OGH 10Ob42/22g

OGH10Ob42/22g18.10.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin Dr. Faber und die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der 1. mj H*, geboren * 2005, 2. mj Ha*, geboren * 2008, 3. mj A*, geboren * 2012, und 4. mj Ab*, geboren * 2017, alle *, alle vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien MA 11 Kinder- und Jugendhilfe – Rechtsvertretung Bezirk 10, 1100 Wien, Alfred‑Adler‑Straße 12/EG), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs der Kinder gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 28. Juni 2022, GZ 44 R 210/22s, 44 R 211/22p, 44 R 212/22k, 44 R 213/22g‑39, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts Favoriten vom 24. März 2022, GZ 6 Pu 161/12b‑22, 6 Pu 161/12b‑23, 6 Pu 161/12b‑24 und 6 Pu 161/12b‑25, aufgehoben wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0100OB00042.22G.1018.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

[1] Die vier Kinder sind wie ihre Eltern Staatsangehörige der Russischen Föderation. Abgeleitet von ihrer Mutter, der mit Bescheid vom 7. Oktober 2003 der Status einer Asylberechtigten zuerkannt worden war, wurde ihnen ebenfalls jeweils nach § 3 Abs 5 Asylgesetz der Status eines Konventionsflüchtlings zuerkannt.

[2] Mit Beschlüssen des Erstgerichts vom 12. April 2018 wurden den vier Kindern monatliche Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG je von 1. März 2018 bis 28. Februar 2023 in unterschiedlicher Höhe gewährt.

[3] Dem Vater wird seit 1. November 2021 aufgrund einer Anordnung in einem strafgerichtlichen Verfahren die Freiheit im Inland entzogen, weswegen er seine Unterhaltspflicht nicht erfüllen kann.

[4] Am 21. März 2022 beantragte der Kinder- und Jugendhilfeträger unter Vorlage einer Haftauskunft der Justizanstalt Wien‑Josefstadt, die gewährten Vorschüsse in solche nach § 4 Z 3 UVG umzuwandeln; nach Beendigung der Haft seien die Titelunterhaltsvorschüsse wieder in Gang zu setzen.

[5] Das Erstgericht sprach aus, dass die den Kindern gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG auf den gesetzlichen Unterhalt gewährten Vorschüsse mit Ablauf des Februar 2022 eingestellt und ihnen gemäß § 4 Z 3 UVG von 1. März 2022 bis 30. September 2023 ein monatlicher Unterhaltsvorschuss in der jeweiligen Höhe nach § 6 Abs 2 UVG gewährt wird; außerdem ersuchte es die Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien um die Auszahlung der Vorschüsse an die Zahlungsempfängerin und trug dem Unterhaltsschuldner die Zahlung der Pauschalgebühr auf.

[6] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes Folge, hob die angefochtenen Beschlüsse zur Gänze auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Da § 2 UVG nicht zwischen den einzelnen Gewährungstatbeständen differenziere und die beantragte Umstellung auf Haftvorschüsse als Neugewährung letzterer zu verstehen sei, sei auch im vorliegenden Fall der beantragten Umstellung von Titelvorschüssen auf Haftvorschüsse die Prüfung der Vorfrage nach der Flüchtlingseigenschaft der Antragsteller vorzunehmen. Von den Antragstellern sei im gemeinsamen Antrag kein konkretes Vorbringen erstattet worden. Auch dem Akteninhalt sei nicht zu entnehmen, ob die Flüchtlingseigenschaft der Kinder im konkreten Fall noch bestehe.

[7] Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs zur Frage zu, ob die Vorfrage des Fortbestehens von Fluchtgründen bei der Umstellung auf Haftvorschüsse zu prüfen sei.

[8] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs der Kinder, mit dem Antrag auf Wiederherstellung der Beschlüsse des Erstgerichts.

[9] Die anderen Parteien haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

[10] Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig; er ist jedoch nicht berechtigt.

[11] 1.1. Gemäß § 4 Z 1 UVG sind Vorschüsse in Höhe bis zum im Exekutionstitel festgesetzten Unterhaltsbeitrag (§ 5 Abs 1 UVG) zu gewähren, wenn zwar die Voraussetzungen des § 3 Z 1 (der Bestand eines im Inland vollstreckbaren Unterhaltstitels) gegeben sind, aber die Exekutionsführung nach § 3 Z 2 UVG aussichtslos scheint. Außerdem sind Vorschüsse gemäß § 4 Z 3 UVG in der in § 6 Abs 2 UVG genannten Höhe zu gewähren, wenn dem Unterhaltsschuldner aufgrund einer Anordnung in einem strafgerichtlichen Verfahren länger als einen Monat im Inland die Freiheit entzogen wird und er deshalb seine Unterhaltspflicht nicht erfüllen kann.

[12] 1.2. § 20 Abs 1 Z 4 lit a UVG zufolge sind Vorschüsse auf Antrag oder von Amts wegen einzustellen, wenn eine der Voraussetzungen der Gewährung der Vorschüsse, ausgenommen § 3 Z 2 UVG, wegfällt. § 7 Abs 2 Satz 1 UVG ordnet an, dass es kein Grund ist, die bisher gewährten Vorschüsse zu versagen, wenn einem Kind Vorschüsse nach den §§ 3 oder 4 Z 1, 2 oder 4 UVG gewährt werden und dem Unterhaltsschuldner die Freiheit im Sinn des § 4 Z 3 UVG entzogen wird; wird dem Unterhaltsschuldner die Freiheit für länger als sechs Monate entzogen, so sind nach Ablauf dieser Zeit von Amts wegen anstelle der bisher gewährten Vorschüsse solche nach § 4 Z 3 UVG zu gewähren, soweit ein solcher Antrag nicht bereits früher gestellt worden ist. Demgemäß kann das Kind im Ergebnis für die ersten sechs Monate des Freiheitsentzugs bei Zutreffen der im § 7 Abs 2 UVG angeführten Voraussetzungen zwischen Vorschüssen gemäß §§ 3 oder 4 Z 1, 2 oder 4 UVG einerseits und jenen nach § 4 Z 3 UVG wählen (RIS‑Justiz RS0076036).

[13] 2.1. Von der Konzeption des UVG her betrachtet, ist die in § 7 Abs 2 Satz 1 UVG angeordnete Umstellung als Einstellung der Titelvorschüsse und Neugewährung von Haftvorschüssen ab dem folgenden Monatsersten zu sehen (10 Ob 3/15m; 10 Ob 44/14i [Pkt 4.1]). Hintergrund dieser Regelung war der Umstand, dass die gewährten Vorschüsse nach der davor geltenden Rechtslage deshalb eingestellt wurden, weil der Unterhaltsschuldner eine Freiheitsstrafe antrat und auf diese Weise die Freiheitsstrafe mittelbar auch die Kinder treffe (ErläutRV 276 BlgNR 15. GP  9). Zweck der Bestimmung ist daher die vereinfachte Abwicklung der Bevorschussung bzw die Vermeidung der vor der Novelle häufig vorgekommenen Unterbrechung von Vorschussleistungen (ErläutRV 276 BlgNR 15. GP  12).

[14] 2.2. Die Anordnung der weiteren Leistung von Titelvorschüssen nach § 7 Abs 2 Satz 1 UVG gilt nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs aber nur für solche Fälle, in welchen der den gewährten Vorschüssen zugrunde liegende Unterhaltstitel vom Freiheitsentzug unberührt bleibt (RS0076420). Die weitere Leistung von Titelvorschüssen ist im Fall des Freiheitsentzugs des Unterhaltsschuldners hingegen (doch) ausgeschlossen, wenn er für die fragliche Zeit von der Unterhaltspflicht enthoben wurde (1 Ob 594/91).

[15] 3.1. Die von den Kindern im Revisionsrekurs behauptete Anordnung, dass der ursprüngliche Beschluss über die Gewährung von Titelvorschüssen nicht überprüft werden dürfe und seine Rechtskraft nunmehr im Rahmen der Umstellung weiter wirke, die Umstellung somit ohne Prüfung der Voraussetzungen der Gewährung zu erfolgen habe, lässt sich dem § 7 Abs 2 Satz 1 UVG – anders als dem § 18 UVG im Fall der Weitergewährung (RS0122248) – nicht entnehmen. Dies stünde auch im Widerspruch zur Konzeption der Umstellung als Einstellung der Titelvorschüsse und Neugewährung von Haftvorschüssen.

[16] 3.2. Der auf Auszahlungskontinuität gerichtete Zweck des § 7 Abs 2 Satz 1 UVG steht der Prüfung, ob die sonstigen (nicht von § 7 Abs 1 Z 1 UVG berührten) Voraussetzungen der Gewährung (noch) vorliegen, nicht entgegen, weil damit erkennbar nur die Prüfung der Titelvorschüsse gemäß § 7 Abs 1 Z 1 UVG ausgeschlossen und insofern ein nahtloses Anknüpfen der Haftvorschüsse ermöglicht werden sollte. Es liegen umgekehrt keine Anhaltspunkte dafür vor, dass diese – bloß die Abwicklung betreffende – Regelung eine Bevorschussung von Unterhalt ermöglichen oder fördern sollte, obwohl die Anspruchsvoraussetzungen des UVG, insbesondere jene des § 2 UVG, nicht vorliegen oder bei der ursprünglichen Gewährungsentscheidung nicht geprüft wurden.

[17] 3.3. Dieses Ergebnis wird – entgegen der im Revisionsrekurs vertretenen Rechtsansicht – auch durch § 7 Abs 2 Satz 2 UVG bestätigt, nach dem die (zunächst nach Satz 1 umgestellten) Haftvorschüsse mit der Beendigung der Freiheitsentziehung wieder in solche nach den §§ 3 oder 4 Z 1, 2 oder 4 UVG „rückzuwandeln“ sind, wenn das Kind zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig ist. Auch die dort enthaltene Anordnung, dass dies „ohne Prüfung der Voraussetzungen der Gewährung“ zu erfolgen hat, wird teleologisch dahin reduziert, dass (bloß) das materielle Bestehen des Titels und seine Höhe nach der Haftentlassung nicht iSd § 7 Abs 1 Z 1 UVG zu prüfen sind (Neumayr in Schwimann/Kodek, ABGB Praxiskommentar5 [2019] § 7 UVG Rz 50; vgl auch IA 673/A 24. GP  41).

4.1. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten:

[18] Bei Umstellung von Titelvorschüssen in Haftvorschüsse iSd § 7 Abs 2 Satz 1 UVG besteht keine Bindung an die im ursprünglichen Gewährungsbeschluss enthaltene rechtliche Beurteilung. Wurden daher drittstaatsangehörigen Kindern ohne Prüfung der Flüchtlingseigenschaft Titelvorschüsse gewährt, ist anlässlich der Entscheidung über die Gewährung von Haftvorschüssen auch selbständig als Vorfrage zu prüfen, ob im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (RS0076442) die Flüchtlingseigen-schaft (noch) besteht.

[19] 4.2. Eine solche Prüfung fand bisher – wie das Rekursgericht zutreffend aufgriff – nicht statt.

[20] 4.2.1. Gemäß § 11 Abs 2 UVG hat der Antragsteller die Voraussetzungen für die Gewährung von Vorschüssen in erster Linie aufgrund der Pflegschaftsakten, durch Urkunden oder sonst auf einfache Weise nachzuweisen. (Nur) sofern dies nicht einfach möglich ist – also nur subsidiär – können die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 11 Abs 2 UVG durch eine der Wahrheit entsprechende Erklärung des Vertreters glaubhaft gemacht werden (10 Ob 55/20s). Auch im hier vorliegenden Fall eines Antrags auf Umstellung von Titel- in Haftvorschüsse vor Ablauf der Frist des § 7 Abs 2 Satz 1 UVG muss das Kind daher bereits in diesem Antrag darlegen, woraus sich die Anspruchsvoraussetzung des Bestehens der Flüchtlingseigenschaft ergibt.

[21] 4.2.2. Trotz der von § 11 UVG gebotetenen Erleichterungen gilt grundsätzlich der Untersuchungs-grundsatz des § 16 AußStrG. Das Gericht hat daher vor Antragsabweisung zu versuchen, Unklarheiten aufzuklären und auf eine Substantiierung des Vorbringens zu den Anspruchsvoraussetzungen hinzuwirken. Diese Aufklärungs- und Anleitungspflicht trifft auch das Rechtsmittelgericht, sie besteht auch gegenüber dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe (10 Ob 6/21m; 10 Ob 52/20z).

[22] 5.1. Die Aufhebung der Entscheidung des Erstgerichts durch das Rekursgericht entspricht somit der Rechtslage. Dem Revisionsrekurs der Kinder ist deshalb nicht Folge zu geben.

[23] 5.2. Das Erstgericht wird im fortzusetzenden Verfahren – eine Konkretisierung des Vorbringens der Kinder vorausgesetzt – zu prüfen haben, ob ihre Flüchtlingseigenschaft zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Vorschussgewährung (noch) besteht. Dafür kommt es darauf an, ob die Kinder – oder ihre Mutter, in deren Pflege und Erziehung sie sich befinden und von der sie die Flüchtlingseigenschaft ableiten (vgl 10 Ob 6/21m; 10 Ob 52/20z; 10 Ob 40/18g) – aus konkreten, sie betreffenden Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung befürchten müssen, bei einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat (die Russische Föderation) verfolgt zu werden und ob sie wegen dieser Furcht nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, sich des Schutzes dieses Staates zu bedienen.

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