OGH 10Ob6/21m

OGH10Ob6/21m29.7.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann, den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache der ***** 2014 geborenen L*****, vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien, Kinder- und Jugendhilfe, Rechtsvertretung Bezirk *****), über den Revisionsrekurs des Kindes gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 26. Mai 2020, GZ 44 R 164/20y‑52, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 17. März 2020, GZ 13 Pu 224/15p‑43, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0100OB00006.21M.0729.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

[1] Nach dem Akteninhalt ist die ***** 2014 geborene Minderjährige Staatsangehörige der Demokratischen Republik Kongo. Ihrer Mutter wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 27. 9. 2000 der Status der Asylberechtigten zuerkannt, von dem die Tochter ihren Schutz ableitet. Der Minderjährigen wurde mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 5. 11. 2014 gemäß § 3 Abs 5 AsylG im Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

[2] Die Minderjährige beantragte am 12. 2. 2020 die Gewährung von Titelvorschüssen gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in Höhe von 114 EUR monatlich. Dem Antrag waren Kopien des (bis 11. 6. 2022 gültigen) Konventionspasses des Kindes und des Bescheids des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 5. 11. 2014 angeschlossen.

[3] Das Erstgericht gewährte die Unterhaltsvorschüsse in der beantragten Höhe vom 1. 2. 2020 bis zum 31. 1. 2025.

[4] Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen, Rekurs des Bundes Folge und wies den Antrag ab. Es ließ den Revisionsrekurs zu, weil Rechtsprechung zur notwendigen Intensität und Personenbezogenheit der Behauptung und Bescheinigung des Vorliegens und Anhaltens von Fluchtgründen fehle.

[5] Rechtlich begründete es die Antragsabweisung damit, dass das Gericht für die Zuerkennung von Unterhaltsvorschüssen die Flüchtlingseigenschaft selbständig als Vorfrage zu prüfen habe, wobei das Kind die Behauptungslast trage. Dieser Behauptungslast sei das Kind nicht nachgekommen, vielmehr ließen sich aus dem Antrag und dem Akteninhalt keine (nach wie vor anhaltenden) Fluchtgründe der Mutter erkennen.

[6] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Kindes, mit dem es einen Aufhebungsantrag stellt.

[7] Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

[8] Im Revisionsrekurs wird das Fehlen von Feststellungen zur Flüchtlingseigenschaft gerügt; dazu wären amtswegige Erhebungen zu treffen gewesen.

[9] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil die Vorinstanzen zur entscheidungserheblichen Frage des Vorliegens der Flüchtlingseigenschaft des Kindes keine Feststellungen getroffen haben. Er ist im Sinn des gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[10] 1.1. Gemäß § 2 Abs 1 Satz 1 UVG haben minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind, Anspruch auf Vorschüsse. Das Kind hat im vorliegenden Fall seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich, ist aber weder österreichischer Staatsbürger noch staatenlos.

[11] 1.2. Die Anspruchsberechtigung von Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention (BGBl 1955/55, GFK) und dem Flüchtlingsprotokoll (BGBl 1974/78) ergibt sich nicht unmittelbar aus § 2 Abs 1 UVG (10 Ob 40/18g; 10 Ob 6/16d; 10 Ob 46/10b). Sie folgt vielmehr einerseits daraus, dass Flüchtlingen das für den familienrechtlichen Bereich maßgebliche Personalstatut zukommt (vgl insbesondere Art 12 Z 1 GFK) und ein enger Zusammenhang des Vorschussrechts mit dem Unterhaltsrecht besteht, was durch die ausdrückliche Einbeziehung der Staatenlosen in den Kreis der gemäß § 2 Abs 1 UVG Anspruchsberechtigten zum Ausdruck kommt (10 Ob 40/18g; 10 Ob 6/16d; 10 Ob 35/12p; Neumayr in Schwimann/Kodek, Praxiskommentar II5 § 2 UVG Rz 14 f).

[12] 1.3. Für die persönliche Rechtsstellung von „Konventionsflüchtlingen“ im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention, BGBl 1955/55 (GFK), und des Flüchtlingsprotokolls, BGBl 1974/78, ist gemäß § 53 Abs 1 IPRG und Art 12 Z 1 GFK das Sachrecht des Wohnsitzstaats bzw Staats des gewöhnlichen Aufenthalts maßgeblich (6 Ob 183/98z; 10 Ob 46/10b; 10 Ob 35/12p).

[13] 1.4. Die Flüchtlingseigenschaft kommt gemäß § 9 Abs 3 IPRG auch (nicht zwingend staatenlosen) Personen zu, deren Beziehungen zu ihrem Heimatstaat aus vergleichbar schwerwiegenden Gründen abgebrochen sind. Das Gesetz meint damit gleichwertige Gründe wie die in der GFK und im Zusatzprotokoll, BGBl 1974/78, aufgezählten (Verschraegen in Rummel, ABGB³ § 9 IPRG Rz 6). Für die Beurteilung des Personalstatuts solcher Flüchtlinge gilt nach § 9 Abs 3 IPRG als Personalstatut das Recht des Wohnsitz- bzw des Aufenthaltsstaats (6 Ob 183/98z; 10 Ob 35/12p; 10 Ob 19/17t).

[14] 1.5. Angewendet auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass das Personalstatut des Kindes dann, wenn ihm Flüchtlingseigenschaft zukommt, das österreichische Recht ist. Dies ergibt sich, wenn das Kind – wie hier – „Konventionsflüchtling“ ist, aus § 53 Abs 1 IPRG iVm Art 12 Z 1 GFK, weil das Kind seinen Wohnsitz in Österreich hat.

[15] 2.1. Nach ständiger Rechtsprechung hat das Gericht die Flüchtlingseigenschaft jeweils selbständig als Vorfrage zu prüfen (10 Ob 55/20s mwN; RS0110397; RS0037183).

[16] Dies folgt aus dem Umstand, dass die Flüchtlingseigenschaft nicht vom Vorliegen der Feststellung durch eine Behörde abhängig ist. Sie ist materieller Natur und ergibt sich aus Art 1 A Z 2 GFK, wonach Flüchtling ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb ihres Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen“.

[17] Die bloß deklarative Feststellung der Flüchtlingseigenschaft (10 Ob 40/18g; 10 Ob 19/17t ua) ist daher von der Entscheidung über die Zu- oder Aberkennung des Status als Asylberechtigter, der gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 einem Fremden (bei Vorliegen der Voraussetzungen) zuzuerkennen ist, zu unterscheiden (10 Ob 40/18g).

[18] 2.2. Die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft im Verwaltungsverfahren kann daher – ebenso, wie die darauf beruhende Ausstellung eines Konventionsreisepasses – bloß Indizwirkung für die Beurteilung der Vorfrage der Flüchtlingseigenschaft entfalten. Wenn die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft der Eltern – und von dieser abgeleitet auch jene der Kinder – wie hier bereits mehrere Jahre zurückliegt und sich die Verhältnisse im Heimatstaat des Flüchtlings wesentlich geändert haben, kann das Gericht jedoch nicht von einer selbständigen Prüfung der Flüchtlingseigenschaft absehen (10 ObS 55/20s ua).

[19] 2.3. Eine derartige Prüfung hat im Verfahren bisher nicht stattgefunden.

[20] 3.1. Gemäß § 10 UVG hat das Gericht über die Gewährung von Vorschüssen im Verfahren außer Streitsachen zu entscheiden. § 11 Abs 2 UVG bezweckt zwar, dass das Verfahren rasch und ohne weitwendige Ermittlungen abzuwickeln ist. Dennoch gilt grundsätzlich der Untersuchungsgrundsatz des § 16 AußStrG. Das Gericht hat daher vor Antragsabweisung zu versuchen, Unklarheiten aufzuklären und auf eine Substantiierung des Vorbringens zu den Anspruchsvoraussetzungen hinzuwirken. Diese Aufklärungs- und Anleitungspflicht trifft auch das Rechtsmittelgericht, sie besteht auch gegenüber dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe (10 Ob 52/20z).

[21] 3.2. Gemäß § 11 Abs 2 UVG hat der Antragsteller die Voraussetzungen für die Gewährung von Vorschüssen in erster Linie aufgrund der Pflegschaftsakten, durch Urkunden oder sonst auf einfache Weise nachzuweisen. (Nur) sofern dies nicht einfach möglich ist – also nur subsidiär – können die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 11 Abs 2 UVG durch eine der Wahrheit entsprechende Erklärung des Vertreters glaubhaft gemacht werden. Daher muss in einem Fall wie im vorliegenden das Kind bereits im Antrag darlegen und entsprechende Beweismittel anbieten, aus denen sich die von ihm als Anspruchsvoraussetzung des Bestehens seiner Flüchtlingseigenschaft ergibt (zB die Verfolgung eines Elternteils durch den russischen Sicherheitsdienst infolge eines Engagements für den tschetschenischen Widerstand, 10 Ob 3/18s; 10 Ob 52/20z).

[22] 3.3. Die Minderjährige hat sich durch die Vorlage des Konventionspasses und des Asylgewährungsbescheids in eindeutiger Weise auf das Bestehen ihrer Flüchtlingseigenschaft gestützt und damit implizit das Bestehen von Fluchtgründen behauptet. Es trifft daher zu, dass dazu – nach Erörterung und Anleitung zur Präzisierung dieses Vorbringens – Feststellungen zu treffen gewesen wären.

[23] 3.4. Das macht die Aufhebung der angefochtenen Beschlüsse und die Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht erforderlich.

[24] Dieses wird im fortzusetzenden Verfahren – eine Konkretisierung des Vorbringens der Minderjährigen vorausgesetzt – zu prüfen haben, ob die Flüchtlingseigenschaft des antragstellenden Kindes zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Vorschussgewährung (noch) besteht. Dafür kommt es darauf an, ob das Kind – oder die Mutter, in deren Pflege und Erziehung sich die Minderjährige befindet und von der sie die Flüchtlingseigenschaft ableitet (vgl 10 Ob 40/18g; 10 Ob 52/20z) – aus konkreten, sie betreffenden Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung befürchten muss, bei einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat (die Demokratische Republik Kongo) verfolgt zu werden und ob sie wegen dieser Furcht nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, sich des Schutzes dieses Staates zu bedienen.

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