OGH 10ObS103/20z

OGH10ObS103/20z1.9.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Johannes Püller (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei N*****, Deutschland, vertreten durch die Puttinger Vogl Rechtsanwälte OG in Ried im Innkreis, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Mag. Andreas Nösterer, Rechtsanwalt in Pregarten, wegen Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 6. Mai 2020, GZ 12 Rs 28/20d‑9, womit das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 15. November 2019, GZ 36 Cgs 94/19s‑5, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00103.20Z.0901.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR (darin enthalten 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin beantragte anlässlich der Geburt ihrer Tochter S***** (16. 3. 2018) das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für 365 Tage in Höhe von 61,78 EUR täglich für den Zeitraum von 16. 3. 2018 bis 15. 3. 2019.

[2] Sie lebt mit ihrem Ehegatten und dem gemeinsamen Kind in Deutschland. Der Ehemann ist in Deutschland erwerbstätig, die Klägerin arbeitete in Österreich. Sie vereinbarte mit ihrem Dienstgeber im Anschluss an den Mutterschutz einen Karenzurlaub.

[3] Die Klägerin und ihr Ehemann bezogen in Deutschland insgesamt 14.212,42 EUR an Elterngeld; weiters erhielt die Klägerin Familiengeld nach dem bayerischen Familiengeldgesetz (BayFamGG) in Höhe von 6.000 EUR (monatlich 250 EUR). Von der beklagten Partei bezog die Klägerin an Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld 5.420,80 EUR.

[4] Mit Bescheid vom 1. 8. 2019 widerrief die beklagte Partei die Zuerkennung dieser Ausgleichszahlung und verpflichtete die Klägerin (unter Abzug einer Erstattungszahlung des Zentrums Bayern Familie und Soziales in Höhe von 250 EUR) zur Rückzahlung von 5.170,80 EUR. Der der Klägerin und dem Vater des Kindes in Deutschland zustehende Anspruch auf Elterngeld und Familiengeld in Höhe von insgesamt 20.212,42 EUR übersteige das in Österreich gebührende Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 17.298,40 EUR bei Weitem.

[5] Mit ihrer Klage begehrte die Klägerin die Feststellung, dass der Anspruch der beklagten Partei auf Rückzahlung der Ausgleichszahlung nicht zu Recht bestehe. Die Klägerin macht geltend, bei dem von ihr in Deutschland bezogenen Familiengeld nach dem BayFamGG handle es sich nicht um eine dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung.

[6] Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Auf eine Gleichartigkeit oder Vergleichbarkeit der Familienleistungen komme es nicht an. Sämtliche ausländischen Familienleistungen seien auf das Kinderbetreuungsgeld anzurechnen.

[7] Das Erstgericht stellte fest, dass die Klägerin nicht zum Rückersatz der Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 3.085,98 EUR verpflichtet sei und wies das Mehrbegehren (rechtskräftig) ab. Aufgrund des Wohnorts des Kindes sei Deutschland vorrangig für die Erbringung von Familienleistungen zuständig; Österreich habe als nachrangiger Staat die Leistungen bis zur Höhe der deutschen Leistungen auszusetzen bzw den Unterschiedsbetrag zu leisten. § 6 Abs 3 KBGG in der ab 1. 3. 2017 geltenden Fassung BGBl I 2016/53 sei unionsrechtswidrig. Das vom Europäischen Gerichtshof postulierte Erfordernis der Gleichartigkeit der Familienleistungen sei weiterhin anzuwenden. Beim österreichischen Kinderbetreuungsgeld und dem bayerischen Familiengeld handle es sich um keine gleichartigen Leistungen. Anderes gelte für das deutsche Elterngeld, das auf das Kinderbetreuungsgeld anzurechnen sei.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Bei der Berechnung des Unterschiedsbetrags seien weiterhin nur gleichartige Familienleistungen und nicht sämtliche Familienleistungen anzurechnen. Insoweit § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 nunmehr eine Anrechnung sämtlicher ausländischer Familienleistungen vorsehe, widerspreche die Bestimmung dem Unionsrecht. Das in Bayern neu geschaffene Familiengeld sei mit dem einkommensabhängigen österreichischen Kinderbetreuungsgeld in wesentlichen Merkmalen (dem Sinn und Zweck, den Berechnungsgrundlagen, den Voraussetzungen für die Gewährung und den Bezugsberechtigten) nicht vergleichbar.

[9] Die Revision sei zulässig, da noch keine oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Gleichartigkeit des bayerischen Familiengeldes mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld bestehe.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist entgegen diesem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulassungsausspruch – unzulässig.

[11] 1. Das Erfordernis des Vorliegens von Leistungen gleicher Art (Art 10 VO [EG] 883/2004) gilt auch im Anwendungsbereich des § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53. Diese Regelung hat nach ständiger Rechtsprechung als dem Unionsrecht widersprechend von den Gerichten unangewendet zu bleiben (10 ObS 110/19b; 10 ObS 108/19h = RS0125752 [T3]).

[12] 2.1 Für die Gleichartigkeit von Familienleistungen ist Voraussetzung, dass sie einander in Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen (RS0122907). Diese Frage hat das nationale Gericht zu prüfen (EuGH Rs C‑347/12, Wiering, Rz 62 mwH).

[13] 2.2 Die Beurteilung des Berufungsgerichts, das bayerische Familiengeld und das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld entsprächen einander nach Zweck und Struktur nicht, findet Deckung in der zu dieser Frage mittlerweile ergangenen Entscheidung 10 ObS 19/20x des Obersten Gerichtshofs vom 26. 5. 2020. Auf die Begründung dieser Entscheidung kann verwiesen werden. Hervorzuheben ist daraus, dass das bayerische Familiengeld den Eltern als „Anerkennung der Erziehungsleistung“ unabhängig vom Erwerbseinkommen gebührt. Es bezweckt – anders als das Kinderbetreuungsgeld – nicht die (teilweise) Abgeltung allgemeiner, auch außerhäuslicher Betreuungsleistungen, sondern soll qualitativ die frühe Erziehung und Bildung der Kinder sowie ihre Gesundheit fördern. Das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld erlaubt während des Bezugs hingegen nur eine geringe Erwerbstätigkeit, um die Betreuung des Kindes weitgehend zu sichern. Im Hinblick darauf ist das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens auch mit seinem (niedrigsten) Tagsatz von 33,88 EUR rund viermal so hoch wie das bayerische Familiengeld, das für das erste und zweite Kind des Berechtigten jeweils 250 EUR pro Monat, für das dritte und jedes weitere Kind jeweils 300 EUR pro Monat beträgt (Art 3 Nr 1 Satz 1 BayFamGG). Das bayerische Familiengeld dient nach den im Gesetz ausdrücklich formulierten Zielen nicht der Existenzsicherung und kann aufgrund seiner geringen Höhe keinen Ausgleich für den Verzicht auf ein Erwerbseinkommen leisten (Art 1 Satz 3 und 4 BayFamGG). Demgegenüber kommt dem einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld existenzsichernder Charakter zu.

[14] 3. Da die vom Berufungsgericht als erheblich erachtete Rechtsfrage der Gleichartigkeit des österreichischen einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes und des bayerischen Familiengeldes zum Zeitpunkt der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs gelöst ist und auch die Revisionswerberin in ihrem Rechtsmittel keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO aufzeigt, ist die Revision zurückzuweisen (RS0112769 [T3]).

[15] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 ASGG iVm den §§ 41, 50 ZPO. Die Klägerin hat in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit der Revision der beklagten Partei hingewiesen (RS0035979 [T16]).

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