OGH 12Os15/23g

OGH12Os15/23g22.5.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 22. Mai 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Oshidari, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Fitzthum in der Strafsache gegen * S* und andere Beschuldigte wegen des Verdachts der Bestechlichkeit nach § 304 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 316 HR 191/20p des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des * W* auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0120OS00015.23G.0522.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiete: Amtsdelikte/Korruption, Grundrechte

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

 

Gründe:

[1] Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (WKStA) hatte gegen * W* zu AZ 17 St 8/21g ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts nach §§ 12 zweiter Fall, 302 Abs 1 und 2 zweiter Fall und § 307 Abs 1 StGB (zunächst gesondert) geführt. In weiterer Folge wurde dieses Verfahren jedoch aufgrund konnexer Tatvorwürfe mit dem (ua) gegen * S* geführten Verfahren AZ 17 St 5/19d gemäß § 26 Abs 1 StPO verbunden (ON 2987 S 19 f).

[2] Am 24. Jänner 2022 beantragte * W* die Trennung des gegen ihn (zu diesem Zeitpunkt nur) wegen § 307 Abs 1 StGB geführten Ermittlungsverfahrens (ON 2065).

[3] Gegen die Ablehnung der begehrten Verfügung erhob der Genannte am 18. März 2022 (soweit hier wesentlich) Einspruch wegen Rechtsverletzung gemäß § 106 Abs 1 StPO (ON 2333). Darin machte er eine Verletzung seiner subjektiven Rechte aufgrund der Unterlassung der Verfahrenstrennung geltend. Unter einem beantragte er (erneut) die Trennung des – zwischenzeitig auf weitere Tatvorwürfe erstreckten – Ermittlungsverfahrens gegen ihn selbst und vier Mitbeschuldigte.

[4] Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 8. April 2022, AZ 316 HR 191/20p (ON 2432), wurde (ua) dieser Einspruch zurückgewiesen. Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien als Beschwerdegericht mit Beschluss vom 9. September 2022, AZ 17 Bs 103/22d (ON 2987), mit der wesentlichen Begründung nicht Folge, dass ein subjektives Recht auf Verfahrenstrennung (§ 27 StPO) im Sinn des § 106 Abs 1 StPO nicht bestehe (BS 20 ff).

Rechtliche Beurteilung

[5] Der dagegen gerichtete Erneuerungsantrag macht eine Verletzung von Art 6 Abs 1 und Art 8 (iVm Art 13) MRK geltend. Er ist – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – nicht berechtigt.

[6] Bei einem – wie hier – nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag (RIS‑Justiz RS0122228), bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 MRK sinngemäß (RIS‑Justiz RS0122737 und RS0128394).

[7] Die Behandlung eines Erneuerungsantrags bedeutet aber nicht die Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung oder Verfügung nach Art einer zusätzlichen Beschwerde- oder Berufungsinstanz, sondern beschränkt sich auf die Prüfung der reklamierten Verletzung eines Rechts nach der MRK oder einem ihrer Zusatzprotokolle (vgl RIS‑Justiz RS0129606 [T2, T3] und RS0132365).

[8] Ebenso wenig eröffnet ein Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens die Möglichkeit, allgemein das Vorgehen von Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft oder Gerichten in einer bestimmten Strafsache einer höchstgerichtlichen Kontrolle zu unterziehen (12 Os 9/22y; 14 Os 68/21p mwN).

[9] Somit hat die über weite Strecken erhobene Kritik an der fallbezogen unterbliebenen Verfahrenstrennung (§ 27 Abs 1 StPO) und der Führung eines überbordenden Sammelaktes durch die Staatsanwaltschaft auf sich zu beruhen.

[10] Von Bedeutung im Erneuerungsverfahren ist allein die Behauptung des Antragstellers, die Vorschrift des § 27 Abs 1 StPO sei mit Rücksicht auf die Garantien nach Art 6 und 8 (iVm 13) MRK dahin auszulegen, dass sie dem Beschuldigten ein subjektives Recht auf Verfahrenstrennung verschaffe, dessen Verletzung mit Einspruch wegen Rechtsverletzung nach § 106 Abs 1 Z 1 StPO bekämpft werden könne.

[11] Diese Frage wurde vom Oberlandesgericht zutreffend verneint.

[12] Ob ein Teil des Ermittlungsverfahrens gemäß § 27 StPO zu trennen ist, hat die Staatsanwaltschaft – unter Berücksichtigung der in dieser Bestimmung genannten Kriterien (Vermeidung von Verfahrensverzögerungen, Verkürzung von Haft) – im Rahmen gebundenen Ermessens zu entscheiden. Über einen Antrag des Beschuldigten auf Verfahrenstrennung hat die Staatsanwaltschaft eine Entscheidung zu treffen. Gegen diese steht allerdings Einspruch an das Gericht nicht zu, weil (abgesehen davon, dass durch die unterlassene Trennung keine Ermittlungs- oder Zwangsmaßnahme iSd § 106 Abs 1 Z 2 StPO angeordnet wurde) dem Beschuldigten – selbst im Fall missbräuchlicher Nichtausschöpfung des Ermessensspielraums – die „Ausübung eines Rechts“ nach diesem Gesetz nicht verwehrt wurde (Nordmeyer, WK-StPO § 27 Rz 3; vgl auch J. Fuchs in LiK § 27 Rz 9). § 27 Abs 1 StPO weist nämlich dem Beschuldigten schon seinem Wortlaut nach keinen Anspruch auf Verfahrenstrennung zu (vgl Brandstetter/Singer in LiK § 106 Rz 8).

[13] Erleidet der Beschuldigte aus der gemeinsamen Verfahrensführung Nachteile, so stehen diesem in der Regel andere Rechtsmittel- oder Rechtsbehelfe offen (vgl Nordmeyer, WK-StPO § 27 Rz 3 mit Hinweis auf die speziellen Rechtsschutzmöglichkeiten in Haftsachen und den Einstellungsantrag nach § 108 StPO).

[14] Die gegen diese Auffassung vorgebrachten Argumente des Antragstellers überzeugen nicht.

[15] Soweit er für seine gegenteilige Ansicht ins Treffen führt, ein Rechtsanspruch auf Verfahrenstrennung sei schon mit Rücksicht auf ansonsten mögliche Verletzungen des Beschleunigungsgebots nach § 9 Abs 1 StPO grundrechtlich geboten, wird nicht klar, weshalb die Garantie des Art 6 Abs 1 erster Satz MRK in Bezug auf solche Verzögerungen nicht durch die subjektive Rechtsposition nach Maßgabe von § 108 Abs 1 und 2 zweiter Satz, § 108a Abs 2, 3 und 4 erster Satz StPO (Ratz, Verfahrensführung und Rechtsschutz nach der StPO2 Rz 543) bzw den nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (darüber hinaus) zustehenden Einspruch wegen Rechtsverletzung (vgl 14 Os 84/20i, 14 Os 16/19p, 12 Os 72/18g, 11 Os 131/13v, 11 Os 53/11w, 15 Os 118/11h; einschränkend allerdings die hM, vgl Brandstetter/Singer in LiK § 106 Rz 14; Pilnacek/Sticker, WK‑StPO § 106 Rz 17; Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 106 Rz 4; Koller in Schmölzer/Mühlbacher StPO2 § 106 Rz 17; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 7.1060: „ausnahmsweise bei Unverhältnismäßigkeit“; krit Ratz, Verfahrensführung und Rechtsschutz nach der StPO2 Rz 543; vgl auch Kier, WK‑StPO § 9 Rz 41) ausreichend abgesichert sein soll (vgl im Übrigen Meyer-Ladewig/Harrendorf/König in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer EMRK4 Art 6 Rz 33, wonach es Entscheidung des Staates sei, wie er die sich aus Art 6 Abs 1 MRK ergebenden Pflichten erfüllen will).

[16] Aus welchem Grund trotz der dargestellten Rechtsschutzmechanismen (noch dazu in Kombination mit der Dienstaufsichtsbeschwerde nach § 37 StAG) kein effektiver Rechtsbehelf iSd Art 13 MRK (vgl dazu Meyer-Ladewig/ Renger in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer EMRK4 Art 13 Rz 9, 15 mwN) gegen relevante Verfahrensverzögerungen durch die Staatsanwaltschaft zur Verfügung stehen sollte, legt der Erneuerungsantrag nicht dar.

[17] Im Übrigen ist auch der vom Antragsteller zitierten Literaturstelle („Bertel in Bertel/Venier, StPO § 106 Rz 3“ [2012]; nunmehr Flora in Bertel/Venier, StPO2 § 106 Rz 8) ein gegenteiliger Ansatz nicht zu entnehmen. Denn auch dort wird als Bezugspunkt eines möglichen Einspruchs wegen Rechtsverletzung nicht die unterbliebene Verfahrenstrennung per se, sondern der allenfalls dadurch bewirkte Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot genannt.

[18] Die vorstehenden Ausführungen gelten sinngemäß für den Einwand, ein subjektives Recht auf Verfahrenstrennung nach § 27 Abs 1 StPO sei auch im Hinblick auf die ansonsten bestehende Gefahr von Datenschutzverletzungen grundrechtlich geboten (Art 8 MRK). Insoweit steht nämlich im Ermittlungsverfahren (zur Frage des zusätzlichen Rechtsschutzes nach dem DSG vgl Kristoferitsch/Bugelnig, WK‑StPO § 74 Rz 119 ff) den in ihren Persönlichkeitsrechten Betroffenen ohnedies Einspruch an das Gericht nach § 106 Abs 1 Z 1 StPO mit der Behauptung einer Verletzung eines von § 5 Abs 1 erster Satz StPO iVm Art 8 MRK bzw § 1 DSG, allenfalls § 74 Abs 1 StPO, geschützten subjektiven Rechts durch Verweigerung dessen Ausübung zu (instruktiv 11 Os 56/20z mwN; vgl auch Ratz, Aktuelle Probleme des Ermittlungsverfahrens, ÖJZ 2021, 772 [778] mit Verweis auf 11 Os 51/20i, 12 Os 140/20k und 11 Os 69/18h).

[19] Für die Behauptung, ein subjektives Recht auf Verfahrenstrennung sei „als präventive Maßnahme“ zum Schutz der Persönlichkeitsrechte von Beschuldigten (Art 8 MRK) schon deshalb einzuräumen, damit eine Reduktion der zur Akteneinsicht berechtigten Personen erreicht werden könne, geben im Übrigen auch die vom Antragsteller angegebenen Literaturstellen nichts her (vgl Divjak, Die Durchsetzung von Datenschutzrechten im Ermittlungsverfahren, JBl 2022, 489; Kudrna/Stücklberger, Datenschutz im Strafverfahren, JSt 2020, 301 [305 f und 307], wobei letztere mögliche Verletzungen im Recht auf Datenschutz als Folge unterbliebener Verfahrenstrennung in den Blick nehmen).

[20] Der Antrag war daher bei nichtöffentlicher Beratung als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

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