OGH 15Os26/23x

OGH15Os26/23x24.5.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. Mai 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Mag. Fürnkranz, Dr. Mann und Dr. Sadoghi in Gegenwart des Mag. Wunsch als Schriftführer in der Strafsache gegen * Y* wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall SMG und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis als Schöffengericht vom 23. November 2022, GZ 12 Hv 23/22i‑51.3, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0150OS00026.23X.0524.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Suchtgiftdelikte

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Linz zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * Y* des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall SMG (2./), mehrerer Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften „nach § 27 Abs 1 Z 1 erster, zweiter, fünfter, sechster und siebter Fall SMG“ (1./), und des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 3 StGB (3./) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er – soweit hier relevant –

1./ im Zeitraum von 1. Februar 2021 bis 12. Jänner 2022 in B* und andernorts vorschriftswidrig in wiederholten Angriffen Suchtgift, nämlich Cannabisprodukte (verbotener Wirkstoff Delta‑9‑THC bzw THCA), Kokain, Heroin und Amphetamine erworben, besessen, zum Teil von Österreich aus- und nach Deutschland eingeführt sowie anderen angeboten;

2./ im Zeitraum von 1. Februar 2021 bis 12. Jänner 2022 in B* und andernorts vorschriftswidrig Suchtgift in einer die Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge, nämlich insgesamt zumindest etwa 129 Gramm Kokain mit einem Reinheitsgehalt von zumindest 64,01 %, ein Gramm Heroin mit einem Reinheitsgehalt von etwa 12,35 %, 805 Gramm „Cannabis“ (Marihuana) mit einem durchschnittlichen Reinheitsgehalt von etwa 11,18 % THCA sowie 336 Gramm Amphetamine („Speed“) mit einem durchschnittlichen Reinheitsgehalt von etwa 10,23 %, an im Urteil einzeln angeführte Personen verkauft und in geringen Mengen unentgeltlich überlassen, und zwar

A./ * A* bzw von diesem vermittelten bislang unbekannten Abnehmern 100 Gramm Kokain, 400 Gramm Marihuana und 300 Gramm „Speed“;

3./ am 30. September 2022 in R* grob fahrlässig (§ 6 Abs 3 StGB) * P* dadurch am Körper verletzt, dass er als bewachter Untersuchungshäftling im Zuge einer Ausführung in das Krankenhaus R* zur Behandlung einen Fluchtversuch unternahm und den ihn bewachenden Justizwachebeamten davonlief, sodass diese ihm zur Wiederergreifung nachlaufen und ihn festhalten mussten, wodurch Y* und P* zu Boden fielen und P* Abschürfungen an der rechten Hand und eine Verletzung am Schleimbeutel erlitten hat.

Rechtliche Beurteilung

 

[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 9 lit a und 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, die ihr Ziel verfehlt.

[4] Die Verfahrensrüge (Z 4) moniert die Abweisung zweier in der Hauptverhandlung am 23. November 2022 gestellter Beweisanträge, und zwar auf Vernehmung des * B* als Zeuge, welcher mit dem Angeklagten im inkriminierten Zeitraum „praktisch ständig beisammen war“, zum Beweis dafür, dass lediglich maximal drei Kontakte mit dem Zeugen A* stattgefunden haben, sowie auf Auswertung des Mobiltelefons des Angeklagten, aus dessen Standortdaten sich ergebe, dass dieser sich maximal dreimal im Tattoo-Studio des Zeugen A* befunden habe, niemals aber in dessen Wohnung in L* (ON 51.1 S 27 und 40).

[5] Durch die Ablehnung der Aufnahme der beantragten Beweismittel wurden – entgegen dem Vorbringen der Verfahrensrüge (Z 4) – Verteidigungsrechte des Angeklagten nicht verletzt, weil der damit unter Beweis zu stellende Umstand (Reduktion der zu 2./A./ an * A* überlassenen Menge; vgl US 7 f, 14 ff) mit Blick auf den im Urteil festgestellten Additionsvorsatz (US 10) und die an andere Abnehmer (2./B./-O./; US 8–10) überlassene, für sich bereits die Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigende Menge an verschiedenen Suchtgiften (vgl Schwaighofer in WK2 SMG § 28 Rz 16 f) keinen für die Schuld- oder die Subsumtionsfrage erheblichen Umstand betraf (vgl RIS-Justiz RS0099473).

[6] Die zu 3./ erstattete Rechtsrüge (Z 9 lit a) verfehlt mit der Argumentation, ein Fluchtversuch „an sich“ sei weder eine objektive Sorgfaltswidrigkeit noch eine „unentschuldbare Pflichtverletzung“, den in der Gesamtheit der Konstatierungen gelegenen Bezugspunkt prozessordnungsgemäßer Anfechtung (RIS-Justiz RS0099810; zur Bedeutung der näheren Begleitumstände vgl RIS-Justiz RS0089416 = 11 Os 7/87). Danach (US 12) begann der Angeklagte nämlich nicht nur plötzlich in Richtung Einfahrtsschranke loszulaufen, sondern riss sich, als ihn der Justizwachebeamte * G* an seiner Jacke erwischte, nochmals los, versuchte weiter zu laufen und konnte schließlich erst durch P* nach etwa zehn Metern am rechten Arm ergriffen werden, der ihn mittels einsatzbezogener Körperkraft zu Boden brachte, wobei sie gemeinsam stürzten.

[7] Im Übrigen lässt die Beschwerde auch außer Acht, dass die Flucht eines Untersuchungshäftlings ein von der Rechtsordnung verpöntes, der Erreichung des Haftzwecks (§ 182 Abs 1 StPO) zuwiderlaufendes und als Ordnungswidrigkeit zu ahndendes Fehlverhalten darstellt (vgl §§ 26, 107 Abs 1 Z 1 StVG iVm § 182 Abs 4 StPO; Drexler, StVG3 § 26 Rz 1 f, 6 und § 107 Rz 1 f, 14) und für die Strafvollzugsbediensteten eine Pflicht zur nachdrücklichen Verfolgung des Flüchtigen auslöst (§ 106 Abs 1 StVG iVm § 182 Abs 4 StPO).

[8] Zur – bloß den Schuldspruch zu 1./ und 2./ in den Blick nehmenden – Sanktionsrüge (Z 11 erster Fall) genügt der Hinweis, dass bei einem Vorgehen nach § 31 StGB sämtliche der der nachträglichen Verurteilung zugrundeliegenden Taten vor dem Vor-Urteil erster Instanz (US 6: vom 28. Juni 2022) begangen worden sein müssen (vgl RIS-Justiz RS0091039, RS0113612, RS0112524 [T13]; Ratz in WK2 StGB § 31 Rz 2), während die vom Schuldspruch zu 3./ begangene Handlung erst nach diesem Zeitpunkt gesetzt wurde.

[9] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung folgt (§ 285i StPO).

[10] Dieses wird zu beachten haben, dass hinsichtlich des Schuldspruchs zu 1./, soweit er Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 erster und zweiter Fall SMG betrifft (zur Deliktsstruktur siehe RIS-Justiz RS0114037), im Hinblick auf die Feststellungen zum Erwerb und Besitz für den Eigenkonsum (US 6) die Privilegierung des § 27 Abs 2 SMG zum Tragen hätte kommen müssen. Dieser Umstand blieb angesichts der Strafbemessung nach § 28a Abs 1 SMG (iVm § 39 StGB) zwar ohne konkret nachteilige Auswirkung für den Angeklagten iSd § 290 StPO (RIS‑Justiz RS0118870), ist aber aufgrund dieses Hinweises im Rahmen der Berufungsentscheidung zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0090885).

[11] Weiter sei hinzugefügt, dass die Heranziehung der leugnenden Verantwortung des Angeklagten zu den „gravierenderen Vorwürfen“ als eine für die Strafbemessung entscheidende Tatsache (US 32) einen unvertretbaren Gesetzesverstoß im Sinn des § 281 Abs 1 Z 11 zweiter Fall StPO darstellt (RIS-Justiz RS0090897; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 713; Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 281 Rz 107 Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 9.232). Auch diesem von der Nichtigkeitsbeschwerde nicht aufgegriffenen Umstand wird das Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung Rechnung zu tragen haben (RIS-Justiz RS0122140).

[12] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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