OGH 14Os193/94

OGH14Os193/9428.2.1995

Der Oberste Gerichtshof hat am 28. Februar 1995 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Walenta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Massauer, Dr. Ebner, Dr. E. Adamovic und Dr. Holzweber als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Schaffer als Schriftführer, in der Strafsache gegen Dr. Peter P* wegen des Vergehens der Unterlassung der Hilfeleistung nach § 95 Abs 1 StGB, AZ 3 U 186/92 des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis, über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen das Urteil des Landesgerichtes Ried im Innkreis als Berufungsgericht vom 14. Juni 1993, AZ 10 Bl 59/93, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Raunig, und des Verteidigers Dr. Tews, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1995:0140OS00193.9400000.0228.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Durch das Urteil des Landesgerichtes Ried im Innkreis als Berufungsgericht vom 14. Juni 1993, AZ 10 Bl 59/93 (= ON 40 des Aktes 3 U 186/92 des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis) ist das Gesetz verletzt worden.

Gemäß § 292 letzter Satz StPO wird dieses Urteil aufgehoben und die Berufung der Staatsanwaltschaft verworfen.

 

 

Gründe:

 

Mit dem Urteil des Bezirksgerichtes Ried im Innkreis vom 24. Februar 1993 (ON 32) wurde der praktische Arzt Dr. Peter P* vom Vorwurf, am 9. Jänner 1991 in Obernberg am Inn bei einem Unglücksfall als Arzt anläßlich der Behandlung der Patientin Sabine Therese N*, die einen ischämischen Insult im verlängerten Mark mit einer Tetraparese erlitten hatte, es unterlassen zu haben, die zur Rettung eines Menschen aus der Gefahr des Todes oder einer beträchtlichen Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung offensichtlich erforderliche Hilfe zu leisten, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Schon zuvor war das gegen Dr. Peter P* wegen §§ 88 Abs 1 und Abs 4 (81 Z 1), 94 StGB beim (damaligen Kreis‑ und nunmehrigen) Landesgericht Ried im Innkreis eingeleitete Strafverfahren gemäß § 90 Abs 1 StPO eingestellt worden (Beschluß des Untersuchungsrichters vom 5. August 1992, S 3 a verso).

Mit dem angefochtenen Urteil gab das Landesgericht Ried im Innkreis der Berufung der Staatsanwaltschaft, die sich allein gegen die Nichtannahme des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB richtete, Folge und sprach den Angeklagten nach Beweiswiederholung und ‑ergänzung dieses Vergehens schuldig.

Darnach hat der Angeklagte am 9. Jänner 1991 in Obernberg am Inn als behandelnder Arzt seiner Patientin Sabine Therese N* dadurch, daß er es unterlassen hat, deren Schmerzzustände, die sie im Zuge eines ischämischen Insults im verlängerten Mark mit einer Tetraparese erlitt, über einen Zeitraum von zumindest etwa zwei Stunden zu lindern und durch eine sofortige Einweisung in ein Krankenhaus abzukürzen, Sabine Therese N* fahrlässig an der Gesundheit geschädigt.

 

Rechtliche Beurteilung

Dieser Schuldspruch steht, wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes deshalb erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, mit dem Gesetz nicht in Einklang.

Zunächst ist zu prüfen, ob nicht die am 24. Juli 1992 von der Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis gegenüber dem Untersuchungsrichter des Landesgerichtes Ried im Innkreis gemäß § 90 Abs 1 StPO abgegebene Erklärung, zur (weiteren) Verfolgung des Dr. Peter P* (auch) wegen §§ 88 Abs 1 und Abs 4 (81 Z 1) StGB keinen Grund zu finden (vgl Antrags‑ und Verfügungsbogen, S 3 a verso), dem späteren, am 14. Juni 1993 vom Berufungsgericht ausgesprochenen Schuldspruch des Angeklagten Dr. P* entgegensteht. Da nämlich vor Abgabe der vorerwähnten Erklärung durch die Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis gegen Dr. Peter P* gerichtliche Vorerhebungen (auch) wegen des Vergehens nach §§ 88 Abs 1 und Abs 4 (81 Z 1) StGB geführt und der Genannte im Zuge dieser gerichtlichen Vorerhebungen hiezu vom Untersuchungsrichter auch als Beschuldigter gemäß § 38 Abs 3 StPO (und zwar als unter anderem auch dieser strafbaren Handlung Verdächtigter) vernommen worden war (vgl ON 4), wären nämlich ‑ Identität der von der Einstellungserklärung der Staatsanwaltschaft erfaßten Tat mit jener, die den nunmehrigen Schuldspruch des Angeklagten zum Gegenstand hatte, vorausgesetzt ‑ die Bedingungen des § 363 Z 1 StPO zur Fortsetzung des Verfahrens wegen dieser Straftat durch formlose Wiederaufnahme nicht gegeben gewesen; der vom Berufungsgericht gefällte Schuldspruch hätte in einem solchen Fall vielmehr nur durch eine formelle Wiederaufnahme des gemäß § 90 Abs 1 StPO abgeschlossenen Verfahrens gefällt werden dürfen. Eine solche formelle Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach § 352 StPO wurde aber nach der Aktenlage nicht verfügt.

Die Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis hat zwar bei Abgabe ihrer Einstellungserklärung den Sachverhalt, auf den sich diese Erklärung bezog, nicht näher präzisiert. Da sie aber zugleich auch die Bestrafung des Dr. Peter P* wegen § 95 (Abs 1) StGB beantragt hatte, läßt sich daraus mit ausreichender Deutlichkeit ableiten, daß jenes sich aus der Strafanzeige (ON 2) und den bis zu dieser Antragstellung (Erklärung) durchgeführten gerichtlichen Erhebungen ergebende, in einer Unterlassung der Hilfeleistung (im Sinne des § 95 StGB) gelegene Tatsachensubstrat von der Erklärung gemäß § 90 Abs 1 StPO nicht erfaßt sein konnte. Daraus folgt aber, daß die vorerwähnte Erklärung nur jene Fahrlässigkeitstat des Arztes Dr. Peter P* im Sinne der §§ 88 Abs 1 und Abs 4 (81 Z 1) StGB erfaßte, die sich (auch) aus der zunächst gegen ihn vorgelegenen Verdachtslage ergab, er könnte am 9. Jänner 1991 gegen 5.00 Uhr in der Früh durch eine allenfalls mit den Regeln der ärztlichen Kunst nicht im Einklang stehende (falsche) Behandlung seine Patientin Sabine Therese N* unter besonders gefährlichen Verhältnissen (§ 81 Z 1 StGB) an deren Gesundheit (schwer) geschädigt haben. Das vom Antrag auf Bestrafung des Dr. Peter P* wegen § 95 Abs 1 StGB erfaßte Tatverhalten, das entsprechend diesem Vergehenstatbestand (nur) die Unterlassung der (offensichtlich) erforderlichen Hilfeleistung durch Dr. P* zum Gegenstand haben konnte, betraf somit die in diesem Zusammenhang allein in Betracht kommenden Vorfälle um 8.00 Uhr und 10.00 Uhr des 9. Jänner 1991, als Dr. P* eine Arztvisite bei Sabine Therese N* ablehnte (und solcherart nicht tätig wurde). Somit erfaßte die von der Staatsanwaltschaft Ried im Innkreis am 24. Juli 1992 abgegebene Erklärung, zur (weiteren) Verfolgung des Dr. Peter P* wegen §§ 88 Abs 1 und Abs 4 (81 Z 1) StGB keinen Grund zu finden, im Zusammenhang mit dem gleichzeitig gestellten Antrag auf Bestrafung des Genannten wegen § 95 (Abs 1) StGB erkennbar nur den in der Behandlung der Sabine Therese N* gelegenen Vorfall um 5.00 Uhr früh des 9. Jänner 1991, während der Bestrafungsantrag nach § 95 (Abs 1) StGB offensichtlich das weitere, in einem Unterlassen gelegene Verhalten dieses Arztes um 8.00 Uhr und 10.00 Uhr dieses Tages betraf. Da der Schuldspruch durch das Berufungsgericht aber jenen Sachverhalt zum Gegenstand hatte, der sich in einem Unterlassen der Hilfeleistung (hier: durch Schmerzlinderung) erschöpfte und sich somit ganz eindeutig und unzweifelhaft nur auf das Tatverhalten um 8.00 Uhr und 10.00 Uhr des 9. Jänner 1991 bezog, besteht zwischen der von der Einstellungserklärung der Staatsanwaltschaft betroffenen Tat (Vorfall vom 9. Jänner 1991 um 5.00 Uhr früh) und den vom Schuldspruch des Angeklagten Dr. P* erfaßten Vorfällen (um 8.00 Uhr und 10.00 Uhr des 9. Jänner 1991) keine Identität, sodaß von einem (unzulässigen) Schuldspruch wegen einer Tat in einem insoweit bereits gemäß § 90 Abs 1 StPO abgeschlossenen Verfahren (ohne formelle Wiederaufnahme) nicht gesprochen werden kann.

Der Schuldspruch des Angeklagten Dr.P* durch das Berufungsgericht wegen § 88 Abs 1 StGB ist jedoch aus einem anderen Grunde rechtsirrig:

§ 88 Abs 1 StGB normiert als Fahrlässigkeitsvariante zum Delikt nach § 83 Abs 1 StGB ein Erfolgsdelikt. Ein solches setzt den Eintritt einer von der Tathandlung zumindest gedanklich trennbaren Wirkung in der Außenwelt voraus (vgl Leukauf‑Steininger, Komm3 § 2 RN 4; ferner Kienapfel AT5 Z 9 RN 5, 6, 7 und 8). Zu den Erfolgsdelikten gehören auch die Körperverletzungsdelikte nach §§ 83 und 88 StGB. Die Verwirklichung des ‑ hier aktuellen - Tatbestandes nach § 88 Abs 1 StGB erfordert demnach, daß das ‑ allenfalls (unter den hier gegebenen Voraussetzungen einer den Täter betreffenden Garantenstellung im Sinne des § 2 StGB) in einem Unterlassen gelegene ‑ Tatverhalten kausal mit einem bestimmten Erfolg, nämlich mit der Herbeiführung einer Körperverletzung oder einer Gesundheitsschädigung, verknüpft ist (Kienapfel, Grundriß BT I3 § 88 RN 12). Eine strafrechtliche Haftung bei einer hier allein aktuellen Tatbegehung durch Unterlassen kommt schon nach dem Wortlaut des § 2 StGB nur in jenen Fällen in Betracht, in denen das Gesetz die Herbeiführung eines Erfolges mit Strafe bedroht. Im vorliegenden Fall kam bei Sabine Therese N* von den beiden im § 88 Abs 1 StGB angeführten Zuständen (Körperverletzung, Gesundheitsschädigung), die durch das Tatverhalten des Täters ursächlich herbeigeführt werden müssen, nur die dort genannte Gesundheitsschädigung in Betracht. An der Gesundheit schädigt, wer eine Krankheit herbeiführt, wobei unter Krankheit ein Zustand zu verstehen ist, dem Krankheitswert im medizinischen Sinn zukommt; auch eine Verschlimmerung einer bereits bestehenden Krankheit entspricht nach herrschender Auffassung dem Begriff der Gesundheitsschädigung, bei der es primär (im Gegensatz zur Verletzung am Körper) um eine Funktionsstörung geht (vgl Leukauf‑Steininger, Komm3, RN 9; Burgstaller, WK, Rz 10 sowie Kienapfel, Grundriß, BT I3, RN 15 und 16, jeweils zu § 83 StGB).

Da im vorliegenden Fall dem Verurteilten Dr. Peter P* in der Rechtsmittelentscheidung des Landesgerichtes Ried im Innkreis ausschließlich die Unterlassung der Linderung und Abkürzung von Schmerzen (über einen Zeitraum von etwa zwei Stunden) angelastet wird, kommt der Frage, ob Schmerzen als solche bereits einer Gesundheitsschädigung im Sinne der §§ 83, 88 Abs 1 StGB entsprechen, entscheidende Bedeutung zu. Dies ist jedoch nach Lage des Falles zu verneinen:

Verletzungen am Körper sind in der Regel, aber nicht begriffsnotwendig, mit Schmerzen verbunden. Dem Schmerz kommt damit eine Indizfunktion für das Vorliegen einer Körperverletzung zu (Kienapfel, Grundriß, BT I3 § 83 RN 10). Dies muß aber im gleichen Maße auch für die Gesundheitsschädigung im Sinne der §§ 83, 88 Abs 1 StGB gelten, wenn unter dieser ‑ im Gegensatz zur Körperverletzung ‑ (primär) eine einen Krankheitswert im medizinischen Sinn aufweisende Funktionsstörung zu verstehen ist. Sind aber Schmerzen bloß Symptom einer (Körperverletzung oder einer) Gesundheitsschädigung, dann kann das Vorhandensein von Schmerzen für sich allein keine Gesundheitsschädigung darstellen, sie sind vielmehr nur Indiz für das Vorliegen einer solchen (vgl Leukauf‑Steininger, Komm3 § 83 RN 10; Burgstaller WK, § 83 Rz 11). Der Auffassung Kienapfels (vgl Grundriß, BT I3 § 83 RN 17), daß auch die Aufrechterhaltung eines Schmerzzustandes eine Gesundheitsschädigung darstelle, kann daher zumindest in dieser allgemeinen Form, soweit nämlich dieser Schmerzzustand nicht mit einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes der betroffenen Person verbunden, somit bloß Symptom dieser Verschlechterung ist, nicht beigepflichtet werden. In einem solchen Fall sind nämlich die (intensiveren) Schmerzen in Wahrheit nur die Folge (Symptom) der Verschlechterung der Krankheit. Mißverständlich ist daher auch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 17. Juni 1982, 13 Os 18/92 = SSt 53/35, derzufolge schon das Auftreten von Schmerzen, die nicht auf eine pathologische Veränderung des Körpers zurückzuführen sind, dem Begriff der Gesundheitsschädigung gleichgesetzt werden, weil damit der bloßen Indizfunktion des Schmerzes, der lediglich Symptom einer (Körperverletzung oder) Gesundheitsschädigung ist, nicht ausreichend Rechnung getragen wird.

Nach den dem Schuldspruch durch das Landesgericht Ried im Innkreis zugrunde gelegten und auf das Gutachten des gerichtsärztlichen Sachverständigen Dr. Klaus J* gestützten Tatsachenfeststellungen war eine in der dem Verurteilten Dr. P* allein angelasteten Unterlassung (der Arztvisite) gelegene Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Sabine Therese N* nicht erweislich. Im Falle des (an sich gebotenen) Tätigwerdens (durch Vornahme der Arztvisite) hätte er als praktischer Arzt nur die sofortige Einweisung der Sabine Therese N* in das Krankenhaus veranlassen und deren Schmerz‑ und Angstzustände durch Verabreichung schmerzstillender, allenfalls auch blutgerinnungshemmender Mittel reduzieren (lindern) können, sodaß aufgrund dieser Unterlassung der Schmerz‑ und Angstzustand seiner Patientin um (zumindest) etwa zwei Stunden länger aufrechterhalten wurde. Stellt aber ‑ wie bereits dargelegt ‑ die (bloße) Aufrechterhaltung eines ‑ auf eine bereits bestehende Krankheit zurückzuführenden ‑ Schmerzzustandes für sich allein noch keine Gesundheitsschädigung dar, hat der Verurteilte durch die ihm angelastete Unterlassung eine Gesundheitsschädigung auch nicht bewirkt.

Nach dem als erwiesen angenommenen Sachverhalt hat Dr. P* zwar das objektive Tatbild des Vergehens der Unterlassung der Hilfeleistung nach § 95 Abs 1 StGB verwirklicht; zählt doch zu der nach dieser Gesetzesstelle gebotenen Hilfeleistung auch die Linderung von Schmerzen (vgl Leukauf‑Steininger, Komm3, § 94 RN 10 und die dort zitierte Judikatur). Der Tatbestand des § 95 Abs 1 StGB erfordert jedoch auf der subjektiven Tatseite Vorsatz. Mangels eines vorsätzlichen Verhaltens des Angeklagten gelangte aber das Bezirksgericht Ried im Innkreis als Erstgericht zu einem Freispruch. Im Ergebnis hat das Landesgericht Ried im Innkreis als Berufungsgericht die fehlende Strafbarkeit einer bloß auf Fahrlässigkeit beruhenden Unterlassung der Hilfeleistung dadurch umgangen, daß es ‑ unter an sich zutreffender Bejahung einer Garantenstellung des Dr. P* im Sinne des § 2 StGB – im Wege des Fahrlässigkeitsdeliktes nach § 88 Abs 1 StGB eine in Wahrheit straflose, weil bloß fahrlässig unterlassene Hilfeleistung für strafbar erachtete, wobei der ihm unterlaufene Rechtsirrtum darin liegt, daß es den objektiven, hier in der Herbeiführung einer Gesundheitsschädigung gelegenen Tatbestand des § 88 Abs 1 StGB bejahte.

Der Nichtigkeitsbeschwerde war daher Folge zu geben, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Staatsanwaltschaft zu verwerfen (§ 292 letzter Satz StPO).

 

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