European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E129867
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Wien führt – soweit hier wesentlich – gegen Dr. * S* zu AZ 608 St 1/08w ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 3, 148 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen.
In diesem Verfahren bestellte die Staatsanwaltschaft Wien am 31. Jänner 2019 gemäß § 126 Abs 1 StPO Dr. * P* zum Sachverständigen und beauftragte ihn mit der Erstattung von Befund und Gutachten (ON 8293). In der Folge verlangte der genannte Beschuldigte gemäß § 126 Abs 5 erster Satz StPO die Bestellung eines Sachverständigen im Rahmen gerichtlicher Beweisaufnahme (ON 8354), worauf das Landesgericht für Strafsachen Wien mit Beschluss vom 26. Februar 2020, GZ 334 HR 436/08g‑8850, ebenfalls Dr. * P* zum Sachverständigen bestellte.
Die dagegen erhobene (unter anderem) eine Verletzung des Art 6 MRK zufolge Missachtung des Beschleunigungsgebots (§ 9 StPO) behauptende Beschwerde des Erneuerungswerbers (ON 8927) wies das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 15. Juni 2020, AZ 22 Bs 108/20y, ab (ON 9121). Demnach sei die Bestellung eines Sachverständigen mangels eigener Sachkunde der Staatsanwaltschaft zum Zwecke der Schadensberechnung erforderlich. Die durch diese Beweisaufnahme drohende Verzögerung des Verfahrens hindere den Bestellungsvorgang nicht, weil das allgemeine Beschleunigungsgebot (§ 9 Abs 1 StPO) und die in § 126 Abs 2c StPO normierte Verpflichtung zu Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit kein subjektives Recht auf Abstandnahme von der Sachverständigenbestellung einräumten.
Rechtliche Beurteilung
Gegen diesen Beschluss des Oberlandesgerichts richtet sich der Antrag des Beschuldigten auf Erneuerung des Verfahrens nach § 363a StPO. Er behauptet darin, im Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 MRK dadurch verletzt zu sein, dass die Bestellung eines Sachverständigen mangels Notwendigkeit einer solchen das Verfahren verzögernden Beweisaufnahme gegen das Beschleunigungsgebot verstoße und wegen Aussichtslosigkeit der Klärung der zu beantwortenden Fragestellung das Recht auf freie Beweiswürdigung durch das Gericht beeinträchtige.
Bei einem nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag handelt es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf, für den alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß gelten (RIS‑Justiz RS0122737). Da die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur dann anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein, muss auch ein Erneuerungsantrag deutlich und bestimmt darlegen, worin eine – vom Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende – Grundrechtsverletzung im Sinne des § 363a Abs 1 StPO zu erblicken sei (RIS‑Justiz RS0122737 [T17], RS0124359). Auf die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft kann der Erneuerungsantrag nicht gestützt werden, weil die Erneuerung des Strafverfahrens voraussetzt, dass das in Rede stehende Grundrecht durch eine (letztinstanzliche) Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichts verletzt wurde.
Der Erneuerungsantrag macht in Ansehung des bekämpften Beschlusses keine behördliche Inaktivität geltend, sondern bestreitet unter Hinweis auf die Dauer, Kosten und fraglichen Erfolgsaussichten die Zweckmäßigkeit der Beweisaufnahme. Davon ausgehend wird die Verpflichtung des Oberlandesgerichts reklamiert, die Bestellung des Sachverständigen zu verweigern. Warum das Gericht in der zuvor beschriebenen Verfahrenssituation zu einer solchen Entscheidung befugt sein soll, erklärt der Erneuerungsantrag jedoch ebenso wenig wie die Gründe, warum ein über Begehren des Erneuerungswerbers erfolgtes Tätigwerden des Einzelrichters im Ermittlungsverfahren mit Blick auf den Umfang seiner Entscheidungsbefugnis Art 6 Abs 1 MRK unter dem Aspekt der Angemessenheit der Verfahrensdauer verletze.
Hier ist nämlich zu berücksichtigen, dass der Übergang der Befugnis zur Bestellung und Führung des Sachverständigen durch das Gericht Rechtsfolge eines darauf gerichteten Verlangens des Beschuldigten gemäß § 126 Abs 5 erster Satz StPO ist (Hinterhofer, WK‑StPO § 126 Rz 143 ff; Ratz, Initiative, Bestellung und Führung beim Sachverständigenbeweis der StPO, ÖJZ 2018, 951 [955]; Rebisant, Waffengleichheit beim Sachverständigenbeweis: OGH, VfGH und StPRÄG 2014, in Lewisch [Hrsg] Jahrbuch Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit 2015, 205 [214]; vgl Pilnacek/Stricker, WK‑StPO § 104 Rz 30/4). Die Zweckmäßigkeit der Aufnahme des Sachverständigenbeweises hat das Gericht aber nicht zu prüfen, weil aufgrund des Anklagegrundsatzes (Art 90 Abs 2 B‑VG, § 4 StPO) allein die Staatsanwaltschaft als Leiterin des Ermittlungsverfahrens entscheidet, welche Ermittlungen zur Aufklärung der Straftat (§ 91 Abs 2 erster Satz StPO) durchzuführen sind (vgl 11 Os 182/08m, 183/08h; Pilnacek/Stricker, WK‑StPO § 104 Rz 30). Das Gericht muss daher einen Sachverständigen bestellen, selbst wenn es zur Ansicht gelangen sollte, dass dem (erst zu beauftragenden) Gutachten – wie vom Erneuerungswerber geltend gemacht – ein Beweiswert nicht zukommen wird (vgl auch Hinterhofer, WK‑StPO § 126 Rz 89 ff).
Die behauptete Konventionsverletzung wird demnach nicht schlüssig und nachvollziehbar dargestellt (RIS‑Justiz RS0128393).
Soweit der Erneuerungsantrag der Sache nach der Staatsanwaltschaft eine in der unangemessenen Verfahrensdauer liegende Verletzung des Art 6 Abs 1 MRK anlastet, die von den Gerichten nicht aufgegriffen worden sei, ist aus Gründen der Vollständigkeit darauf zu verweisen, dass die angesprochene Subsidiarität des nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrags (erneut RIS‑Justiz RS0122737, RS0124739) die vorherige Einbringung jener Anträge erfordert, die wirksam Abhilfe gegen die Verzögerung versprechen. Gegen eine Verletzung des Beschleunigungsgebots (§ 9 Abs 1 StPO) im Bereich der Staatsanwaltschaft kann durch einen Einspruch wegen Rechtsverletzung (§ 106 Abs 1 Z 1 StPO) gerichtlicher Rechtsschutz erlangt werden (RIS‑Justiz RS0122737 [T28]; 11 Os 131/13v; 12 Os 72/18g).
Schließlich vermag der Erneuerungsantrag nicht nachvollziehbar darzustellen, warum die gerichtliche Beweisaufnahme die freie Beweiswürdigung (§ 14 StPO) beeinträchtige und daher gegen das Fairnessgebot (Art 6 Abs 1 MRK) verstoße.
Der solcherart unzulässige Erneuerungsantrag war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung in
sinngemäßer Anwendung des Art 35 Abs 3 MRK zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 StPO; vgl dazu 17 Os 11/12i).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)