OGH 4Ob220/23s

OGH4Ob220/23s26.4.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden sowie den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Waldstätten und den Hofrat Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei *, vertreten durch die Breiteneder Rechtsanwalt GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. *, vertreten durch die Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, und 2. * GmbH & Co KG *, Deutschland, vertreten durch die Dorda Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 31.739,95 EUR sA, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 31. Oktober 2023, GZ 11 R 102/23k‑33, womit der Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 15. März 2023, GZ 5 Cg 30/21z‑26, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00220.23S.0426.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

1. Die Bezeichnung der zweitbeklagten Partei wird auf * berichtigt.

2. Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Einrede der (internationalen) Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts hinsichtlich der zweitbeklagten Partei verworfen und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens (auch) gegen die zweitbeklagte Partei unter Abstandnahme von diesem Zurückweisungsgrund aufgetragen wird.

Die zweitbeklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 12.905,46 EUR (darin 2.759,40 EUR Barauslagen und 1.693,41 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Zwischenstreits über die internationale Zuständigkeit binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

Zu 1.

[1] Die Parteienbezeichnung der zweitbeklagten Partei war gemäß § 235 Abs 5 ZPO wegen der am * 2024 im Handelsregister A des Amtsgerichts * eingetragenen formwechselnden Umwandlung wie aus dem Kopf ersichtlich zu berichtigen.

Zu 2.

[2] Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens ist die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts für eine Schadenersatzklage eines österreichischen Aktionärs gegen die in Deutschland ansässige Abschlussprüferin einer deutschen Aktiengesellschaft. Der Kläger nimmt die zweitbeklagte Abschlussprüferin zugleich mit einem in Österreich wohnhaften Aufsichtsratsmitglied der Aktiengesellschaft (Erstbeklagter) in Anspruch und stützt sich dabei auf den Deliktsgerichtsstand nach Art 7 Nr 2 EuGVVO und den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach Art 8 Nr 1 EuGVVO.

[3] Der Kläger begehrt den Klagsbetrag zur ungeteilten Hand als Schadenersatz. Er habe als Verbraucher 222 Stück Aktien im Zeitraum 13. 1. bis 7. 5. 2020 erworben und am 8. 12. 2020 mit enormen Kursverlusten wieder verkauft. Der Erstbeklagte sei von 2009 bis 2020 Mitglied des Aufsichtsrats der deutschen Aktiengesellschaft gewesen. In dieser Funktion habe er die Zweitbeklagte mit der Prüfung des Jahresabschlusses und des Lageberichts der Aktiengesellschaft beauftragt. Zumindest ab 2015 seien wesentliche Teile des Umsatzes der Aktiengesellschaft frei erfunden gewesen. Obwohl es ab 2008 zahlreiche Hinweise auf Malversationen („Luftbuchungen“) gegeben habe, habe weder der Erstbeklagte seine Kontrollbefugnisse als Aufsichtsrat wahrgenommen noch die Zweitbeklagte konkrete Nachforschungen angestellt. Die Zweitbeklagte habe vielmehr seit 2009 uneingeschränkte Bestätigungsvermerke erteilt, und zwar selbst noch nach Bekanntwerden der Bilanzmanipulation am 24. 4. 2019. Sowohl die Vorstände als auch die Beklagten als Aufsichtsratsmitglied bzw Abschlussprüferin hätten durch bewusstes und gewolltes Täuschen über kapitalmarktrelevante Tatsachen den Kläger dazu verleitet, Aktien zu erwerben, um dadurch sich oder die Aktiengesellschaft zu bereichern. Hätten die Beklagten gesetzes- und pflichtgetreu gehandelt, wäre dem Kläger kein Schaden entstanden, weil er nicht auf das Funktionieren der Kontrollmechanismen (Aufsichtsrat und Abschlussprüfer) sowie die Vollständigkeit und Richtigkeit der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage vertraut hätte, sondern die Manipulationen vor seinem Aktienkauf im Jahr 2020 bekannt geworden wären. Der Kläger hätte die Aktien dann nicht gekauft, sondern sein Geld gewinnbringend anders veranlagt.

[4] Die Zuständigkeit des Erstgerichts für das Verfahren auch gegen die Zweitbeklagte ergebe sich aus Art 7 Nr 2 und Art 8 Nr 1 EuGVVO. Der Gerichtsstand des Schadenseintritts sei gegeben, weil der Kläger die Kaufpreise jeweils über ein Verrechnungskonto seiner Bank in Österreich überwiesen habe. Die solidarische Haftung der Beklagten aus Delikt eröffne den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft.

[5] Die Zweitbeklagte wendet die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts ein. Der vom Kläger geltend gemachte Schaden sei durch den Kursverlust der Aktien und damit in Deutschland eingetreten. Erfolgs- und Handlungsort lägen also in Deutschland. Mangels Übereinstimmung der anwendbaren Rechtsgrundlagen, der Haftungsmaßstäbe und der Pflichtverletzungsvorwürfe gegen die beiden Beklagten liege keine einheitliche Sach- und Rechtslage vor, sodass ein gemeinsamer Gerichtsstand nach Art 8 Nr 1 EuGVVO ausscheide. Gegen diesen Gerichtsstand spreche auch, dass es für die Zweitbeklagte nicht vorhersehbar gewesen sei, am Wohnsitz eines einzelnen Aufsichtsratsmitglieds geklagt zu werden. Die Berufung auf den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft erfolge missbräuchlich, weil die Klage gegen den Erstbeklagten nur erhoben worden sei, um die Zuständigkeit eines österreichischen Gerichts für das Verfahren gegen die Zweitbeklagte zu begründen.

[6] Die Vorinstanzen verneinten die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts hinsichtlich der Zweitbeklagten und wiesen die Klage gegen diese zurück. Dem Kläger stehe kein Gerichtsstand nach Art 7 Nr 2 oder Art 8 Nr 1 EuGVVO offen. Ein österreichisches Konto zur Abwicklung von An‑ und Verkäufen von Aktien deutscher Aktiengesellschaften an deutschen Börsenplätzen sei kein ausreichender Anknüpfungspunkt für die Begründung eines Erfolgsorts iSd Art 7 Nr 2 EuGVVO in Österreich. Die Klage gegen den Erstbeklagten sei nach den Feststellungen des Erstgerichts nur erhoben worden, um die Zuständigkeit des Erstgerichts für die Klage gegen die Zweitbeklagte zu begründen. Die Berufung auf den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft gemäß Art 8 Nr 1 EuGVVO erfolge daher missbräuchlich.

[7] Der außerordentliche Revisionsrekurs des Klägers zielt auf die Bejahung der internationalen Zuständigkeit auch für die Zweitbeklagte ab.

[8] Die Zweitbeklagte beantragt die Zurück- oder Abweisung des Revisionsrekurses.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.

[10] 1. Werden mehrere Personen zusammen geklagt, kann nach Art 8 Nr 1 EuGVVO eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vor dem Gericht des Ortes, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, geklagt werden, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten (Gerichtsstand der Streitgenossenschaft).

[11] 2. Mit den im Revisionsrekursverfahren allein maßgeblichen Fragen der (internationalen) Zuständigkeit für Klagen von österreichischen Aktionären gegen die Zweitbeklagte hat sich der Oberste Gerichtshof bereits wiederholt beschäftigt, erstmals in seiner Entscheidung 9 Ob 18/22w. Der neunte Senat hat ausführlich und unter Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sowie Stellungnahmen in der Literatur begründet, warum in einer Konstellation wie hier die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts im Verfahren gegenüber der Zweitbeklagten nach Art 8 Nr 1 EuGVVO gegeben ist.

[12] Dieser Rechtsansicht haben sich – trotz gegenteiliger Meinungen und Kritik der Literatur (Pimmer, Der europäische Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach Art 8 Nr 1 EuGVVO in Anlegerprozessen am Beispiel von Klagen gegen Aufsichtsratsmitglied und Abschlussprüfer, Zak 2022/43; Oberhammer, Deutsche Abschlussprüfer vor österreichischen Gerichten, ecolex 2022/633; Geroldinger, Konnexität nach Art 8 Nr 1 Brüssel Ia-VO: Tradiertes auf dem Prüfstand, JBl 2022, 268; sowie Geroldinger, Glosse zu 5 Ob 170/21t, JBl 2022, 184 [186 f]) – weitere Senate angeschlossen (6 Ob 128/22z; 8 Ob 113/22h; 2 Ob 186/23a; 5 Ob 73/23f).

[13] Dabei ist für den nun vorliegenden Fall insbesondere die Entscheidung 5 Ob 73/23f einschlägig, in der der fünfte Senat – anders als die beiden Vorinstanzen – die internationale Zuständigkeit bejahte, obwohl der Kläger die Klage gegen den Erstbeklagten nur im Versuch erhoben hatte, die Zuständigkeit des Gerichts für die Klage gegen die Zweitbeklagte zu begründen.

[14] 3. Die Zweitbeklagte zeigt in diesem Verfahren keine stichhaltigen Gründe auf, von dieser auch vom erkennenden Senat als zutreffend erachteten Rechtsprechung abzugehen.

[15] 3.1. Nach der soeben erwähnten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs gelten für den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach Art 8 Nr 1 EuGVVO insbesondere folgende Grundsätze (vgl 9 Ob 18/22w Rz 11–16):

[16] Die Zuständigkeitsvorschriften sollen in hohem Maß vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. Besondere Zuständigkeitsvorschriften sind, weil von der aufgestellten Grundregel des Gerichtsstands des Wohnsitzes des Beklagten abgewichen wird, eng auszulegen.

[17] Zur Anwendung des Art 8 Nr 1 EuGVVO muss zwischen den verschiedenen Klagen eines Klägers gegen verschiedene Beklagte ein Zusammenhang bestehen, der vom Gericht in den Mitgliedstaaten nach dem anwendbaren Recht (der lex causae) zu beurteilen ist. Ein ausreichender Sachzusammenhang ist dabei in der Regel zu bejahen, wenn die Entscheidung über den einen Anspruch vom anderen abhängt oder beide Ansprüche von der Lösung einer gemeinsamen Vorfrage abhängen. Ob die erhobenen Ansprüche auf derselben Rechtsgrundlage beruhen, ist dabei nach der jüngeren Judikatur des EuGH (C-98/06 , Freeport/Arnoldsson) nur noch einer von mehreren erheblichen Faktoren (9 Ob 18/22w Rz 16–18 mwN).

[18] 3.2. Dievom Rekursgericht implizit zum Ausdruck gebrachte Rechtsauffassung, der nach Art 8 Nr 1 EuGVVO erforderliche Sachzusammenhang zwischen den Klagen gegen die beiden Beklagten sei im konkreten Einzelfall gegeben, entspricht diesen Grundsätzen.

[19] Beide Klagen haben nicht nur ihren Ursprung in der Insolvenz der deutschen börsennotierten Finanzdienstleisterin, sondern der Kläger behauptet, dass ihm deshalb ein Schaden entstanden sei, weil die Beklagten ihn durch bewusstes und gewolltes Täuschen über kapitalmarktrelevante Tatsachen dazu verleitet hätten, Aktien zu erwerben. Nach den Klagsbehauptungen hätten also beide Beklagte gemeinsam durch ihre jeweils – wenn auch aus rechtlichen Gründen unterschiedlichen – Pflichtverletzungen (Unterlassungen von Kontroll- bzw Prüfpflichten) seinen Schaden herbeigeführt (kumulative Kausalität) und würden ihm dafür solidarisch haften. Die Ansprüche des Klägers gegen beide Beklagte sind auf dasselbe Interesse, nämlich Ersatz des Schadens aus den Aktienkäufen, gerichtet. Zudem stellt sich gegenüber beiden Beklagten die (Vor-)Frage, ob die Jahresabschlüsse der Zweitbeklagten tatsächlich unrichtig waren und nicht zuletzt, welche Investitionsentscheidung der Kläger bei Kenntnis aller Umstände getroffen hätte. In Ansehung dieser Tat- und Rechtsfragen besteht die Gefahr von einander widersprechenden Entscheidungen. Der Umstand, dass dennoch das Ergebnis des Verfahrens für die beiden Beklagten unterschiedlich sein kann, schadet nicht (vgl 9 Ob 18/22w Rz 13).

[20] 3.3. Erwägungsgrund 15 der EuGVVO nennt zwar als Normziel die Vorhersehbarkeit für den Beklagten, vor welchem Gericht er verklagt werden kann. Sie ist aber kein eigenes Kriterium neben dem Sachzusammenhang der Klagen, sondern füllt diesen lediglich aus. Das Argument, dass ein Abschlussprüfer nicht damit rechnen müsse, dass er von Aktionären in anderen EU-Mitgliedstaaten geklagt werde, weil dort ein Aufsichtsratsmitglied der von ihm geprüften Gesellschaft seinen Wohnsitz habe, lässt die Besonderheit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft unberücksichtigt (9 Ob 18/22w Rz 22).

[21] Immer, wenn ein Geschädigter zwei oder mehrere Schädiger in einer Klage wegen kumulativer Herbeiführung des Schadens in Anspruch nimmt, ist es für den oder die Mitbeklagten nie gänzlich vorhersehbar, welche Schädiger der Kläger mit seiner Klage belangen und in welchem Staat der (Haupt-)Beklagte zum Zeitpunkt der Klageeinbringung seinen (Wohn-)Sitz haben wird. Sehr wohl ist objektiv für einen Schädiger vorhersehbar, dass die Zuständigkeitsvorschrift des Art 8 Nr 1 EuGVVO es einem Geschädigten ermöglicht, bei Vorliegen des erforderlichen Sachzusammenhangs zwischen Klagen gegen mehrere Schädiger die Klage am jeweiligen Gerichtsstand jedes einzelnen Schädigers gegen alle Schädiger einzubringen. Dass der Anspruch gegen die Abschlussprüferin einerseits und gegen den Aufsichtsrat andererseits nach unterschiedlichen nationalen Bestimmungen zu beurteilen sein könnte, spricht nicht gegen die Anwendung des Art 8 Nr 1 EuGVVO im konkreten Fall (5 Ob 73/23f Rz 35).

[22] 4. Entgegen der Beurteilung des Rekursgerichts erfolgt die Inanspruchnahme des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nach Art 8 Nr 1 EuGVVOnicht missbräuchlich.

[23] 4.1. Anders als Art 8 Nr 2 EuGVVO („es sei denn, dass die Klage nur erhoben worden ist, um diese Person dem für sie zuständigen Gericht zu entziehen“) enthält der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach Art 8 Nr 1 EuGVVO keinen ausdrücklichen Missbrauchsvorbehalt.

[24] Dennoch eröffnet der Europäische Gerichtshof auch beim Gerichtsstand der Streitgenossenschaft eine Missbrauchskontrolle (C‑103/05 , Reisch/Kiesel; C‑98/06 , Freeport/Arnoldsson; C‑352/13 , CDC Hydrogen Peroxide SA; auch 4 Ob 221/12x [Pkt 2.1]). Dabei liegt eine Zweckentfremdung dieses Gerichtsstands aber nur vor, wenn beweiskräftige Indizien den Schluss zulassen, dass der Kläger die Voraussetzungen für den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft künstlich herbeigeführt oder aufrechterhalten hat, etwa durch kollusives Zusammenwirken der betreffenden Parteien (9 Ob 18/22w Rz 24 mwN).

[25] 4.2. Allgemein gültige Regeln dafür, welche Verhaltensweisen eines Klägers als rechtsmissbräuchlich anzusehen sind und daher der Berufung auf den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft entgegenstehen, lassen sich nicht aufstellen, weil dies typischerweise von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängt. Es besteht daher kein Anlass für die vom Kläger angeregte Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens (so auch 5 Ob 73/23f Rz 39).

[26] 4.3. Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Oberste Gerichtshof wiederholt in vergleichbaren Konstellation die Verneinung von Rechtsmissbrauch jeweils als vertretbar erachtet (9 Ob 18/22w; 6 Ob 128/22z; 8 Ob 113/22h; 2 Ob 186/23a): Mit der bloßen Behauptung, es sei evident, dass die Klage gegen den Erstbeklagten nur erhoben worden sei, um einen Gerichtsstand in Österreich zu konstruieren, hatte die Zweitbeklagte die von der Rechtsprechung geforderten beweiskräftigen Indizien für das künstliche Herbeiführen oder Aufrechterhalten des Gerichtsstands nicht dargelegt. Vielmehr hatte der Kläger nachvollziehbar begründet, weshalb er mit der Klage auch den Erstbeklagten als Aufsichtsratsmitglied in Anspruch nehme. Aus welchen Erwägungen der Kläger kein anderes Mitglied des Aufsichtsrats zur Haftung heranzog, war nicht ausschlaggebend (9 Ob 18/22w Rz 25).

[27] 4.4. In der Entscheidung 5 Ob 73/23f bejahte der fünfte Senat bei einem zum vorliegenden Fall insoweit wortgleichen Sachverhalt den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft, obwohlder Kläger die Klage gegen den Erstbeklagten nur im Versuch erhoben hatte, die Zuständigkeit des Gerichts für die Klage gegen die Zweitbeklagte zu begründen:

[28] Die Intention des Klägers, mit der gleichzeitigen Klageführung gegen den in Österreich wohnhaften Erstbeklagten auch eine internationale Zuständigkeit für eine Klage gegen die Zweitbeklagte zu bewirken, die in einem sachlichen Zusammenhang mit der Klage gegen den Erstbeklagten steht, bedeutet für sich allein keinen Rechtsmissbrauch. Der Kläger hat die Voraussetzungen für die Anwendung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nach Art 8 Nr 1 EuGVVO damit weder künstlich herbeigeführt noch aufrecht erhalten, insbesondere hat er nicht mit dem „Ankerbeklagten“ kollusiv zusammengewirkt, um der Zweitbeklagten ihren allgemeinen Gerichtsstand zu entziehen (5 Ob 73/23f Rz 42).

[29] Wenn der Kläger einen schlüssig begründeten Anspruch gegen den „Ankerbeklagten“ geltend macht, der nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in einem ausreichenden Sachzusammenhang mit dem Anspruch gegen die Zweitbeklagte steht, ist ihm der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft eröffnet. Die Entscheidung des Klägers, bei Vorhandensein mehrerer Streitgenossen die Klage gegen alle in jenem Mitgliedstaat eines Streitgenossen zu erheben, in dem der Kläger selbst seinen Wohnsitz hat, und die damit verbundene Konsequenz, dass den anderen Streitgenossen damit ihr allgemeiner Gerichtsstand entzogen ist, sind dem besonderen Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach Art 8 Nr 1 EuGVVO immanent (5 Ob 73/23f Rz 42).

[30] 4.5. Die Zweitbeklagte kritisiert diese Entscheidung in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, weil der fünfte Senat unzulässigerweise die Feststellungen des Erstgerichts umgedeutet habe.

[31] Dies trifft nicht zu. Der fünfte Senat unterstellte dem Kläger keine weiteren oder anderen Motive als die vom Erstgericht festgestellten. Vielmehr beurteilte er die Prozesstaktik des Klägers, zusätzlich zur deutschen Zweitbeklagten den österreichischen Erstbeklagten zu klagen, um die internationale Zuständigkeit eines österreichischen Gerichts zu begründen, als eine zulässige Inanspruchnahme eines in der EuGVVO eröffneten Gerichtsstands der Streitgenossenschaft.

[32] Die Wahl des Gerichtsstands nach Art 8 Nr 1 EuGVVO ist bei Vorliegen der Voraussetzungen ja für sich genommen nichts Unredliches oder gar Rechtsmissbräuchliches. Bei mehreren potentiellen Anspruchsgegnern muss ein Kläger immer seine(n) Prozessgegner festlegen, wobei er faktische Kriterien wie die verfügbaren Beweismittel und die Liquidität sowie rechtliche Kriterien wie mögliche Gerichtsstände, anwendbares Recht und daraus folgende Anspruchsvoraussetzungen bedenken wird. Eine dem Kläger vorteilhaft scheinende Auswahl der Prozessgegner (und damit eines Gerichtsstands) indiziert ohne besondere Begleitumstände keine Unredlichkeit, geschweige denn Rechtsmissbrauch.

[33] 5. Die Inanspruchnahme des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nach Art 8 Nr 1 EuGVVO erfolgte somit nicht rechtsmissbräuchlich. Der Revisionsrekurs ist daher berechtigt.

[34] Einer Prüfung, ob eine internationale Zuständigkeit der österreichischen Gerichtsbarkeit auch auf den Deliktsgerichtsstand nach Art 7 Nr 2 EuGVVO gestützt werden könnte, bedarf es nicht mehr.

[35] 6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 Abs 1 Satz 3 iVm §§ 41, 50 ZPO.

[36] Die Zweitbeklagte hat dem Kläger die Kosten des Zwischenstreits über die internationale Zuständigkeit zu ersetzen (RS0035955 [T4, T8, T17]; RS0036009 [T1]), soweit sie vom allgemeinen Verfahrensaufwand klar abgrenzbar sind (RS0036009 [T3]). Kosten von Prozesshandlungen, die im fortgesetzten Verfahren verwertbar sind, sind im Rahmen der Entscheidung über die Kosten des Zwischenstreits nicht zuzusprechen (4 Ob 173/19y [Pkt 6] uva).

[37] Im vorliegenden Fall sind die Klage und der Fortsetzungsantrag nach einer Ruhensvereinbarung auch im fortgesetzten Verfahren verwertbar. Klar abgrenzbar sind dagegen die Kosten der vorbereitenden Schriftsätze und der beiden Tagsatzungen über die Unzuständigkeitseinrede sowie des Rechtsmittelverfahrens in zweiter und dritter Instanz.

[38] Zu den verzeichneten Kosten sind folgende Punkte anzumerken: Ein Streitgenossenzuschlag gebührt im Zuständigkeitsstreit nicht, weil an diesem nur die Zweit-, nicht aber der Erstbeklagte beteiligt war (vgl RS0106174 [T1] zu einem Zwischenstreit nach Antrag nur einer Partei auf Zurückweisung der Nebenintervention). Auch wenn eine Urkunde für die Übermittlung im ERV aufgrund ihrer Größe in mehreren Teilen übermittelt wird, sind diese Eingaben nicht zusätzlich zum vorbereitenden Schriftsatz jeweils als Urkundenvorlagen nach TP1 zu honorieren. Für die Rechtsmittel steht dem Kläger lediglich der ERV-Erhöhungsbetrag für Folgeeingaben zu (RS0126594).

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