OGH 10ObS173/19t

OGH10ObS173/19t26.5.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer, sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Josef Putz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Mag. German Bertsch, Rechtsanwalt in Feldkirch, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Thurnher Wittwer Pfefferkorn & Partner Rechtsanwälte GmbH in Dornbirn, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 9. Oktober 2019, GZ 25 Rs 61/19 k‑19, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 11. Juli 2019, GZ 35 Cgs 144/19x‑14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00173.19T.0526.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 416,26 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 69,38 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Die Bezeichnung der ursprünglich beklagten Vorarlberger Gebietskrankenkasse war gemäß § 23 Abs 1 und § 538t Abs 1 ASVG von Amts wegen auf Österreichische Gesundheitskasse zu berichtigen.

Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld in der Kontovariante aus Anlass der Geburt ihres zweiten Sohnes am 19. 5. 2018 für den Zeitraum vom 15. 7. 2018 bis zum 18. 5. 2019 in Höhe von 33,88 EUR täglich.

Strittig sind im Revisionsverfahren noch die Fragen, ob Österreich zur Gewährung dieser Familienleistung im Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in der Folge: VO 883/2004 ) vorrangig oder nachrangig zuständig ist, und ob die Klägerin die Anspruchsvoraussetzung des § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG erfüllt, obwohl sie während der ersten zehn Tage des Zeitraums von 182 Tagen noch geringfügig beschäftigt war.

Den Standpunkt, dass die liechtensteinische Geburtszulage auf das österreichische Kinderbetreuungsgeld anzurechnen sei und in diesem Umfang das Kinderbetreuungsgeld „ruhe“, hält die Beklagte im Revisionsverfahren nicht mehr aufrecht.

Die Klägerin befindet sich seit dem 16. 8. 2004 in einem aufrechten Beschäftigungsverhältnis zur A***** e.U. in H*****. Sie gebar am 20. 5. 2014 ihr erstes Kind.

Nach Ende der Karenz war die Klägerin vom 3. 1. 2016 bis 30. 9. 2016 geringfügig mit einem Bezug von 421,22 EUR brutto für 8 Stunden pro Woche beschäftigt. Ab dem 1. 10. 2016 war die Klägerin mit einem Gehalt von 473,88 EUR brutto für 9 Stunden pro Woche beschäftigt.

Ab dem 22. 3. 2018 bezog die Klägerin Wochengeld. Am 19. 5. 2018 gebar sie ihr zweites Kind. Der Wochengeldbezug endete am 14. 7. 2018. Seit dem Ende des Mutterschutzes befindet sich die Klägerin in Karenz. Die Klägerin bezieht für das zweite Kind die Familienbeihilfe.

Die Klägerin, ihr Ehegatte und das gemeinsame Kind sind österreichische Staatsbürger und haben ihren Lebensmittelpunkt in Österreich. Der Ehegatte der Klägerin ist im Fürstentum Liechtenstein als Arbeitnehmer beschäftigt. Er hat in Liechtenstein für das zweite Kind eine Geburtszulage erhalten und bezieht die Familienzulage als Ausgleichszahlung (einmal jährlich ca 500 bis 600 CHF).

Die Klägerin beantragte nach der Geburt des zweiten Kindes das Kinderbetreuungsgeld in der Kontovariante ab Geburt bis zum 18. 5. 2019.

Die Vorarlberger Gebietskrankenkasse erließ keinen Bescheid über diesen Antrag, sondern teilte der Klägerin lediglich mit, dass das Kinderbetreuungsgeld in der Höhe des Wochengeldes ruhe und dass die liechtensteinische Geburtszulage auf das Kinderbetreuungsgeld anzurechnen sei. Das Kinderbetreuungsgeld betrage von Geburt des zweiten Kindes bis zum 14. 7. 2018 gekürzt daher 17,99 EUR täglich. Ab dem 15. 7. 2018 bis zum 18. 5. 2019 gebühre Kinderbetreuungsgeld gekürzt in Höhe von 27,26 EUR täglich.

Mit Schreiben vom 16. 11. 2018 begehrte die Klägerin einen Bescheid über ihren Antrag. Die Vorarlberger Gebietskrankenkasse stellte keinen Bescheid aus.

Mit ihrer am 29. 5. 2019 beim Erstgericht eingebrachten Säumnisklage begehrte die Klägerin von der Vorarlberger Gebietskrankenkasse die Zahlung von Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 33,88 EUR täglich für den Zeitraum vom 15. 7. 2018 bis zum 18. 5. 2019. Österreich sei für die Gewährung dieser Leistung (vorrangig) zuständig. Sowohl die berufliche Tätigkeit der Klägerin als geringfügig Beschäftigte als auch ihre Tätigkeit danach seien als Beschäftigung im unionsrechtlichen Sinn anzusehen.

Die Beklagte wandte dagegen ein, dass der Anwendungsbereich der VO 883/2004 eröffnet sei. Maßgeblich sei gemäß Art 1 lit a VO 883/2004 der nationale Beschäftigungsbegriff. Dafür sei nach der Rechtsprechung § 24 Abs 2 KBGG heranzuziehen, und zwar auch für das pauschale Kinderbetreuungsgeld. Die Klägerin sei jedoch zu Beginn des Zeitraums von 182 Tagen vor der Geburt ihres zweiten Kindes noch geringfügig beschäftigt gewesen. Eine Erwerbstätigkeit im Sinn des § 24 Abs 2 KBGG habe sie lediglich in 172 Tagen vor der Geburt ausgeübt. Daher könne auch die daran anschließende Karenz nicht als einer Beschäftigung gleichgestellte Zeit im Sinn des § 24 Abs 2 KBGG angesehen werden. Der Ehegatte der Klägerin sei als Arbeitnehmer in Liechtenstein beschäftigt. Österreich sei nach den Koordinierungsregeln für Familienleistungen daher nur nachrangig für deren Gewährung zuständig.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es bejahte das Vorliegen einer Beschäftigung der Klägerin im Sinn des § 24 Abs 2 KBGG auch während der Tage einer geringfügigen Beschäftigung, weil diese Bestimmung– ungeachtet der Regelung des § 24 Abs 3 KBGG – insofern als unionsrechtswidrig anzusehen sei und unangewendet zu bleiben habe.

Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Der Umstand, dass Art 1 lit a VO 883/2004 auf das innerstaatliche Recht verweise, ändere nichts daran, dass der Begriff der Beschäftigung nach dieser Bestimmung ein unionsrechtlicher sei. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union könne bei einer Beschäftigung von 8 Stunden pro Woche, daher 20 % der Normalarbeitszeit, nicht von einer völlig untergeordneten und unwesentlichen Beschäftigung gesprochen werden. Es sei daher von einer Erwerbstätigkeit der Klägerin auch im Sinn des § 24 Abs 2 KBGG auszugehen. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre von einer unschädlichen Unterbrechung der in § 24 Abs 1 Z 2 KBGG genannten Frist von 182 Tagen durch das Fehlen von lediglich 10 Tagen an deren Beginn auszugehen. Österreich sei daher primär zur Gewährung von Familienleistungen zuständig, der Anspruch der Klägerin bestehe ungekürzt (um die liechtensteinische Geburtszulage) zu Recht. Da Rechtsprechung zu den hier zu beurteilenden Fragen nicht vorliege, sei die Revision zulässig.

Gegen dieses Urteil richtet sich die von der Klägerin beantwortete Revision der beklagten Österreichischen Gesundheitskasse, mit der sie inhaltlich erkennbar beantragt, das Klagebegehren abzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klarstellung zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.

Die Revisionswerberin führt aus, dass der Gatte der Klägerin in Liechtenstein arbeite, sodass Österreich für die Gewährung von Familienleistungen nur nachrangig zuständig sei. Im vorliegenden Fall sei die vorrangige Zuständigkeit Liechtensteins auch wirksam geworden, sodass diese Frage nicht mehr zu prüfen sei. Es fehle der Klägerin an der Voraussetzung einer während 182 Tagen vor der Geburt ununterbrochen tatsächlich ausgeübten kranken‑ und pensionsversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit. Denn einerseits erfülle die bloß geringfügige Erwerbstätigkeit der Klägerin nicht die Anforderungen des § 24 Abs 2 KBGG, der gemäß Art 1 lit a VO 883/2004 auch für den Bereich des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes maßgeblich sei. Andererseits müsse die Erwerbstätigkeit nach § 24 Abs 2 KBGG zumindest 182 Tage vor der Geburt begonnen werden: eine – wenn auch innerhalb von 14 Tagen – verspätete Aufnahme der Erwerbstätigkeit sei keine bloße – unschädliche – Unterbrechung, weil nur unterbrochen werden könne, was bereits begonnen habe.

Dem ist entgegenzuhalten:

1.1 Die Anspruchsberechtigung für das pauschale Kinderbetreuungsgeld als Konto ist in § 2 KBGG in der hier anwendbaren Fassung BGBl I 2016/53 geregelt. Die Klägerin erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach dieser Bestimmung unstrittig. Die Ausübung einer kranken‑ und pensionsversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit in Österreich (vgl § 24 Abs 2 KBGG) ist nicht Anspruchsvoraussetzung für den Bezug von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto (hier gemäß § 3 Abs 1 KBGG). Schon daher kommt es auf die Frage, ob die Tage der geringfügigen Beschäftigung der Klägerin als Beschäftigung im unionsrechtlichen Sinn anzusehen wären, hier nicht an.

1.2 Das Ruhen des Kinderbetreuungsgeldes während des Wochengeldbezugs bis 14. 7. 2018 gemäß § 6 Abs 1 KBGG hat die Klägerin, die ihr Begehren erst für einen Zeitraum ab 15. 7. 2018 erhoben hat, berücksichtigt. Den Standpunkt, dass das Kinderbetreuungsgeld infolge des Bezugs einer liechtensteinischen Geburtszulage durch den Gatten der Klägerin zu kürzen sei, hält die Beklagte – zutreffend – nicht mehr aufrecht (10 ObS 108/19h ua; RS0125752 [T3]).

2.1 Die Klägerin ist (anders als ihr Ehegatte) keine Grenzgängerin im Sinn des Art 1 lit f VO 883/2004 , weil sie in Österreich wohnt und hier einer Beschäftigung nachgeht. Auf die Klägerin sind daher nicht die Vorschriften mehrerer Mitgliedstaaten anwendbar, der persönliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 ist nicht für die Klägerin als unmittelbar Berechtigte eröffnet. (Auch) Darin unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von dem zu 10 ObS 120/19y entschiedenen, in dem die Klägerin Grenzgängerin war. Es liegt auch kein der Entscheidung des EuGH C‑32/18 , Moser, vergleichbarer Sachverhalt vor, weil die Klägerin, die mit ihrem Ehegatten und ihren Kindern im vorliegenden Fall in Österreich wohnt, keine Familienleistung des Fürstentums Liechtenstein, abgeleitet von der Beschäftigung ihres Ehegatten, in Anspruch nehmen will.

2.2 Der persönliche Geltungsbereich der VO 883/2004 ist für die Klägerin vielmehr als Familienangehörige (Art 1 lit i VO 883/2004 ) ihres Ehegatten, der unstrittig Wanderarbeitnehmer ist, gemäß Art 2 VO 883/2004 eröffnet. Dieses Merkmal wäre für von der Beschäftigung des Ehegatten der Klägerin abgeleitete Ansprüche von Belang (vgl Spiegel in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 Art 2 Rn 5). Einen solchen Anspruch macht die Klägerin in diesem Verfahren aber nicht geltend.

2.3 Die Beklagte hat im Verfahren erster Instanz lediglich die liechtensteinische Geburtszulage als anrechenbare Leistung im Sinn des § 6 Abs 3 KBGG geltend gemacht. Der Ehegatte der Klägerin bezieht nach den den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen lediglich eine liechtensteinische Familienzulage als Ausgleichszahlung zu der der Klägerin in Österreich gewährten Familienbeihilfe (ON 11), nicht aber eine zum Kinderbetreuungsgeld nach Sinn und Zweck und Struktur (vgl dazu EuGH C‑347/12 , Wiering, Rn 54 ff) gleichartige und daher allenfalls anrechenbare liechtensteinische Leistung. Hinweise auf den Bezug einer solchen gleichartigen liechtensteinischen Familienleistung durch die Klägerin oder ihren Ehegatten sind im Verfahren nicht hervorgekommen. Es fehlt schon daher an den Voraussetzungen für die Anwendung der Koordinierungsnormen für Familienleistungen (Art 67 ff VO 883/2004 ) – zu denen auch das Kinderbetreuungsgeld zählt (Art 1 lit z VO 883/2004 ; RS0122905).

2.4 Die Familienbetrachtungsweise spielt schon nach dem Wortlaut des Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO 987/2009 nur bei der Anwendung von Art 67 und 68 VO 883/2004 eine Rolle (EuGH C‑32/18 , Moser, Rn 33, 34), also nicht im vorliegenden Fall. Die im zweiten Satz dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind (EuGH C‑32/18 , Moser, Rn 44). Dies hätte im vorliegenden Fall nur eine Bedeutung, wenn die Klägerin einen aus der Beschäftigung ihres Gatten abgeleiteten Anspruch auf Familienleistungen nach liechtensteinischem Recht geltend machte, was jedoch wie ausgeführt nicht der Fall ist.

3. Daraus folgt:

Auch unter der Annahme der von der Beklagten behaupteten vorrangigen Zuständigkeit Liechtensteins zur Gewährung von Familienleistungen wäre Liechtenstein zur Gewährung von Familienleistungen an den Ehegatten der Klägerin und daraus abgeleiteten Ansprüchen an die Klägerin vorrangig zuständig. Der Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto ist jedoch nicht von einer Beschäftigung abhängig und wird auch nicht aus der Beschäftigung des Ehegatten der Klägerin in Liechtenstein abgeleitet.

4. Der Revision ist daher nicht Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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