OGH 10ObS108/19h

OGH10ObS108/19h13.9.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr.

 Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Z*****, Fürstentum Liechtenstein, gegen die beklagte Partei Vorarlberger Gebietskrankenkasse, 6850 Dornbirn, Jahngasse 4, vertreten durch Thurnher Wittwer Pfefferkorn & Partner Rechtsanwälte GmbH in Dornbirn, wegen Kinderbetreuungsgeld, infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 3. Juli 2019, GZ 23 Rs 23/19g‑24, womit das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 21. März 2019, GZ 34 Cgs 118/18i‑16, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00108.19H.0913.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Die Klägerin, ihr Ehegatte und ihre gemeinsame, am 9. 12. 2017 geborene Tochter haben ihren Wohnort im Fürstentum Liechtenstein.

Die Klägerin ist unselbständig in Österreich beschäftigt. Sie bezog im Zeitraum 14. 10. 2017 bis 3. 2. 2018 Wochengeld in Höhe von 58,18 EUR täglich.

Der Ehegatte der Klägerin ist in Liechtenstein beschäftigt. Er erhielt von der Liechtensteinischen Familienausgleichskasse aus Anlass der Geburt der Tochter eine Geburtszulage in der Höhe von (einmalig) 2.300 CHF.

Die Klägerin beantragte anlässlich der Geburt ihrer Tochter am 9. 12. 2017 bei der beklagten Gebietskrankenkasse das Kinderbetreuungsgeld in der Kontovariante für den Zeitraum ab der Geburt bis zum 8. 12. 2019 (730 Tage).

Die Beklagte teilte der Klägerin mit, dass es sich bei der in Liechtenstein gebührenden Geburtszulage gemäß der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883/2004 ) um eine ausländische Familienleistung handle, die auf das Kinderbetreuungsgeld anzurechnen sei. Daher gebühre bis zum 31. 5. 2018 kein Kinderbetreuungsgeld. Der Leistungsanspruch beginne mit 1. 6. 2018 mit 2,22 EUR pro Tag und betrage ab dem 2. 6. 2018 (bis 8. 12. 2019) 16,94 EUR pro Tag.

Mit Schreiben vom 27. 2. 2018 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass sie mit der Anrechnung der liechtensteinischen Geburtszulage auf das ihr in Österreich gebührende Kinderbetreuungsgeld nicht einverstanden sei. Die Klägerin beantragte die Ausstellung eines Bescheids.

Am 28. 2. 2018 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass kein Rechtsanspruch auf Ausstellung eines Bescheids bestehe.

In ihrer am 27. 9. 2018 eingebrachten Säumnisklage begehrt die Klägerin die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum 4. 2. 2018 bis 8. 12. 2019 in Höhe von ungekürzt 16,94 EUR täglich, somit ohne Anrechnung der liechtensteinischen Geburtszulage.

Die Beklagte wandte dagegen ein, dass auch die liechtensteinische Geburtszulage eine Familienleistung im Sinn des Art 1 lit z VO 883/2004 sei; sie sei daher auf das der Klägerin gebührende Kinderbetreuungsgeld gemäß § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 anzurechnen. Der Anspruch der Klägerin bestehe daher nur mit 13,97 EUR täglich zu Recht.

Das Erstgericht sprach der Klägerin ab dem 4. 2. 2018 Kinderbetreuungsgeld mit einem Tagsatz von 16,94 EUR bis zum 8. 12. 2019 zu. Nach Art 68 Abs 1 lit b VO 883/2004 seien Familienleistungen, die aus denselben Gründen, nämlich durch Arbeitstätigkeit, ausgelöst werden, zu koordinieren. Nach dem Wohnort des Kindes sei primär Liechtenstein zuständig. Österreich sei nur nachrangig zuständig. Die liechtensteinische Geburtszulage sei jedoch keine gleichartige Leistung im Verhältnis zum österreichischen Kinderbetreuungsgeld, sodass eine Anrechnung gemäß § 6 Abs 3 KBGG nicht in Frage komme.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und ließ die Revision nicht zu. Die Berufung mache ausschließlich geltend, dass die liechtensteinische Geburtszulage nicht auf das österreichische Kinderbetreuungsgeld anzurechnen sei, sodass nur auf diese selbständige anspruchsvernichtende Rechtsfrage einzugehen sei. Das Berufungsgericht teilte dazu die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass die liechtensteinische Geburtszulage und das österreichische Kinderbetreuungsgeld keine gleichartigen Leistungen seien, sodass keine Anrechnung stattfinde. Daran ändere auch die mit 1. 3. 2017 in Kraft getretene geänderte Fassung des § 6 Abs 3 KBGG (BGBl I 2016/53) nichts, wonach die Anrechnung sämtlicher ausländischer Familienleistungen vorzunehmen sei. Österreichische Gerichte hätten Unionsrecht auch entgegen unionsrechtswidrigem nationalen Recht anzuwenden.

In ihrer außerordentlichen Revision macht die Beklagte zusammengefasst geltend, die Vorinstanzen hätten unberücksichtigt gelassen, dass die Urteile des EuGH in den Rechtssachen Dodl und Oberhollenzer sowie Wiering noch zum Anwendungsbereich der VO 1408/71 ergangen seien und seit der Einführung der VO 883/2004 bei der Anrechnung von ausländischen Familienleistungen nicht mehr zwischen den einzelnen Familienleistungen unterschieden werde, sondern Familienleistungen „in ihrer Gesamtheit“ geregelt würden. Es stehe daher den Mitgliedstaaten frei, bei der Anrechnung von ausländischen Familienleistungen alle Familienleistungen des primär zuständigen Staates anzurechnen oder auch die Familienleistungen kategorisiert zu betrachten. Österreich habe sich mit der Umgestaltung des § 6 Abs 3 KBGG dazu entschlossen, bei der Anrechnung von ausländischen Familienleistungen auf das Kinderbetreuungsgeld alle Familienleistungen (und nicht nur die gleichartigen oder vergleichbaren) anzurechnen. Maßgeblich sei nur mehr die unionsrechtliche Einordnung als Familienleistung im Sinn der Definition des Art 1 lit z der Verordnung 883/2004 , nicht mehr die Vergleichbarkeit. Jedes andere Ergebnis würde zu einer fortgesetzten Inländerdiskriminierung führen.

Die von den Vorinstanzen zutreffend angenommene rechtliche Beurteilung der Zulässigkeit der Säumnisklage (10 ObS 112/18w) wird von der Revisionswerberin nicht mehr in Zweifel gezogen.

Rechtliche Beurteilung

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist, ob im Anwendungsbereich des § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 für die Berechnung des Unterschiedsbetrags nach Art 68 Abs 2 VO 883/2014 sämtliche Familienleistungen des prioritär zuständigen Mitgliedstaats (hier Liechtenstein) jenen des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats (hier Österreich) gegenüberzustellen sind oder ob (weiterhin) nur gleichartige Familienleistungen zu berücksichtigen sind.

Die Beklagte zeigt mit ihren Ausführungen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf. Der Oberste Gerichtshof erachtet vielmehr die Begründung des Berufungsgerichts für zutreffend, sodass auf deren Richtigkeit verwiesen werden kann (§ 510 Abs 3 ZPO).

Den Revisionsausführungen ist noch Folgendes entgegenzuhalten:

1.1 Nach der noch zu den Antikumulierungsvorschriften des Art 76 der VO (EWG) 1408/71 und des Art 10 der VO (EWG) 574/72 ergangenen Rechtsprechung des EuGH finden diese Antikumulierungsvorschriften nur Anwendung, wenn vergleichbare (gleichartige) Leistungen (aus dem Beschäftigungsmitgliedstaat und dem Wohnmitgliedstaat) zusammentreffen (EuGH 19. 2. 1981, C‑104/80, Beeck, Rz 12; 7. 6. 2005, C‑543/03, Dodl und Oberhollenzer, Rz 59; siehe auch RS0122907).

1.2 Mittlerweile hat der EuGH in der ebenfalls zur VO (EWG) 1408/71 ergangenen Entscheidung vom 8. 5. 2014, C‑347/12, Wiering, ausdrücklich bestätigt, dass bei Berechnung eines im Beschäftigungsstaat eventuell zu zahlenden Unterschiedsbetrags nicht sämtliche der Familie nach den Rechten des Wohnsitzmitgliedstaats gezahlten Leistungen, sondern nur gleichartige Leistungen als Familienleistungen zu berücksichtigen sind (Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg], Art 68 VO 883/2004 Rz 10). Damit hat der EuGH die im Allgemeinen Teil enthaltene Antikumulierungsvorschrift des Art 12 der VO (EWG) 1408/71 auch in Bezug auf zwei Ansprüche bei Familienleistungen angewendet (Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [57. Lfg], Art 10 VO 883/2004 Rz 1).

2.1 Durch die VO (EG) 883/2004 trat im Vergleich zur VO (EWG) 1408/71 keine Änderung ein. Dies ergibt sich schon aus der auch in der VO 883/2004 enthaltenen allgemeinen Antikumulierungsregelung des Art 10 VO 883/2004 , die die Rechtslage nach Art 12 VO (EWG) 1408/71 unverändert fortsetzt ( Schuler in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 7 Art 10 VO 883/2004 Rz 1). Die Neuregelung der Familienleistungen in Art 1 lit z VO 883/2004 verfolgt lediglich die Absicht, diese in ihrer Gesamtheit zu regeln (EuGH 27. 2. 2014, C‑32/13, Würker , Rz 48; Kahil‑Wolff in Fuchs , Europäisches Sozialrecht 7 Art 1 VO 883/2004 Rz 41; 10 ObS 146/16t, SSV‑NF 31/2). Wie der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 146/16t, SSV‑NF 31/2 ausführlich begründet hat, hat das vom EuGH postulierte Erfordernis der Gleichartigkeit im Anwendungsbereich der VO 883/2004 weiterhin Gültigkeit. Dass es – soweit es um die Berechnung des Unterschiedsbetrags nach Art 68 Abs 2 VO 883/2004 geht – zu einem Systemwandel gekommen wäre und in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des EuGH sämtliche (und nicht nur gleichartige) Familienleistungen angerechnet werden sollten, ist weder aus der in Art 1 lit z der VO 883/2004 enthaltenen Begriffsdefinition noch aus der allgemeinen Antikumulierungsregel des Art 10 VO 883/2004 noch aus Art 68 der VO 883/2004 abzuleiten ( Sonntag , Unions‑, verfassungs‑ und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG‑Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 f; Spiegel in Spiegel , Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [56. Lfg] Art 1 VO 883/2004 Rz 76/1).

2.2 Vertritt die Revisionswerberin dennoch den Standpunkt, den EuGH‑Entscheidungen Dodl und Oberhollenzer sowie Wiering komme für den Anwendungsbereich der VO 883/2004 keine Bedeutung mehr zu, ohne sich mit den in der Entscheidung 10 ObS 146/16t, SSV‑NF 31/2, genannten gegenteiligen Gründen näher auseinanderzusetzen, wird mit diesem Vorbringen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt.

3. Soweit die Revisionswerberin davon ausgeht, es stehe den Mitgliedstaaten frei, auch alle Familienleistungen des primär zuständigen Staates anzurechnen, und sich auf § 6 Abs 3 KBGG idF BGBl I 2016/53 beruft, nach dem – in Abänderung der Vorläuferbestimmung – nunmehr eine Anrechnung sämtlicher (und nicht nur gleichartiger) ausländischer Familienleistungen stattfinden soll, hat bereits das Berufungsgericht dargelegt, dass diese Regelung dem Unionsrecht widerspricht und deshalb von den Gerichten unangewendet zu bleiben hat ( Sonntag, ASoK 2017, 2 f). Das nationale Gericht, das Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, ist gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis

unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (RS0109951 [T3]).

4. Dass ein Entwurf der Kommission zur Abänderung der VO 883/2004 vorliegt, der infolge einer geplanten Neuordnung der Familienleistungen – wie die Revisionswerberin vorbringt – im Fall seines zukünftigen Inkrafttretens ihrem Rechtsstandpunkt Rechnung tragen werde, vermag ebenfalls keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zu begründen.

5.1 Bei Errechnung des Unterschiedsbetrags bleibt die Vergleichbarkeit der Familienleistungen daher weiterhin zu berücksichtigen. Diese ist anzunehmen, wenn sie einander nach Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen. Diese Voraussetzungen wurden für das österreichische Kinderbetreuungsgeld und die liechtensteinische Geburtszulage bereits verneint (RS0122907), weil das Kinderbetreuungsgeld eine fortlaufende Leistung für Elternteile ist, die sich in der ersten Lebenszeit des Kindes dessen Betreuung widmen, und dazu dienen soll, die Erziehung des Kindes zu vergüten, und gegebenenfalls finanzielle Nachteile, die der Verzicht auf ein (Voll‑)Erwerbseinkommen bedeutet, abzumildern. Die Geburtszulage ist hingegen eine einmalige Leistung, die nach ihrem Schwerpunkt die mit der Geburt (für sich allein) verbundenen finanziellen Aufwendungen abdecken soll. Die Zulage gebührt auch dann, wenn ein Kind tot geboren wurde. Es fehlt daher an der Übereinstimmung in Funktion und Struktur der Leistungen; auch die Anspruchsvoraussetzungen und die Berechnung sind nicht vergleichbar.

5.2 Dass sich diese wesentlichen Merkmale zwischenzeitig geändert hätten, wird in der Revision nicht dargestellt. Allein der Hinweis, aus der Entwicklung des KBGG sei ableitbar, dass dieses historisch gesehen (auch) Aspekte einer Geburtenbeihilfe beinhalte, kann zu keiner anderen Beurteilung der Gleichartigkeit führen.

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