OGH 9ObA77/23y

OGH9ObA77/23y23.11.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Fichtenau als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Hargassner und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Karin Koller (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Rechtssacheder klagenden Partei A*, vertreten durch Dr. Gerhard Steiner, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei E* Aktiengesellschaft, *, vertreten durch Dr. Farah Abu‑Jurji, Rechtsanwalt in Wien, wegen Entlassungsanfechtung (Streitwert 24.000 EUR), in eventu 65.724 EUR brutto sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse: 42.538,03 EUR brutto sA)gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. Juli 2023, GZ 10 Ra 20/23v‑24, mit dem das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 19. Oktober 2022, GZ 30 Cga 102/22x‑14, teilweise bestätigt und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:009OBA00077.23Y.1123.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden im Umfang der Abweisung des Eventualbegehrens, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 42.538,03 EUR samt 9,20 % Zinsen über dem am Tag nach dem Eintritt der Fälligkeit geltenden Basiszinssatz seit 4. August 2022 zu zahlen, aufgehoben und die Rechtssache in diesem Umfang an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Der Kläger war bei der Beklagten seit 2011 angestellt. Mit Schreiben vom 26. Jänner 2021, zugegangen am 27. Jänner 2021, wurde er zum 30. April 2021 gekündigt. Dagegen brachte er beim Erstgericht zu 9 Cga 12/21f eine Kündigungsanfechtungsklage ein.

[2] Mit Schreiben vom 1. Juni 2021, dem Kläger und dem Klagevertreter zugestellt am 7. Juni 2021, sprach die Beklagte die Entlassung des Klägers für den Fall der Rechtsunwirksamkeit der mit Schreiben vom 26. Jänner 2021 ausgesprochenen Kündigung aus.

[3] Dem Klagebegehren auf Rechtsunwirksamerklärung der Kündigung wurde mit (rechtskräftigem) Urteil des Erstgerichts vom 27. Juni 2022 zu 9 Cga 12/21f stattgegeben; das Urteil wurde den Parteien am 4. August 2022 zugestellt.

[4] Der Kläger begehrte in seiner am 16. August 2022 beim Erstgericht eingebrachten Klage, die Entlassung vom 7. Juni 2021 für rechtsunwirksam zu erklären, in eventu die Zahlung von 65.724 EUR brutto sA (zwölf monatliche Bruttogehälter in Höhe von jeweils 5.477 EUR für den Zeitraum Mai 2021 bis April 2022). Die Eventualentlassung sei unwirksam. Er habe keinen Entlassungsgrund gesetzt. Unter Einhaltung der Kündigungsfristen und -termine und unter Berücksichtigung des Urteils des Erstgerichts zu 9 Cga 12/21v, wonach die Kündigung zum 30. April 2021 wegen Sozialwidrigkeit unwirksam sei, sei das Dienstverhältnis noch aufrecht und wäre eine Kündigung frühestens mit Pensionsantritt des Klägers mit 1. Jänner 2023 möglich. So lange gebühre ihm die fiktiv berechnete Kündigungsentschädigung infolge der ungerechtfertigten Entlassung. Fällig seien die ab Mai 2021 bis inklusive August 2022 angefallenen monatlichen Bruttobeträge. Die Anspruchsgrundlage sei dem Kläger mit Rechtswirksamwerden der Eventualentlassung und Zugehen des Urteils im Verfahren 9 Cga 12/21v bekannt geworden.

[5] Die Beklagte bestritt. Die Eventualentlassung sei wirksam und habe das Dienstverhältnis jedenfalls beendet. Die Entlassungsanfechtung sei verspätet eingebracht worden. Die in eventu begehrte Kündigungsentschädigung sei nach § 34 AngG verfallen. Fälligkeitsauslösendes Ereignis sei die Entlassung gewesen, die dem Kläger am 7. Juni 2021 zugegangen sei. Die Entlassung sei jedenfalls gerechtfertigt, weil der Kläger wahrheitswidrig behauptet habe, zwei für die Beklagte tätige Personen hätten ihn zu einer Falschaussage vor Gericht in einer anderen Causa zu bewegen versucht.

[6] Das Erstgericht wies das Haupt- und das Eventualklagebegehren zurück. Die prozessuale zweiwöchige Frist zur Anfechtung der Entlassung gelte auch für die Anfechtung einer Eventualentlassung, sodass die Anfechtung verspätet erfolgt sei. Das Dienstverhältnis habe infolge nicht (rechtzeitig) angefochtener Entlassung spätestens zum Entlassungszeitpunkt geendet, sodass das Begehren auf Leistung der Kündigungsentschädigung nach Ablauf der Frist des § 34 AngG gestellt worden und daher verspätet sei.

[7] Das Berufungsgericht gab dem als Berufung bezeichneten Rekurs des Klägers gegen die Zurückweisung des Hauptbegehrens (Entlassungsanfechtung) nicht Folge und bestätigte (rechtskräftig) die angefochtene Entscheidung mit der Maßgabe, dass sie in Form eines Beschlusses ergehe. Hinsichtlich der „Zurückweisung“ des Eventualbegehrens bestätigte es das angefochtene Urteil im Umfang von 42.538,03 EUR als Teilurteil mit der Maßgabe, dass es die Klage in diesem Umfang abwies; diesbezüglich ließ es die ordentliche Revision nicht zu. Im übrigen Umfang (Leistungsbegehren über 23.185,97 EUR) hob es das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache insofern an das Erstgericht zurück. Soweit für das Revisionsverfahren relevant ging es davon aus, dass der Anspruch auf Kündigungsentschädigung, der sich auf den Zeitraum ab der Entlassung (8. Juni 2021) bis einschließlich Jänner 2022 beziehe, nach § 34 AngG verfallen sei.

[8] Gegen den die Abweisung des Eventualbegehrens bestätigenden Teil der Berufungsentscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinn einer Stattgabe des Eventualbegehrens über 42.538,03 EUR brutto sA abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision des Klägers ist zulässig, weil die Berufungsentscheidung einer Korrektur bedarf; sie ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[11] 1. Vorauszuschicken ist, dass Gegenstand des Revisionsverfahrens ausschließlich das Eventualbegehren auf Zahlung einer Kündigungsentschädigung (für den Zeitraum vom 8. Juni 2021 bis 31. Jänner 2022) von 42.538,03 EUR ist. Es ist auch nicht (mehr) strittig, dass die Eventualentlassung grundsätzlich wirksam wurde. Der Kläger wendet sich vielmehr gegen die Beurteilung der Vorinstanzen, nach der sein Anspruch auf Kündigungsentschädigung als verfallen anzusehen sei. Er macht geltend, dass im Zeitpunkt des Ausspruchs der Eventualentlassung das Kündigungsanfechtungsverfahren noch nicht beendet gewesen sei, sodass nicht klar gewesen sei, in welchem Ausmaß und ob er überhaupt einen Anspruch auf Gehalt oder Kündigungsentschädigung über den Zeitpunkt der Kündigung zum 30. April 2021 hinaus haben würde. Der Einwand des Verfalls der Ansprüche verstoße gegen Treu und Glauben, weil ein Zuwarten mit der Geltendmachung seiner Ansprüche auch der Beklagten gedient habe.

Dazu wurde erwogen:

[12] 2.1. Nach § 34 Abs 1 AngG müssen Ersatzansprüche wegen vorzeitiger Entlassung im Sinn des § 29 AngG bei sonstigem Ausschluss binnen sechs Monaten gerichtlich geltend gemacht werden. Diese Bestimmung normiert eine Fallfrist auf deren Einhaltung (nur) der Dienstgeber verzichten kann, insbesondere dadurch, dass er sich nicht auf die Versäumung dieser Frist beruft. Daraus folgt, dass diese Frist nicht von Amts wegen, sondern – wie die Verjährung (§ 1501 ABGB) – nur bei einem entsprechenden Vorbringen des beklagten Dienstgebers vom Gericht zu beachten ist (RS0029673; RS0029697). Nach allgemeinen Grundsätzen (RS0037797; RS0109287) trifft diesen somit die Behauptungs- und Beweislast für die den Verfall begründenden Umstände, insbesondere den Beginn der Verfallsfrist (zur Verjährung: RS0034456 [T4]; RS0034198 [T1, T2]).

[13] 2.2. Der Verfall der vom Kläger geltend gemachten Ansprüche ist daher ausschließlich im Rahmen der von der Beklagten im Verfahren erster Instanz erhobenen Einwendung zu prüfen, wonach die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche auf Kündigungsentschädigung mit der Entlassung am 7. Juni 2021 fällig geworden seien und die Klage mehr als sechs Monate danach eingebracht worden sei.

[14] Aus diesem Vorbringen ist der eingewendete Verfall im vorliegenden Fall aber – entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen – nicht abzuleiten.

[15] 3.1. Obwohl § 34 Abs 2 AngG für den Beginn der Verfallsfrist nach seinem Wortlaut (generell) auf den Tag der Beendigung des Dienstverhältnisses abstellt, ist es ständige Rechtsprechung, dass bei Ansprüchen, die erst nach der Auflösung des Dienstverhältnisses fällig werden, der Lauf der Ausschlussfrist des § 34 AngG erst mit dem Tag der Fälligkeit beginnt (RS0029690; RS0028739). Das ist (nur) bei Ansprüchen nach § 29 AngG, die sofort gefordert werden können, der Ablauf des Tages der Beendigung des Dienstverhältnisses. Bei Ansprüchen, die erst nach der Auflösung des Dienstverhältnisses fällig werden, beginnt der Lauf der Ausschlussfrist des § 34 AngG hingegen erst, sobald der Anspruch erhoben werden konnte (RS0029690 [T2]). Dies steht mit dem im Verjährungsrecht geltenden allgemeinen Grundsatz im Einklang, dass die Verjährungsfrist mit der objektiven Möglichkeit der Geltendmachung zu laufen beginnt (RS0034382).

[16] 3.2. Im vorliegenden Fall ist aber zu beachten, dass im Zeitpunkt des Ausspruchs der (Eventual-)Entlassung über die anhängige Kündigungsanfechtungsklage noch nicht entschieden war.

[17] 4.1. Die Klage auf Anfechtung einer Kündigung nach § 105 Abs 3 ArbVG ist eine Rechtsgestaltungsklage. Hat die Anfechtungsklage Erfolg, wird die Kündigung gemäß § 105 Abs 7 ArbVG rückwirkend für unwirksam erklärt (RS0052018). Bis dahin ist die Kündigung schwebend rechtswirksam (RS0052018 [T8]). Dass ein Rechtsgestaltungsurteil vorliegt, bedeutet, dass erst die Aufhebung (Rechtsunwirksamerklärung) der Kündigung die Rechtslage verändert, mag dies auch rückwirkend geschehen (RS0052018 [T9]; 8 ObS 10/15a Pkt 2.1).

[18] 4.2. Kündigt der Dienstgeber den Dienstnehmer, ficht dieser die Kündigung nach § 105 ArbVG an und entscheidet das Gericht über die Anfechtungsklage nicht bis zum Ablauf der Kündigungsfrist, so endet – aufgrund der zumindest vorläufigen Rechtswirksamkeit der Kündigung – das Arbeitsverhältnis. In der Zeit zwischen dem Ende der Kündigungsfrist und dem der Anfechtungsklage stattgebenden Urteil bestehen vorweg keine wechselseitigen Leistungs- und Entgeltpflichten (8 ObA 47/18x Pkt 1.2; 8 ObS 10/15a Pkt 2.1). Der Arbeitnehmer kann in dieser Zwischenzeit weder die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses noch die Weiterzahlung des Entgelts verlangen (RS0051455 [T1]); die nach § 1155 ABGB nachzuzahlenden Entgeltansprüche werden (ungeachtet des § 61 ASGG) allgemein mit der Rechtskraft des stattgebenden Anfechtungsurteils fällig (RS0130455). Aus diesem Grund können Entgeltansprüche auch erst ab der Rechtsgestaltung infolge Stattgebung der Anfechtungsklage verjähren (RS0051455).

[19] 4.3. Da mangels Vorliegens eines (rechtskräftigen) Rechtsgestaltungsurteils im Zeitpunkt des Ausspruchs der Entlassung kein Dienstverhältnis bestand, das vorzeitig beendet werden hätte können, kann auch der vom Kläger aus der behaupteten ungerechtfertigten (Eventual-)Entlassung resultierende Anspruch auf Kündigungsentschädigung vor dieser Rechtsgestaltung nicht entstanden sein, mag die nachfolgende Rechtsgestaltung auch rückwirkend erfolgt sein. Hier entstand der Anspruch auf Kündigungsentschädigung (wenngleich rückwirkend) erst mit der Rechtskraft des Urteils, das die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung aussprach. Erst ab diesem Zeitpunkt war dem Kläger die Geltendmachung eines Entgeltanspruchs für einen nach dem Ende der Kündigungsfrist liegenden Zeitraum oder eines Anspruchs auf Kündigungsentschädigung (soweit sie aus einer nach dem Ende der Kündigungsfrist ausgesprochenen Eventualentlassung resultiert) objektiv möglich.

[20] Im Anlassfall wurde das die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung aussprechende (erstinstanzliche) Urteil den Parteien am 4. August 2022 zugestellt. Der Anspruch auf Kündigungsentschädigung für den (revisionsgegenständlichen) Zeitraum von 8. Juni 2021 bis 31. Jänner 2022 kann mangels Möglichkeit früherer Geltendmachung somit zum Zeitpunkt der Einbringung der gegenständlichen Klage am 16. August 2022 noch nicht verfallen sein.

[21] 4.4. Dem steht nicht entgegen, dass die (prozessuale) Frist des § 105 Abs 4 ArbVG für die Anfechtung einer Eventualkündigung (oder einer Eventualentlassung) nach ständiger Rechtsprechung bereits mit dem im Gesetz genannten Zeitpunkt zu laufen beginnt, ohne dass es auf materiell‑rechtlich bedeutsame Aspekte, wie der Anhängigkeit eines Anfechtungsverfahrens wegen einer früheren Kündigung, ankäme (RS0052033 [T6]).

[22] 4.5. Der Verfallseinwand der Beklagten geht damit fehl. Auf die weiteren Revisionsausführungen, wonach der Verfallseinwand gegen Treu und Glauben verstoße, ist somit nicht mehr einzugehen.

[23] 5.1. Da Feststellungen zu den weiteren strittigen Umständen (der Berechtigung der Entlassung und der Dauer der [fiktiven] Kündigungsfrist) fehlen, ist das Verfahren ergänzungsbedürftig. Der Revision des Klägers war daher im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags Folge zu geben, die Entscheidungen der Vorinstanzen im revisionsgegenständlichen Umfang aufzuheben und die Rechtssache (auch) insofern an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

[24] Im fortgesetzten Verfahren wird zu prüfen sein, ob die Entlassung des Klägers berechtigt war. Sollte sich dabei herausstellen, dass dies nicht der Fall ist, wird das Erstgericht überdies mit dem Kläger zu erörtern haben, ob und aus welchem Grund er eine Kündigungsentschädigung für eine längere als die in § 20 AngG vorgesehene (fiktive) Kündigungsfrist fordert, und gegebenenfalls auch dazu Tatsachenfeststellungen zu treffen haben, die eine Beurteilung der Dauer der (fiktiven) Kündigungsfrist ermöglichen.

[25] 5.2. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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