European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0150OS00026.23X.0524.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Fachgebiet: Suchtgiftdelikte
Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Linz zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * Y* des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall SMG (2./), mehrerer Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften „nach § 27 Abs 1 Z 1 erster, zweiter, fünfter, sechster und siebter Fall SMG“ (1./), und des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 3 StGB (3./) schuldig erkannt.
[2] Danach hat er – soweit hier relevant –
1./ im Zeitraum von 1. Februar 2021 bis 12. Jänner 2022 in B* und andernorts vorschriftswidrig in wiederholten Angriffen Suchtgift, nämlich Cannabisprodukte (verbotener Wirkstoff Delta‑9‑THC bzw THCA), Kokain, Heroin und Amphetamine erworben, besessen, zum Teil von Österreich aus- und nach Deutschland eingeführt sowie anderen angeboten;
2./ im Zeitraum von 1. Februar 2021 bis 12. Jänner 2022 in B* und andernorts vorschriftswidrig Suchtgift in einer die Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge, nämlich insgesamt zumindest etwa 129 Gramm Kokain mit einem Reinheitsgehalt von zumindest 64,01 %, ein Gramm Heroin mit einem Reinheitsgehalt von etwa 12,35 %, 805 Gramm „Cannabis“ (Marihuana) mit einem durchschnittlichen Reinheitsgehalt von etwa 11,18 % THCA sowie 336 Gramm Amphetamine („Speed“) mit einem durchschnittlichen Reinheitsgehalt von etwa 10,23 %, an im Urteil einzeln angeführte Personen verkauft und in geringen Mengen unentgeltlich überlassen, und zwar
A./ * A* bzw von diesem vermittelten bislang unbekannten Abnehmern 100 Gramm Kokain, 400 Gramm Marihuana und 300 Gramm „Speed“;
…
3./ am 30. September 2022 in R* grob fahrlässig (§ 6 Abs 3 StGB) * P* dadurch am Körper verletzt, dass er als bewachter Untersuchungshäftling im Zuge einer Ausführung in das Krankenhaus R* zur Behandlung einen Fluchtversuch unternahm und den ihn bewachenden Justizwachebeamten davonlief, sodass diese ihm zur Wiederergreifung nachlaufen und ihn festhalten mussten, wodurch Y* und P* zu Boden fielen und P* Abschürfungen an der rechten Hand und eine Verletzung am Schleimbeutel erlitten hat.
Rechtliche Beurteilung
[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 9 lit a und 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, die ihr Ziel verfehlt.
[4] Die Verfahrensrüge (Z 4) moniert die Abweisung zweier in der Hauptverhandlung am 23. November 2022 gestellter Beweisanträge, und zwar auf Vernehmung des * B* als Zeuge, welcher mit dem Angeklagten im inkriminierten Zeitraum „praktisch ständig beisammen war“, zum Beweis dafür, dass lediglich maximal drei Kontakte mit dem Zeugen A* stattgefunden haben, sowie auf Auswertung des Mobiltelefons des Angeklagten, aus dessen Standortdaten sich ergebe, dass dieser sich maximal dreimal im Tattoo-Studio des Zeugen A* befunden habe, niemals aber in dessen Wohnung in L* (ON 51.1 S 27 und 40).
[5] Durch die Ablehnung der Aufnahme der beantragten Beweismittel wurden – entgegen dem Vorbringen der Verfahrensrüge (Z 4) – Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht verletzt, weil der damit unter Beweis zu stellende Umstand (Reduktion der zu 2./A./ an * A* überlassenen Menge; vgl US 7 f, 14 ff) mit Blick auf den im Urteil festgestellten Additionsvorsatz (US 10) und die an andere Abnehmer (2./B./-O./; US 8–10) überlassene, für sich bereits die Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigende Menge an verschiedenen Suchtgiften (vgl Schwaighofer in WK2 SMG § 28 Rz 16 f) keinen für die Schuld- oder die Subsumtionsfrage erheblichen Umstand betraf (vgl RIS-Justiz RS0099473).
[6] Die zu 3./ erstattete Rechtsrüge (Z 9 lit a) verfehlt mit der Argumentation, ein Fluchtversuch „an sich“ sei weder eine objektive Sorgfaltswidrigkeit noch eine „unentschuldbare Pflichtverletzung“, den in der Gesamtheit der Konstatierungen gelegenen Bezugspunkt prozessordnungsgemäßer Anfechtung (RIS-Justiz RS0099810; zur Bedeutung der näheren Begleitumstände vgl RIS-Justiz RS0089416 = 11 Os 7/87). Danach (US 12) begann der Angeklagte nämlich nicht nur plötzlich in Richtung Einfahrtsschranke loszulaufen, sondern riss sich, als ihn der Justizwachebeamte * G* an seiner Jacke erwischte, nochmals los, versuchte weiter zu laufen und konnte schließlich erst durch P* nach etwa zehn Metern am rechten Arm ergriffen werden, der ihn mittels einsatzbezogener Körperkraft zu Boden brachte, wobei sie gemeinsam stürzten.
[7] Im Übrigen lässt die Beschwerde auch außer Acht, dass die Flucht eines Untersuchungshäftlings ein von der Rechtsordnung verpöntes, der Erreichung des Haftzwecks (§ 182 Abs 1 StPO) zuwiderlaufendes und als Ordnungswidrigkeit zu ahndendes Fehlverhalten darstellt (vgl §§ 26, 107 Abs 1 Z 1 StVG iVm § 182 Abs 4 StPO; Drexler, StVG3 § 26 Rz 1 f, 6 und § 107 Rz 1 f, 14) und für die Strafvollzugsbediensteten eine Pflicht zur nachdrücklichen Verfolgung des Flüchtigen auslöst (§ 106 Abs 1 StVG iVm § 182 Abs 4 StPO).
[8] Zur – bloß den Schuldspruch zu 1./ und 2./ in den Blick nehmenden – Sanktionsrüge (Z 11 erster Fall) genügt der Hinweis, dass bei einem Vorgehen nach § 31 StGB sämtliche der der nachträglichen Verurteilung zugrundeliegenden Taten vor dem Vor-Urteil erster Instanz (US 6: vom 28. Juni 2022) begangen worden sein müssen (vgl RIS-Justiz RS0091039, RS0113612, RS0112524 [T13]; Ratz in WK2 StGB § 31 Rz 2), während die vom Schuldspruch zu 3./ begangene Handlung erst nach diesem Zeitpunkt gesetzt wurde.
[9] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung folgt (§ 285i StPO).
[10] Dieses wird zu beachten haben, dass hinsichtlich des Schuldspruchs zu 1./, soweit er Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 erster und zweiter Fall SMG betrifft (zur Deliktsstruktur siehe RIS-Justiz RS0114037), im Hinblick auf die Feststellungen zum Erwerb und Besitz für den Eigenkonsum (US 6) die Privilegierung des § 27 Abs 2 SMG zum Tragen hätte kommen müssen. Dieser Umstand blieb angesichts der Strafbemessung nach § 28a Abs 1 SMG (iVm § 39 StGB) zwar ohne konkret nachteilige Auswirkung für den Angeklagten iSd § 290 StPO (RIS‑Justiz RS0118870), ist aber aufgrund dieses Hinweises im Rahmen der Berufungsentscheidung zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0090885).
[11] Weiter sei hinzugefügt, dass die Heranziehung der leugnenden Verantwortung des Angeklagten zu den „gravierenderen Vorwürfen“ als eine für die Strafbemessung entscheidende Tatsache (US 32) einen unvertretbaren Gesetzesverstoß im Sinn des § 281 Abs 1 Z 11 zweiter Fall StPO darstellt (RIS-Justiz RS0090897; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 713; Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 281 Rz 107 Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 9.232). Auch diesem von der Nichtigkeitsbeschwerde nicht aufgegriffenen Umstand wird das Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung Rechnung zu tragen haben (RIS-Justiz RS0122140).
[12] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
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