OGH 10ObS17/24h

OGH10ObS17/24h4.6.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Arno Sauberer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Anton Starecek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*, vertreten durch MMag. Michael Krenn, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15–19, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr. Simone Metz, LL.M., Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 29. Jänner 2024, GZ 8 Rs 167/23 x‑41, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00017.24H.0604.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto für ihre * 2017 geborene Tochter A*.

[2] Die Klägerin und A* sind slowakische Staatsbürger. Der Vater von A* und Lebensgefährte der Klägerin ist deutscher Staatsbürger, der seit 2015 in Österreich lebt und in der Slowakischen Republik (künftig: Slowakei) unselbständig beschäftigt ist.

[3] Die Klägerin wohnte bis zum Jahr 2015 in der Slowakei. Sie war dort zunächst unselbständig beschäftigt und in der Folge arbeitslos. Spätestens im Frühling 2017 zog sie zu ihrem Lebensgefährten nach Österreich, wo sie mit ihm und A* seither lebt und auch alle hauptwohnsitzlich gemeldet sind. Seit * 2017 bezieht die Klägerin Familienbeihilfe für A*.

[4] Nach ihrem Umzug nach Österreich schloss die Klägerin zwar einen Arbeitsvertrag mit einem Steuerberater in Wien und vereinbarte mit ihm auch einen Karenzurlaub. Dass sie für ihn tatsächlich eine berufliche Tätigkeit ausübte oder der Karenzvereinbarung wirklich eine Karenz zugrundelag, konnte aber nicht festgestellt werden.

[5] Die Vorinstanzen gaben der auf Gewährung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld für A* gerichteten Säumnisklage, abgesehen von einer Reduktion um 1.300 EUR (§ 3 Abs 4 KBGG) und der Abweisung des Zinsenbegehrens (beides unbekämpft), statt.

Rechtliche Beurteilung

[6] In ihrer außerordentlichen Revision zeigt die Beklagte keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

[7] 1. Die Beklagte zieht zwar nicht in Zweifel, dass der Anspruch auf das von der Klägerin begehrte pauschale Kinderbetreuungsgeld nur von der Erfüllung der in § 2 Abs 1 KBGG (in der hier anzuwendenden Fassung BGBl I 2016/53) normierten Anspruchsvoraussetzungen abhängig ist und diese hier erfüllt sind. Sie stellt vor allem nicht in Abrede, dass der Bezug von pauschalem Kinderbetreuungsgeld nicht an die (vorherige) Ausübung einer Erwerbstätigkeit iSd § 24 Abs 2 KBGG geknüpft ist (10 ObS 55/23w Rz 13; 10 ObS 173/19t ErwGr 1.1. ua). Sie argumentiert vielmehr, dieses Kriterium sei für die Beurteilung der Zuständigkeit nach der VO (EG) 883/2004 relevant. Dass die Klägerin keine Erwerbstätigkeit ausgeübt habe, führe aufgrund der Beschäftigung des Vaters von A* in der Slowakei nämlich dazu, dass die Slowakei nach Art 68 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 vorrangig und Österreich nur nachrangig zuständig sei. Da die Klägerin in der Slowakei Anspruch auf Elterngeld („rodičovský príspevok“) gehabt hätte und dieses mit dem pauschalen Kinderbetreuungsgeld vergleichbar sei, habe Österreich nur eine Ausgleichszahlung nach § 6 Abs 3 KBGG bzw den Unterschiedsbetrag iSd Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 zu leisten.

[8] 2. Wie schon das Berufungsgericht zutreffend betont hat, kommt es auf Fragen der (vor‑ oder nachrangigen) Zuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 im Anlassfall nicht entscheidend an.

[9] 2.1. Der Oberste Gerichtshof hat schon wiederholt klargestellt, dass selbst das Fehlen der Leistungszuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 nicht dazu führt, dass die Gewährung einer Leistung, für die – wie hier – die nationalen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, nach dem innerstaatlichen Recht ausgeschlossen wird (EuGH C‑352/06 , Bosmann [Rn 28 und 31]; 10 ObS 55/23w Rz 13 ua). In dieser Konstellation könnte der Leistung lediglich eine nationale Antikumulierungsregel entgegenstehen (EuGH C‑611/10 , C‑612/10 , Hudzinski und Wawrzyniak [Rn 70]; 10 ObS 50/23k Rz 22).

[10] 2.2. Die Ruhensbestimmung des § 6 Abs 3 KBGG stellt zwar eine solche (international umfassend ausgestaltete) Antikumulierungsregel dar (RS0125752). Diese führt hier aber nicht zu der von der Beklagten angestrebten Anrechnung der slowakischen Leistung.

[11] Wie der Oberste Gerichtshof erst unlängst wieder betont hat, enthält § 6 Abs 3 KBGG in seiner aktuellen, hier anzuwendenden Fassung BGBl I 2016/53 (anders als § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2009/116) zwar keine Einschränkung (mehr) auf „vergleichbare“ ausländische Familienleistungen. Ist jedoch der Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 eröffnet – wovon die Beklagte im Anlassfall selbst ausgeht –, hat diese Regelung als dem Unionsrecht (vgl Art 10 VO [EG] 883/2004) widersprechend von den Gerichten unangewendet zu bleiben (10 ObS 50/23k Rz 22 mwN; 10 ObS 103/20z Rz 11 ua). Entsprechend den unionsrechtlichen Vorgaben setzt sie in diesem Fall so wie Art 68 VO (EG) 883/2004 (vgl RS0122907 [T3]; 10 ObS 50/23k Rz 21 ua) das Vorliegen von Leistungen gleicher Art voraus (RS0125752 [T3]; 10 ObS 123/23w Rz 17; 10 ObS 147/21x Rz 15 ua). Vergleichbar sind Leistungen nach der ständigen, von der Beklagten nicht bezweifelten Rechtsprechung dann, wenn sie einander in Funktion und Struktur (Zweck, Berechnungsgrundlage, Voraussetzungen für ihre Gewährung) im Wesentlichen entsprechen (RS0122907).

[12] 3. Mit der Funktion und Struktur des slowakischen Elterngeldes („rodičovský príspevok“) hat sich der Oberste Gerichtshof zu 10 ObS 101/22h schon eingehend befasst. Er ist dabei zum Ergebnis gekommen, dass es weder mit dem einkommensabhängigen noch mit dem pauschalen Kinderbetreuungsgeld vergleichbar ist (Rz 36 und 39). Diese Ansicht wurde zu 10 ObS 50/23k, in dem ein Anspruch auf pauschales Kinderbetreuungsgeld zu beurteilen war, erst unlängst aufrecht erhalten (Rz 25).

[13] 3.1. Die Ausführungen der Revision, die sich mit dieser Rechtsprechung nicht näher befassen, geben keinen Anlass zu einer anderen Beurteilung. Dass beide Leistungen Pauschalleistungen sind, in einem ähnlichen Zeitraum gewährt werden und sie in den MISSOC‑Vergleichstabellen als „Familienleistungen“ erfasst sind, sind keine für die Beurteilung ihrer Vergleichbarkeit in Funktion und Struktur relevanten Kriterien.

[14] 3.2. Sind die in Rede stehenden Leistungen nicht vergleichbar, scheidet im Anlassfall die Anwendung des § 6 Abs 3 KBGG – und auch des Art 68 VO (EG) 883/2004 – von vornherein aus.

[15] 4. Soweit die Beklagte die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens anregt, weil es „zielführender und verordnungskonform“ sei, wenn die Vergleichbarkeit von Leistungen nicht durch die einzelnen Mitgliedstaaten eigenständig beurteilt, sondern die Eintragung in den MISSOC‑Vergleichstabellen als verbindlich anerkannt werde, ist sie nur auf die Rechtsprechung des EuGH zu verweisen, wonach diese Prüfung dem nationalen Gericht obliegt (EuGH C-347/12 , Wiering, Rn 62 mwN; vgl auch C‑398/18 , Bocero Torrico, Rn 37).

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte