European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0100OB00055.20S.0119.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
[1] Nach der Aktenlage sind die Kinder in Österreich geboren, ihre Staatsangehörigkeit ist ungeklärt. Für beide Kinder wurden am 16. 5. 2013 Konventionsreisepässe ausgestellt. Die Mutter der Kinder ist Staatsbürgerin der Russischen Föderation, ihr Geburtsort liegt in der Autonomen Teilrepublik Tschetschenien (in Folge: Tschetschenien). Ihr wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 12. 7. 2010, Zl D7 313031‑1/2008/12E (bei ON 59) der Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1, § 34 Abs 2 AsylG 2005 als Familienangehörige zuerkannt. Die Staatsbürgerschaft des Vaters der Kinder ist ungeklärt, auch sein Geburtsort liegt in Tschetschenien. Der Vater verfügt über einen Konventionsreisepass vom 7. 9. 2010.
[2] Mit rechtskräftigen Beschlüssen vom 21. 8. 2015 gewährte das Erstgericht den Kindern Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG für den Zeitraum von 1. 8. 2015 bis 31. 7. 2020 (ON 7, 8). Diese Vorschüsse wurden zuletzt mit Beschlüssen des Erstgerichts vom 22. 8. 2019 (ON 34, 35, berichtigt in ON 38, 39) mit Ablauf des Monats März 2019 auf monatlich je 130 EUR herabgesetzt.
[3] Am 22. 6. 2020 beantragten die Kinder die Weitergewährung von Unterhaltsvorschüssen (ON 66, 67).
[4] Das Erstgericht bewilligte die Weitergewährung von Unterhaltsvorschüssen von 1. 8. 2020 bis 31. 7. 2025 für beide Kinder in Höhe von je 130 EUR monatlich. Es lägen keine Anhaltspunkte vor, dass die Voraussetzungen der Vorschussgewährung nicht mehr gegeben seien.
[5] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes gegen diese Beschlüsse nicht Folge. Der Bund habe nicht vorgebracht, dass die Fluchtgründe weggefallen seien. Da ein Konventionsreisepass nur einem Asylberechtigten ausgestellt werde, dem ex lege Flüchtlingsstatus zukomme, sei die aufrechte Flüchtlingseigenschaft der Antragsteller indiziert. Dies ergebe sich auch daraus, dass einer erst 2019 geborenen Schwester der Antragsteller vor relativ kurzer Zeit die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht nachträglich zur Klarstellung der Rechtslage zu.
[6] Gegen diesen Beschluss richtet sich der von den Kindern beantwortete Revisionsrekurs des Bundes, mit dem dieser die Abweisung der Vorschussanträge der Kinder anstrebt.
[7] Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[8] Der Bund macht in seinem Rechtsmittel geltend, dass die Flüchtlingseigenschaft durch das Gericht selbständig zu prüfen sei. Diese Prüfung sei hier nicht erfolgt. Feststellungen, die die Prüfung der Vorfrage der Flüchtlingseigenschaft der Kinder zuließen, seien nicht getroffen worden.
[9] 1. Der Oberste Gerichtshof hat sich mit den hier zu beurteilenden Rechtsfragen erst jüngst wiederum in der Entscheidung vom 13. 10. 2020, 10 Ob 30/20i, mit ausführlicher Begründung auseinandergesetzt. Diese ist zusammengefasst wie folgt darzustellen (jüngst ähnlich 10 Ob 52/20z):
[10] 2.1 Flüchtlinge sind nach der Genfer Flüchtlingskonvention (BGBl 1955/55, GFK) und dem Flüchtlingsprotokoll (BGBl 1974/78) österreichischen Staatsbürgern im Sinn des § 2 Abs 1 UVG gleichgestellt und haben demnach Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse (10 Ob 46/10b; 10 Ob 22/18k mwN).
[11] 2.2 Die Flüchtlingseigenschaft ist nicht vom Vorliegen der Feststellung durch eine Behörde abhängig. Sie ist materieller Natur und ergibt sich aus Art 1 A Z 2 GFK, wonach Flüchtling ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb ihres Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen“.
[12] 2.3 Sowohl die Feststellung einer Behörde, dass einem Fremden Flüchtlingseigenschaft zukommt (etwa verbunden mit der Zuerkennung des Status als Asylberechtigter, § 3 Abs 5 AsylG 2005), als auch die Feststellung einer Behörde, dass einem Fremden die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt (etwa in Fällen der Aberkennung des Asyls, § 7 Abs 4 AsylG 2005) hat nur deklarativen Charakter.
[13] 2.4 Eine der Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art 1 A GFK ist das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen den Gründen der Verfolgung, nämlich Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, und den Verfolgungshandlungen oder dem fehlenden Schutz vor solchen Handlungen. Es bedarf daher einer individuellen Prüfung der Flüchtlingseigenschaft, deren Ziel es ist, festzustellen, ob unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Antragstellers die Voraussetzungen für eine solche Zuerkennung vorliegen. „Zeitungslesern und Nachrichtensehern“ allgemein zugängliche Informationen über die „allgemein bekannte“ Situation in einem Land genügen dafür entgegen den Ausführungen in der Revisionsrekursbeantwortung nicht.
[14] 2.5 Es sind konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zur Frage zu treffen, ob einer Person Flüchtlingseigenschaft zukommt. Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention im Zeitpunkt der Entscheidung an. Dem Antragsteller muss, um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit der Verfolgung genügt nicht.
[15] 3.1 Im gerichtlichen Verfahren nach dem UVG über die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen hat das Gericht die Flüchtlingseigenschaft jeweils selbständig als Vorfrage zu prüfen (RIS‑Justiz RS0110397; RS0037183).
[16] 3.2 Gemäß § 10 UVG hat das Gericht über die Gewährung von Vorschüssen im Verfahren außer Streitsachen zu entscheiden. § 11 Abs 2 UVG bezweckt zwar, dass das Verfahren rasch und ohne weitwändige Ermittlungen abzuwickeln ist. Dennoch gilt grundsätzlich der Untersuchungsgrundsatz des § 16 AußStrG. Das Gericht hat daher vor Antragsabweisung zu versuchen, Unklarheiten aufzuklären und auf eine Substantiierung des Vorbringens zu den Anspruchsvoraussetzungen hinzuwirken. Diese Aufklärungs‑ und Anleitungspflicht trifft auch das Rechtsmittelgericht, sie besteht auch gegenüber dem Träger der Kinder‑ und Jugendhilfe.
[17] 3.3 Gemäß § 11 Abs 2 UVG hat der Antragsteller die Voraussetzungen für die Gewährung von Vorschüssen in erster Linie aufgrund der Pflegschaftsakten, durch Urkunden oder sonst auf einfache Weise nachzuweisen. (Nur) sofern dies nicht einfach möglich ist – also nur subsidiär – können die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 11 Abs 2 UVG durch eine der Wahrheit entsprechende Erklärung des Vertreters glaubhaft gemacht werden. Daher muss in einem Fall wie im vorliegenden das Kind bereits im Antrag darlegen und entsprechende Beweismittel anbieten, aus denen sich die von ihm als Anspruchsvoraussetzung des Bestehens seiner Flüchtlingseigenschaft ergibt (zB die Verfolgung eines Elternteils durch den russischen Sicherheitsdienst infolge eines Engagements für den tschetschenischen Widerstand, 10 Ob 3/18s).
[18] 3.4 Die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren kann daher – ebenso, wie die darauf beruhende Ausstellung eines Konventionsreisepasses – nicht mehr als Indizwirkung für die Beurteilung der Vorfrage der Flüchtlingseigenschaft entfalten. Insbesondere dann, wenn die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft der Eltern – und von dieser abgeleitet auch jene der Kinder – wie hier bereits mehrere Jahre zurückliegt, muss das Gericht die Flüchtlingseigenschaft selbständig prüfen. Dies gilt auch im Verfahren über die Weitergewährung von Vorschüssen (10 Ob 37/18s).
[19] 4.1 Hier haben die Kinder in ihren ursprünglichen Anträgen (ON 3 und 4) zu ihrer Flüchtlingsstellung gerade noch ausreichend vorgebracht, dass sie über „Konventionsreisepässe“ verfügen. Feststellungen zur Flüchtlingsstellung wurden in den ursprünglichen Gewährungsentscheidungen nicht getroffen. In den Anträgen auf Weitergewährung bringen die Kinder zwar nichts zum Fortbestehen ihrer Flüchtlingseigenschaft vor. Der Antrag auf Weitergewährung ist jedoch an weniger strenge Voraussetzungen geknüpft als die Erstgewährung. Das Kind hat im Wesentlichen bloß zu behaupten, dass die Voraussetzungen, die bei der Erstgewährung angenommen wurden, weiterhin gegeben sind (10 Ob 3/18s mwN). Das Gericht hat gemäß § 18 Abs 1 Z 2 UVG die Vorschüsse weiter zu gewähren, wenn keine Bedenken dagegen bestehen, dass die Voraussetzungen der Gewährung der Vorschüsse, ausgenommen die des § 3 Z 2 UVG, weiter gegeben sind.
[20] 4.2 Im Weitergewährungsverfahren ist im Hinblick auf die Rechtskraft des ursprünglichen Gewährungsbeschlusses eine abweichende rechtliche Beurteilung dann ausgeschlossen, wenn der Sachverhalt ident ist wie bei der Erstgewährung (10 Ob 37/18s). Davon kann im vorliegenden Fall nicht zwingend ausgegangen werden: Denn Feststellungen, aus denen sich ergibt, ob dem Kind (nach wie vor) die von ihm behauptete Flüchtlingseigenschaft zukommt, hat das Erstgericht wie ausgeführt weder im Gewährungs‑ noch im Weitergewährungsverfahren getroffen. Es hat auch keine Erhebungen zur individuellen, konkreten Situation der Familie und der Kinder durchgeführt. Eine solche Prüfung wäre aber im konkreten Fall schon aufgrund des Umstands, dass die Zuerkennung des Asylstatus an die Mutter (und offenbar auch an den Vater) der Kinder bereits im Jahr 2010 erfolgte, erforderlich gewesen. Darüber hinaus erhielt die Mutter ihren damaligen Asylstatus ihrerseits als Familienangehörige gemäß § 34 Abs 2 AsylG 2005 zuerkannt.
[21] 5.1 Dies macht die Aufhebung der angefochtenen Beschlüsse und die Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht erforderlich.
[22] 5.2 Das Erstgericht wird im fortzusetzenden Verfahren zu prüfen haben, ob die Flüchtlingseigenschaft der antragstellenden Kinder zum Zeitpunkt seiner Entscheidung über die Weitergewährung von Vorschüssen (noch) besteht (vgl 10 Ob 52/20z). Es kommt wie ausgeführt darauf an, ob die antragstellenden Kinder aus konkreten, sie betreffenden Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung befürchten müssen, bei einer Rückkehr in ihren (zu klärenden) Herkunftsstaat verfolgt zu werden und ob sie wegen dieser Furcht nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, sich des Schutzes dieses Staats zu bedienen. Wie ausgeführt genügt die entfernte Möglichkeit zur Verfolgung nicht.
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