zu Tatfolgen aufgrund des Abtragens von Zahnsubstanz beim Zahn 27, welche die rechtliche Beurteilung einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung tragen würden, enthalten die Entscheidungsgründe demnach nicht.

 

* S* (Schuldspruch zu I/6):

[27] Auch hier konstatierten die Tatrichter Schmerzperioden aufgrund von Kältebeschwerden (an anderen Urteilsstellen auch „Kälteschmerzen“ oder „Kälteempfindlich[keit]“; US 34). Da die Angeklagte zahlreiche Behandlungen bei S* durchführte, „extrem kälteempfindlich[e]“ Seitenzähne im rechten Oberkiefer in den Schmerzperioden Berücksichtigung fanden (US 34) und Behandlungen zweier Seitenzähne im rechten Oberkiefer Gegenstand eines Freispruchs waren (US 35), wird ebenfalls nicht deutlich, welche Behandlungen (und damit welche Tat im materiellen Sinn) kausal für die ermittelten Schmerzperioden waren.

[28] Hinsichtlich der in Aussicht genommenen Behandlung des Zahns 11 („oberer Frontzahn“) fehlen Feststellungen zu einer (zumindest) ausführungsnahen Handlung (§ 15 Abs 2 StGB), sodass der Urteilssachverhalt auch deshalb die Subsumtion dieser Tat (im materiellen Sinn) nach §§ 15, 84 Abs 4 StGB nicht trägt.

 

* Kn* (Schuldspruch I/7):

[29] Die Angeklagte versorgte neben dem Zahn 17 vier weitere konkret bezeichnete Zähne, hinsichtlich derer eine medizinische Indikation für „nicht zu beanstandende Behandlungen“ vorlag (US 36). Bei Kn* auftretende Kälteschmerzen seien beim Essen unangenehm (US 36). Ob diese kausal auf die Behandlung des Zahns 17 zurückzuführen sind, ergibt sich aus dem Urteil nicht (US 36 f), weil die Tatrichter lediglich Schmerzen im Zuge eines Vitalitätstests konstatierten (US 37). Demzufolge sind die festgestellten Schmerzperioden nicht der Behandlung des Zahns 17 zuordenbar.

 

* R* (Schuldspruch zu I/8):

[30] Die Angeklagte führte bei R* eine Vielzahl von Behandlungen durch, von denen nur ein geringer Teil Gegenstand des Schuldspruchs ist. Vergleichbar mit dem Schuldspruch zu I/6 konstatierten die Tatrichter auch hier Schmerzperioden aufgrund von Kältebeschwerden (an anderen Urteilsstellen auch „Temperaturempfindlichkeit“ oder „Druckempfindlichkeit“; US 40 f), ohne klarzumachen, auf welche Behandlung (Tat im materiellen Sinn) diese zurückgehen.

 

* Ku* (Schuldspruch zu I/9):

[31] Die (rechtliche) Annahme einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung steht hier entgegen, dass „behandlungsbedingte Angaben“ von Schmerztagen nicht „möglich“ sind (US 44).

[32] Diese Rechtsfehler mangels Feststellungen erfordern die Aufhebung (auch) des übrigen Schuldspruchs zu I (vgl zur Einordnung des § 84 Abs 4 StGB als selbständige Qualifikation des § 83 Abs 1 StGB 13 Os 136/16y; zum nicht erfolgten Schuldspruch nach § 83 Abs 1 StGB vgl RIS-Justiz RS0115884) sowie des damit nach dem Urteilssachverhalt wegen der Täuschung allein (vgl demgegenüber den Urteilstenor, wo auch die Täuschung über die tatsächliche Durchführung einer Behandlung genannt ist) über die für die Subsumtion nach § 84 Abs 4 StGB entscheidende medizinische Indikation der Behandlungen in untrennbarem Zusammenhang (§ 289 StPO) stehenden (übrigen) Schuldspruchs zu II.

[33] Zusammengefasst waren somit teils in Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde, teils aus deren Anlass (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO) der gesamte Schuldspruch, demzufolge der Strafausspruch, der Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche (einschließlich der Feststellungen gemäß § 69 Abs 1 StPO; vgl RIS-Justiz RS0101311 [T3] und RS0100510 [T2]) und das auf Schuldspruch zu II beruhende (US 76) Verfallserkenntnis bereits bei der nichtöffentlichen Beratung (§ 285e StPO) sofort aufzuheben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zu verweisen.

[34] Ein Eingehen auf das Beschwerdevorbringen zu den von der amtswegigen Maßnahme betroffenen Teilen des Schuldspruchs und zum Verfallserkenntnis erübrigt sich daher. Im Übrigen wird zur behaupteten Anklageüberschreitung klarstellend festgehalten, dass die versuchte (betrügerische) Erlangung eines Honorars für die nicht stattgefundene Behandlung des Zahns 11 – im Gegensatz zu II/10 und II/11 des Schuldspruchs, die sich sich ebenfalls auf Betrug im Zusammenhang mit abgelehnten Behandlungen beziehen – nicht Gegenstand des Schuldspruchs zu II/6 war.

[35] Mit ihren Berufungen waren die Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung zu verweisen.

[36] Zufolge Aufhebung des gesamten Schuldspruchs und damit auch des vom Erstgericht gefällten Kostenersatzausspruchs nach § 389 Abs 1 StPO fallen der Beschwerdeführerin keine Kosten des Rechtsmittelverfahrens im Sinn des § 390a Abs 1 StPO zur Last (RIS-Justiz RS0101342 [T4]; Lendl, WK-StPO § 390a Rz 7).

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