OGH 9ObA68/23z

OGH9ObA68/23z18.10.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits  und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer und Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Parteien 1. A*, 2. Ö*, 3. P*, sämtliche vertreten durch Dr. Christoph Arbeithuber, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagten Parteien 1. V* GmbH, *, und 2. G*, beide vertreten durch Dr. Mario Höller‑Prantner, Rechtsanwalt in Linz, wegen zu 1.) 119.537,38 EUR sA, zu 2.) 61.945,95 EUR sA und zu 3.) 58.223,67 EUR sA sowie Feststellung, über die außerordentliche Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 11. Juli 2023, GZ 12 Ra 28/23h‑34, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:009OBA00068.23Z.1018.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der beklagten Parteien wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die erstbeklagte Gesellschaft mbH wurde mit dem Austausch von Glaselementen beauftragt. Bei diesen Arbeiten stürzte der bei der Erstbeklagten beschäftigte S* aus ca 7,5 Meter Höhe mit der auszutauschenden 120–130 Kilo wiegenden Glasscheibe zu Boden und verletzte sich dabei schwer. Die klagenden Sozialversicherungsträger haben an den Verletzten Leistungen aus der gesetzlichen Unfall‑, Kranken‑ und Pensionsversicherung erbracht. Mit der vorliegenden Klage begehren sie von den Beklagten deren Ersatz.

[2] Die Vorinstanzen stellten mit Teilzwischenurteil fest, dass dieLeistungsbegehren dem Grunde nach zu Recht bestehen. Das grob fahrlässige Verhalten des Zweitbeklagten begründe eine Haftung der Erstbeklagten nach § 335 Abs 1 iVm § 334 Abs 1 ASVG. Der Zweitbeklagte selbst hafte als Vertreter des Dienstgebers iSd §§ 334 Abs 1, 333 Abs 4 ASVG. Das Berufungsgericht ließ die Revision nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

[3] In ihrer außerordentlichen Revision zeigen die Beklagten keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

[4] 1.1. Der originäre Ersatzanspruch eines Sozialversicherungsträgers nach § 334 Abs 1 ASVG setzt nach ständiger Rechtsprechung grobes Verschulden des Dienstgebers selbst voraus; das Verhalten anderer Personen wird ihm grundsätzlich nicht nach § 1313a oder § 1315 ABGB zugerechnet (RS0085276). Nach § 335 Abs 1 ASVG ist § 334 ASVG allerdings (ua) auch dann anzuwenden, wenn der Dienstgeber eine juristische Person ist und der Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig durch ein „Mitglied des geschäftsführenden Organs der juristischen Person […] verursacht worden ist“.

[5] 1.2. In der Entscheidung 2 Ob 73/17z (zust Auer‑Mayer in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 335 ASVG Rz 5; krit aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten DRdA 2018/42, 426 [Schoditsch]) hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass § 335 Abs 1 ASVG auch dann anzuwenden ist, wenn ein Arbeitsunfall zwar nicht durch das vorsätzliche oder grob fahrlässige Verhalten eines Mitglieds des geschäftsführenden Organs, wohl aber durch ein solches Verhalten eines Repräsentanten der juristischen Person verursacht wurde.

[6] 1.3. In ihrer außerordentlichen Revision üben die Beklagten keine Kritik an dieser Entscheidung, sondern fordern aus Gründen der Rechtssicherheit eine Klarstellung des Obersten Gerichtshofs im Zusammenhang mit der mittlerweile ergangenen Entscheidung 9 ObA 102/22y (ecolex 2023/147, 236 [Mazal]). Diese Entscheidung ist hier aber nicht einschlägig, weil es im zugrundeliegenden Fall gerade nicht um die Haftung einer juristischen Person für ihre Repräsentanten ging, sondern um die Haftung einer natürlichen Person aus eigenem Organisationsverschulden in seiner Funktion als Arbeitgeber. Daraus folgt aber nicht, dass im Falle grober Fahrlässigkeit der Arbeitgeber immer haftet. Nach § 334 Abs 1 ASVG hat der Arbeitgeber den Trägern der Sozialversicherung alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen, wenn er den Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat. Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn er seine ihn als Arbeitgeber treffenden Pflichten aus dem Arbeitnehmerschutz dadurch verletzt hat, dass er zahlreiche konkrete an ihn als Arbeitgeber adressierte Arbeitnehmerschutzvorschriften außer Acht gelassen hat, sondern auch dann, wenn er kein ausreichendes Kontrollsystem im Betrieb eingerichtet hat, um Verstöße gegen Arbeitnehmerschutzvorschriften hintanzuhalten (9 ObA 102/22y). Insofern verlangt § 334 Abs 1 ASVG, dass der Arbeitgeber selbst vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat (RS0085276). Die Haftung des Arbeitgebers für seine Repräsentanten gründet hingegen darauf, dass das Verschulden von Personen, die in der Organisation der juristischen Person eine leitende oder überwachende Stellung innehaben und dabei mit eigenverantwortlicher Entscheidungsbefugnis ausgestattet sind, der juristischen Person (Arbeitgeber) zuzurechnen ist, weil diese als solche nicht deliktsfähig ist (2 Ob 73/17z). In den von der Revision angesprochenen Fällen, in denen den Arbeitgeber kein Verschulden am Arbeitsunfall trifft, weil er seine ihn treffenden Pflichten eingehalten hat und der Arbeitsunfall weder durch eine ihm gemäß § 333 Abs 4 ASVG gleichgestellte Person noch durch Mitglieder des geschäftsführenden Organs (§ 335 Abs 1 ASVG) oder seine Repräsentanten (§ 335 Abs 1 ASVG analog) verursacht wurde, ist eine Ersatzpflicht gegenüber dem Sozialversicherungsträger zu verneinen.

[7] 2.1. Repräsentant ist jeder, der in verantwortlicher, leitender oder überwachender Funktion Tätigkeiten für die juristische Person ausübt (RS0009113 [T16; T33]). Auf das Erfordernis eines Wirkungskreises, der jenem eines Organs annähernd entspricht, kommt es dabei nicht an (RS0009113 [T12]). Lediglich Personen, die untergeordnete Tätigkeiten ausüben, kommen nicht in Betracht (RS0009113 [T13]). So hat die Rechtsprechung etwa einen Polier als Repräsentanten beurteilt, der den Austausch von Fensterblechen angeordnet hat, obwohl beim oberen Gebäudeteil das Gerüst noch ungesichert war (8 Ob 84/02i), ebenso einen Baustellenkoordinator, der in dieser Eigenschaft für seine Dienstgeberin als Projektleiterin tätig war (2 Ob 162/08z) und den für eine Straßenbaustelle Bauleitenden Ingenieur (2 Ob 107/98v).

[8] 2.2. Ob jemand als Repräsentant einer juristischen Person anzusehen ist, richtet sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls, weshalb darin regelmäßig keine Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO liegt (3 Ob 180/03x; 6 Ob 186/22d Rz 7). Dass eine Rechtsprechung zu einem vergleichbaren Sachverhalt fehlt, begründet noch nicht das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage (RS0122015 [T4]). Die übereinstimmende Rechtsauffassung der Vorinstanzen, der Zweitbeklagte sei in verantwortlicher, leitender und überwachender Funktion für die Erstbeklagte tätig gewesen, bei diesem Aufgabenbereich könne jedenfalls nicht mehr von einer untergeordneten Tätigkeit ausgegangen werden, bewegt sich im Rahmen der Grundsätze der Rechtsprechung zur Qualifikation eines Arbeitnehmers als Repräsentant.

[9] 2.3. Der Zweitbeklagte hat auf den Baustellen der Erstbeklagten regelmäßig die Leitung inne, ist Ansprechpartner vor Ort und sorgt unter anderem dafür, dass die vom Geschäftsführer der Erstbeklagten erteilten Anordnungen und Weisungen zur Einhaltung der Arbeitnehmerschutzvorschriften von den anwesenden Arbeitern auch eingehalten werden. Auch am Tag des Unfalls oblag dem Zweitbeklagten als einzigem Facharbeiter und Vorarbeiter die Verantwortung über die Baustelle. Er hatte an diesem Tag die Leitung über seine Arbeitskollegen und die durchzuführenden Arbeiten inne und war für die Einhaltung der vom Geschäftsführer erteilten Anordnungen und Weisungen zur Einhaltung der Arbeitnehmerschutzvorschriften von sämtlichen Arbeitern verantwortlich.

[10] 2.4. Wenn das Berufungsgericht davon ausgegangen ist, dass diese dem Zweitbeklagten von der Erstbeklagten übertragene Leitung der Baustelle und die damit verbundene Verantwortung eine „eigenverantwortliche“ Entscheidungsbefugnis begründet, so ist dies nicht zu beanstanden. Eine Leitungsbefugnis des einzigen auf der Baustelle tätigen Facharbeiters und Vorarbeiters ohne eigenverantwortliche Entscheidungsbefugnis ist schwer denkbar. Wie der vorliegende Fall beispielhaft zeigt, hat der Zweitbeklagte aus eigenem – entgegen der mit dem Geschäftsführer vorbesprochenen Vorgangsweise – den kurz darauf verunglückten Mitarbeiter veranlasst, nicht auf den Kran samt Arbeitskorb zu warten, sondern zwecks Demontage der Glasscheibe auf eine in 7,5 m Höhe befindliche Brüstung zu steigen, wodurch es zu dem Absturz kommen konnte. Zudem hatte der Zweitbeklagte nach den Feststellungen auch nicht nur auf der konkreten Baustelle diese Befugnis inne, sondern hatte vielmehr regelmäßig die Leitung von Baustellen mit dem festgestellten Aufgaben- und Verantwortungsbereich über. Gerade aus der ihm von der Erstbeklagten gegenüber allen Arbeitnehmern übertragenen Verantwortung für die Einhaltung der Arbeitnehmerschutzvorschriften an Ort und Stelle leitet sich notwendigerweise eine eigenständige Kontroll- und Weisungsbefugnis ab. Richtig ist zwar, dass nicht jeder Aufseher im Betrieb als Repräsentant einer juristischen Person angesehen werden kann. Die Ansicht, nach den konkreten Umständen sei dies hier aber der Fall, hält sich aber innerhalb des dem Berufungsgericht offenstehenden Ermessensspielraum.

[11] 3.1. In der angesprochenen Entscheidung 9 ObA 102/22y Rz 52 hat der Oberste Gerichtshof die herrschende Rechtsprechung zum Begriff der groben Fahrlässigkeit zusammengefasst. Danach ist grobe Fahrlässigkeit iSd § 334 Abs 1 ASVG dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit iSd § 1324 ABGB gleichzusetzen (RS0030510). Grobe Fahrlässigkeit ist immer dann anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar war (RS0030644). Nicht jede Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften bedeutet für sich allein aber bereits das Vorliegen grober Fahrlässigkeit (RS0052197; RS0026555). Andererseits kann aber auch schon ein einmaliger Verstoß gegen Schutzvorschriften grobe Fahrlässigkeit bewirken, wenn ein Schadenseintritt nach den gegebenen Umständen des Einzelfalls als wahrscheinlich voraussehbar ist (RS0030622). Bei der Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist nicht der Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern der Schwere des Sorgfaltsverstoßes und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besondere Bedeutung beizumessen (RS0085332; RS0031127 [T22]). Bei der Einschätzung der Schwere des Sorgfaltsverstoßes kommt es insbesondere auch auf die Gefährlichkeit der Situation an (RS0022698).

[12] 3.2. Ob jemand einen Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat, ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (RS0085228 [T1]) und stellt – von Fällen einer vom Obersten Gerichtshof im Sinne der Rechtssicherheit wahrzunehmenden Fehlbeurteilung abgesehen – keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0085228 [T15]). Die angefochtene Entscheidung, die das Fehlverhalten des Zweitbeklagten als grob fahrlässig beurteilte, bewegt sich im Rahmen des den Gerichten eingeräumten Beurteilungsspielraums.

[13] 3.3. Nach den Feststellungen standen der Versicherte und der Zweitbeklagte ungesichert auf einer ca 40 cm breiten Brüstung in einer Höhe von 7,5 Metern, um sämtliche Schrauben einer 120–130 kg wiegenden Glasscheibe zu lösen und diese händisch aus dem Rahmen herauszuheben und auf den zwischen der Fassade und der Brüstung befindlichen Gang zu stellen, anstatt entsprechend der Weisung der Erstbeklagten die Demontage lediglich vorzubereiten und auf den Kran samt Arbeitskorb zu warten, um die Glasscheibe herauszuheben. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, unter den gegebenen Umständen sei der Eintritt des Schadens nicht nur allenfalls möglich, sondern vielmehr durchaus wahrscheinlich gewesen, ist jedenfalls vertretbar.

[14] Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision der Beklagten zurückzuweisen.

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